Der Tod und die Fakultät

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Das

ist der Geheimrat Prof. Dr. Ludwig Edinger (1855-1918). Er ist sehr berühmt.

Die Medizinstudenten kennen ihn vom “Edinger-Westphal”-Kern – das ist eine Gruppe von motorischen Nervenzellen an der Wurzel des dritten Hirnnerven, deren Aktivierung die Pupille des Auges auf “eng” stellt. Die Biologen kennen ihn, weil er die Gehirne des ganzen Wirbeltierreiches vergleichend-anatomisch abgeklappert hat.

Und manch einer hier in Frankfurt (ich vor allem) kennt und liebt ihn, weil es ganz wunderbare skurril-morbide Schnurren davon zu erzählen gibt, wie er im Schlafzimmer Hirnsektionen an totgeborenen Feten betrieb. Das klingt so schön nach “mad scientist”. War er aber nicht. Was er da im Schlafzimmer trieb, ist leicht zu entschuldigen. Es war nicht illegal, es war Embryologie und Histologie vom Feinsten – er hatte halt kein Labor.

Als sich zum einen Schwierigkeiten mit den Schlafzimmersektionen und zum anderen neue Möglichkeiten abzeichneten   — er hatte sehr reich geheiratet, und ich kann mir vorstellen, dass seine Holde, die Bankierstochter Anna Goldschmidt, leicht abweichende Vorstellungen von der Nutzung und der Inneneinrichtung von Schlafzimmern hatte —  als sich ihm also die Chance bot, gründete und finanzierte er im Jahre 1902 ein “Neurologisches Institut”. Und als dann im Jahre 1914 unsere Universität in Frankfurt gegründet wurde, da brachte er sein Institut mit ein. Er ist eines der Gründungsmitglieder unserer medizinischen Fakultät, ja, der ganzen Alma mater francofortiensis. Wir schulden ihm Dank.

So eine medizinische Fakultät, die macht alle naselang eine Fakultätssitzung. Da sitzen dann die hohen Herren Professores (damals, 1914, wirklich nur Herren) und bereden Nichtiges, aber auch Lebenswichtiges. Man muss, als Fakultätsmitglied, schon gute Gründe haben, so einer Sitzung fernzubleiben. Die Sitzung wird, Tagesordungspunkt (TOP) für TOP, protokolliert. So eine Niederschrift beginnt unweigerlich mit dem Datum und einer Anwesenheitsliste.

Unter “52. Sitzung. Sitzung am 31. Januar 1918“, finde ich folgendes Protokoll:

Anwesend: Herxheimer als Dekan u. Vorsitzender. Sioli, Spiess, Walthard, Göppert, Emden, Schwenkenbrecher, Bethe, Ellinger, Schnaudigel. Voss als Schriftführer. Loos als Gast. Entschuldigt: […] Edinger.

[TOP] 1.
Der Herr Dekan hält einen Nachruf auf Geheimrat Edinger….

(ich bitte meine Leser, sich an dieser Stelle einen Blackout zu denken)

Akademiker. Bis zur letzten Sekunde. Die einzige Entschuldigung: der Tod. Edinger war ein paar Tage zuvor ganz überraschend an Herzversagen gestorben, mitten herausgerissen aus den Sielen der Forschung und der akademischen (Selbst-)verwaltung.

In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, damals, als die Kapazitäten der Hochschulen ausgebaut wurden, koste es, was es wolle, ging unter den jüngeren Akademikern das Wort um, “dass man sich der Berufung auf eine Professur nur durch den Tod entziehen könne.” Die obige protokollarische Schnurre von Edinger ist, so will mir scheinen, eine vorweggenommene morbide Inversion dieses Witzes.

Und jetzt, ganz zum Schluss, der Widerruf. Die Geschichte ist nicht wahr. Alles, alles stimmt – bis auf den “Entschuldigt”-Eintrag im Protokoll. Das war ein Transkriptionsfehler, der bei der Übertragung der handschriftlichen Protokolle in eine digitale Fassung (die ich zunächst in die Finger bekam) entstand. Im handschriftlichen Original fehlt dieser Eintrag, fehlt die Pointe.

*Seufzerchen*

Aber die Geschichte ist zu schön, um sie nicht zu erzählen, oder?

   

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

4 Kommentare

  1. @ Achim

    “Lehrer’s Kinn und Parrer’s Vieh gedeie selten odder nie…”

    (alte hessische Spruchweisheit)

    Gut, zu erfahren, dass aus den Kindern derer, die ich ausbilde (Ärzte), doch etwas werden kann. Meine Eltern waren beide Lehrer … (s.o.).

    Danke.

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