Schrift als Voraussetzung für Geschichtswissenschaft?

BLOG: Antikes Wissen

Geschichte. Wissenschaft. Forschung.
Antikes Wissen

Wer sich für Geschichte interessiert, dem fällt auf: Geschichtswissen ist konserviertes Wissen. Damit Geschichte als Wissenschaft konserviert werden kann, ist Schriftlichkeit notwenig. Die Forschung der ‚Oral History‘ zeigt, dass eine mündliche Wissenskonservierung wahrheitsnah maximal über drei Generationen erfolgt. Dies entspricht einer maximalen Überlieferungsdauer von 80 Jahren.[1] Die Konservierung von Wissen durch Schrift, abhängig vom verwendeten Medium, hat eine unbegrenztere Überlieferungsdauer.

Der älteste datierbare Nachweis für Alphabetschrift im antiken Griechenland ist der Nestorbecher. Der Nestorbecher entstammt der spätgeometrischen Zeit und wurde zwischen 735 – 720 v.Chr. hergestellt. Gefunden wurde der Becher 1954 auf Ischia (Pithekussai) im Grab eines 12- bis 14 jährigen Jungen. Das Grab ist zwischen 720 – 710 v.Chr. entstanden.[2]

Große Bedeutung hat das Gefäß durch die eingeritzte dreizeilige Inschrift im euböischen Alphabet, die von rechts nach links zu lesen ist.

Übersetzung:

„Nestor hatte einen Becher, aus dem gut zu trinken war; wer aber aus diesem Becher trinkt, den wird sogleich die Sehnsucht der schönbekränzten Aphrodite ergreifen.“

Die Nennung von „Nestor“ und der Ausdruck der „schönbekränzten Aphrodite“ setzt nicht das schriftliche Vorhandensein der Ilias und Odyssee von Homer voraus, sehr wohl aber eine mündliche Tradierung des epischen Stoffes.[3] Weitere Funde dieser Zeit mit ähnlichen Inschriften, deuten auf eine ‚serienmäßige‘ Herstellung[4]. Die aktuelle Forschung sieht die Entstehung der griechischen Alphabetschrift als Resultat des Einflusses von Phöniziern. Wie genau die Schrift entstand, bleibt zum derzeitigen Quellenstand unklar. Fest steht, seit diesem Zeitpunkt hat sich die altgriechische Sprache mannigfaltig aufgespalten und weiterentwickelt. Das Alphabet wurde sogleich für ‚klassische‘ Inschriften, bspw. Bau- oder Grabinschriften aber auch für literarische Zwecke, wie die Geschichtsschreibung, verwendet. Die Phonemschrift eignete sich erstmals für komplexe Textarten im Gegensatz zur vorherigen Silbenschrift. Die früheren Formen der Silbenschrift, die seit dem 2. Jahrtausend v.Chr. in Griechenland, Kreta und Zypern existierten, wurden nur noch auf Zypern in Form der kyprischen Schrift verwendet. Die Silbenschrift, bspw. die mykenische Linear B, mit Zeichen nur für offene Silben wurden für einfache Texte wie Inventarlisten genutzt.

Die Entwicklung der phonemischen Alphabetschrift ist folglich als Ursprung der Geschichtsschreibung anzusehen. Ohne Schrift ist es nicht möglich, Wissen ‘wahrheitsnah’ über lange Zeit zu bewahren.


 

[1] Vgl. Gabriele Müller-Oberhäuser: Mündlichkeit, in: Ansgar Nünning (Hg): Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie, 4., aktualisierte und erweiterte Auflage, Münster 2008, S. 516-517.

[2] Vgl. Giorgio Buchner / David Ridgway: Pithekoussai, Band 1, 1993, S.212-223.

[3] Vgl. Hom. Od. 8,267; Hom. Il. 11,632ff.

[4] Vgl. Rudolf Wachter: Non-Attic Greek Vase Inscriptions, Oxford 2002, S.168.

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Herzlich Willkommen! ‚Geschichte‘ ist ein Sammelbegriff für unendlich viele Geschichten: Geschichten von Menschen, Begriffen, Gruppen, Ereignissen, Ideen, Umbrüchen, Kulturen, Grenzen, Unterschieden, Mentalitäten, […]. Es gibt keine menschliche Eigenheit ohne Geschichte. Ich werde euch kurze Einblicke in die Alte Geschichte geben. Warum Alte Geschichte? Aus Leidenschaft und weil es mein Studienschwerpunkt ist. Eure Jessica Koch

21 Kommentare

  1. Ihre Resümee “Ohne Schrift ist es nicht möglich, Wissen über lange Zeit zu bewahren.” halte ich angesichts dokumentierter Tradierungen, z. B. im Umfeld der Jungfernhöhle, für etwas gewagt.

    “Als besonders bedeutend wird die Tatsache angesehen, dass es noch vor der Entdeckung der menschlichen Überreste 1958 lokale Sagen über umherspukende kopflose Jungfrauen im Bereich der Höhle gab. Daraus lässt sich ableiten, dass das Wissen um das Opferungsritual ca. 6150 Jahre mündlich tradiert wurde”.

    vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Jungfernh%C3%B6hle

    • Sie haben anscheinend das Wörtchen “wahrheitsnah” überlesen.

      Bemerkenswert ist jedoch der Ausdruck “unbegrenztere Überlieferungsdauer” der Autorin. Rein sprachlich etwas ungewöhnlich: entweder ist etwas unbegrenzt oder nicht, einen Komparativ kann man kaum bilden. Buchrollen können gleichwohl zerfleddern, verrotten, vermodern etc. oder gleich ganz zerrissen oder verbrannt werden. Aus der Zeit Homers ist ja auch keine erhalten geblieben. Es wäre schön, wenn man in der Wüste Ägyptens noch eine alte Ausgabe finden könnte.

    • Sie haben sicherlich recht, dass dieser Satz etwas offen formuliert ist. Mir geht es um das “wahrheitsnahe Wissen”. Natürlich ist es möglich, Wissen alleine durch mündliche Weitergabe über einen längeren Zeitraum als 80 Jahre zu konservieren. Die Frage für Historiker ist aber, wie viel Wahrheit in solchem Wissen noch liegt. Der Weg von Opferritualen zu kopflosen Jungfrauen zeigt eine starke Entfremdung des Wissens und keine “Wahrheitsnähe”. Alleine durch die Sage der kopflosen Jungfrauen lässt sich noch kein Opferungsritual konstruieren. Die Historiker bzw. Archäologen benötigten weitere Quellen (schriftliche Texte) um die Verbindung zwischen kopflosen Jungfrauen und Opferritual herzustellen.

  2. Sehr geehrte Frau Koch,
    haben Sie vielen Dank für Ihren interessanten Artikel.
    Es verspricht, ein interessantes(?) Blog zu werden! Ich befasse mich selbst aus Liebhaberei mit der griechischen Antike und besonders mit den Theorien zur Mündlichkeit (und “Fluidität”) der Werke, die wir heutzutage gern als originär schriftlich wahrnehmen (z.B.Ilias und Odyssee). Besonders die Feldforschung Milman Parrys und Albert Lords in den frühen 30ern hat hier ja einen starken Anstoß gegeben. Ich freue mich auf weitere Artikel!
    mit besten Grüßen,
    T.Thomas,Berlin

  3. Die Forschung der ‚Oral History‘ zeigt, dass eine mündliche Wissenskonservierung wahrheitsnah maximal über drei Generationen erfolgt. Dies entspricht einer maximalen Überlieferungsdauer von 80 Jahren.[1] Die Konservierung von Wissen durch Schrift, abhängig vom verwendeten Medium, hat eine unbegrenztere Überlieferungsdauer.

    Drei ganz kleine Randnotizen:
    1.) Drei Generationen [1] sind viel, vgl. :
    -> http://de.wikipedia.org/wiki/Polykarp_von_Smyrna (‘Die kirchliche Tradition sieht Polykarp als einen apostolischen Vater, also jemanden, der die ursprünglichen Apostel aus der Zeit des Jesus von Nazaret noch persönlich kannte.’)
    2.) Der Schreiber dieser Zeilen kannte welche, die bei des “Führers”-Machtergreifung 40 Jahre alt waren und die wiederum welche kannten, die von den Napoleonischen Kriegen zu berichten wussten.
    3.) Die Schrift kodiert (mündliche) Nachricht, um sie in der Folge durch sogenannte Abstraktion Folgenden transportierbar zu machen.
    Geht die Schrift verloren. geht (grundsätzlich) die Nachricht verloren.

    MFG
    Dr. W

    [1] das Fachwort hier: vom “Hören-Hören-Sagen” (vs. vom “Hören-Sagen”)

  4. Die Ilias entstand vermutlich auch in dieser Zeit, als der Nestorbecher entstand. Der Nestorbecher könnte also durchaus ein erster Reflex auf die Ilias als Versepos sein, denn die Verschriftlichung dürfte die Verbreitung des Epos enorm beflügelt haben. Aus der Zeit um 735 bis 720 v. Chr. gibt es auch eine Darstellung eines Frauenraubs auf einem spätgeometrischen Dinos (London, British Museum). Wer denkt da nicht gleich an die Entführung der Helena? Die wird in der Ilias zwar nicht beschrieben, aber auch das Interesse an solchen Themen könnte durch die schriftliche Verbreitung der Ilias wesentlich gesteigert worden sein. Die Vasenmalerei gewissermaßen als “Film” zum Buch.
    Wer waren eigentlich die ersten Besitzer von Abschriften der Ilias? Vielleicht fahrende Sänger? Das reine Lesepublikum war damals im späten 8. und frühen 7. Jh. wohl eher noch klein. Wieviele Schriftrollen brauchte man für ca. 28 000 Verse, konnte man das gut als fahrender Sänger mitnehmen?
    Sehr interessant zu diesem Thema ist der Ausstellungskatalog von Joachim Lactacz et. al., Homer, Der Mythos von Troja in Dichtung und Kunst, (Ausst. in Basel und Mannheim), München 2008. Der Tipp geht natürlich an etwaige Leser und nicht die Autorin des blogs.

    • Vielen Dank für den interessanten Literaturhinweis. Diesen Artikel von Lactacz kannte ich noch nicht.

      Insgesamt gibt es zur Datierungsfrage der Homerischen Epen ein sehr breites Spektrum an Antworten. (Ganz abgesehen von der Frage, ob es überhaupt einen Homer gegeben hat: „Homerische Frage“) Kurt Raaflaub datiert die Epen in Zeit von 750-650 v.Chr. Wohingegen die Stoffgeschichte d.h. Entstehung und mündliche Tradierung des Stoffes in der aktuellen Forschung in das 10. bzw. 9. Jh. v.Chr. datiert wird, da die “Kolonisation” (zwischen 850 – 700 v.Chr.) nicht berücksichtigt wird.
      Fest steht , dass die heute vorliegende Fassung der Ilias, d.h. die schriftliche Fixierung des mündlich tradierten Stoffes, erst unter den Peisistratiden (athenischen Tyrannen 600-510 v.Chr.) stattgefunden hat. Dies wird ersichtlich am Schiffskatalog und der Nennung Athens.
      Aus diesem Grund stimme ich Ihnen zu, dass sowohl der Nestorbecher (und auch der Frauenraub?) eine Reaktion auf die mündliche Stoffgeschichte der Ilias sind. Jedoch eben nur auf die mündliche Stoffgeschichte, die schriftliche Fixierung der Ilias ist in einen späteren Zeitraum zu datieren.

      Die Tatsache, dass die Ilias in Hexametern geschrieben ist, findet seinen Ursprung im menschlichen Gehirn. Denn für das menschliche Gehirn sind reimende, rhythmische Verse deutlich leichter zu merken, als “Fließtext”. Interessant ist hier die Forschungen zur Oral Poetry von Milman Parry am Beispiel der serbokroatischen Volksepik.[2]
      _______________________________________________

      [1] Kurt A. Raaflaub / Hans van Vees (Hg.): A Companion to Archaic Greece, Oxford / Sussex 2009.
      [2] Milman Parry: Havard Studies in Classical Philology XLI, 1930, S.80ff.

  5. Während die Schrift selbst lange haltbar ist, verschieben sich im Laufe der
    Zeit langsam die Bedeutungen der Worte und die Sinninhalte der Sätze.
    Deshalb gibt es auch so viele unterschiedliche Auslegungen der Bibel.

    • Die Bibel besteht aus zwei Testamenten (!), deshalb bedarf sie der besonderen Auslegung.
      Bei den Bedeutungsverschiebungen wäre Ihr Kommentatorenfreund vorsichtig,
      MFG
      Dr. W

    • Die Bibel, sowohl das AT wie das NT, ist ein heterogense Textkorpus, von verschiedenen Autoren aus verschiedenen Zeiten mit verschiedenen theologischen Ansichten. Und nicht zuletzt in verschiedenen Sprachen geschrieben, Hebräisch, Griechisch, alles auch in Latein übersetzt (Vulgata), dazu eventuell Textverderbnis durch Abschreibefehler. Schon allein die Schöpfungsgeschichte ist eine Kompilation aus mindestens zwei Erzählungen.

    • Das stimmt. Ein einzelner Text, bzw. ein einzelnes Zeichen, bleibt immer unverständlich, wenn der Rahmen, in der das Zeichen entstanden ist, nicht mehr existiert.[1] Die Bedeutung wird erst ersichtlich, wenn ein “dichtes Gewebe” an Texten und Zeichen entsteht.[2] Aber selbst dann steht der Historiker und Archäologe immer vor dem Problem, dass seine Interpretation des Zeichens eine Rekonstruktion ist. Aus diesem Grund kann in der Geschichtsforschung immer nur eine “Wahrheitsannäherung” erreicht werden, niemals eine “absolute Wahrheit” über die Bedeutung der Zeichen.

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      [1] Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S.29-66, S.259-292.
      [2] Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 12., über. Auflage, Frankfurt am Main 2003, S. 7-43.

  6. Ich verstehe von dem Thema nichts, freue mich aber darauf, hier bald mehr darüber zu lernen!

    Erst letzte Woche wollte meine Tochter wissen, was die Archäologen in 2000 Jahren über uns noch herausfinden können und wo sie wohl völlig daneben liegen werden. Ob sie unsere Schrift noch lesen können werden und was wir tun können, um es ihnen quasi aus dem Grab heraus zu erleichtern. Spannende Sache!

      • Hallo Herr Bednarik,

        vielen Dank für den Link. 🙂 Allerdings würde mich noch viel mehr die persönliche Einschätzung der hiesigen Expertin interessieren. Der Wikipedia, vor allem eben der deutschen, stehe ich doch etwas skeptisch gegenüber. Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel.

      • Hallo Herr Bednarik,

        vielen Dank für den Link. Allerdings würde mich doch noch viel mehr die persönliche Einschätzung der hier bloggenden und ausgewiesenen Expertin interessieren. Der Wikipedia, gerade auch der deutschen, stehe ich doch ziemlich skeptisch gegenüber. Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel.

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