Die größte Gefahr für einen Astronauten besteht darin, zu ertrinken – Vierter Brief

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Brief 1, Brief 2 und Brief 3

 

Lieber Max,

Bild 1 - Gene Cernan
Das ist Eugene Cernan vor dem Start. Er wird grade in seinen Raumanzug gekleidet. Und so ganz wohl fühlt er sich offensichtlich nicht (Bild: NASA)

höhöhö. Auch gegen Bremen hat Müller letzte Woche wieder ein Tor geschossen. In der 24. Minute. Und hast Du gesehen, was die für ein Problem mit dem Tornetz hatten? Da war ein Loch drin. Das hat dann dieser Bremer Mannschaftsarzt mit Panzertape am Torpfosten festgemacht. Das Spiel ging erst mit fünf Minuten Verspätung los. Da hätt ich Dir doch tatsächlich noch ein paar Zeilen mehr schreiben können. Naja, ist aber auch so o.k. Diese Woche ist das Bayernspiel ja erst am Sonntag, also heute. Gottseidank. Gestern hätt ich nämlich keine Zeit gehabt, Dir zu schreiben. Ich musste da leider arbeiten. Hernach will ich mit Heidi auf den Rosenheimer Ostermarkt gehen, und dann ist das Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach. Aber bis Heidi mich ruft hab ich noch ein gutes Stündchen, und deswegen gleich zurück zu unserem Thema.

Ich hatte ja letztes Mal schon ganz kurz über die Gemini-Flüge gesprochen. Die Gemini-Flüge waren sehr wichtig. Da wurden viele Dinge für die bemannte Raumfahrt zum ersten Mal im Weltraum ausprobiert. Zum Beispiel das Zusammenkoppeln von zwei Raumschiffen. Oder das Verändern der Umlaufbahnen. Oder Dauerflüge von bis zu zwei Wochen. So ein Dauerflug war übrigens ein besonderes Problem. Die Gemini-Raumschiffe hatten zwar schon ein bisschen mehr Platz als die Mercury-Raumkapseln. Aber sie waren immer noch winzig klein und sehr eng. Für die beiden Astronauten an Bord war das so, als wären sie zwei Wochen lang auf den Vordersitzen eines Autos eingesperrt. Ohne Aussteigen zwischendurch für eine Pipi-Pause. Und dabei hatten die noch die fetten Raumanzüge an. Den mussten sie die meiste Zeit anbehalten. Nur manchmal durften sie ihn ausziehen. Und dann war die Frage: Wohin bloß mit dem sperrigen Dings. Es ist ja nirgendwo Platz da. Eine Rückbank gab es nicht, und einen Kofferraum schon gleich gar nicht. Und jetzt stell Dir mal vor, wie es ist, da aufs Klo zu gehen. Vor allem das große Geschäft. Das wär auch schon wieder eine Geschichte für sich.

Aber ich komm vom Thema ab. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja: Bei Gemini war es so, dass die Amerikaner sich in der bemannten Raumfahrt weiterentwickeln wollten. Deswegen machten sie bei jedem Flug immer schwierigere Sachen. Insgesamt gab es 12 Gemini-Flüge. Die ersten beiden, also Gemini 1 und 2 waren unbemannt. Ferngesteuert sozusagen. Da hat man ausprobiert, ob man in den Gemini-Kapseln überhaupt eine Besatzung mitfliegen lassen kann. Bei den anderen zehn Flügen waren immer Astronauten an Bord. Der erste bemannte Flug war also Gemini 3. Der von Grissom und Young, über den ich Dir letztes Mal schon kurz erzählt hab.

Bei den Gemini-Flügen wollte man alles lernen, was man später für die Mondlandungen mit den Apollo-Raumschiffen brauchte. Und da war die Sache mit EVA enorm wichtig. Und mit EVA meine ich jetzt nicht die Zwillingsschwester von Ruth Hupfer, an die Du jetzt wahrscheinlich gedacht hast. Mit EVA meine ich die so genannte “Extra Vehicular Acitvity“ (spricht sich: „Extra Vehi-kju-lahr Äktifiti“).

Die NASA hat ja einen richtigen Abkürzungsfimmel (abgekürzt „Aküfi“ – hahaha). Die kürzen alle langen und umständlichen Bezeichnungen immer ab. Und damit man nicht so lange Wortungetüme wie „Extra Vehicular Activity“ sagen muss, nenne sie das einfach EVA. EVA hört sich harmlos an, ist aber ganz schön gefährlich. Wahrscheinlich ist es deshalb ein Frauenname (Scherz beiseite, lass das lieber keine Frau wissen, sonst gibt’s Zunder). Also so eine EVA, das könnte man am besten beschreiben mit “Einsatz außerhalb des Raumfahrzeugs”. Und „Einsatz außerhalb des Raumfahrzeugs“, das hatten wir ja schon im ersten Brief, geht nur mit einem Raumanzug.

Stafford Cernan komprimiert
Links ist Tom Stafford und rechts mein Namenvetter Eugene Cernan. Das Bild haben NASA-Fotografen vor dem Start gemacht (Bild: NASA)

Was ich Dir heute anfangen will, zu erzählen, ist die Geschichte von Gemini 9. Das ist schon ziemlich weit hinten in der Reihenfolge der Gemini-Flüge. Daran kann man schon erkennen, dass es einer von den schwierigeren Flügen war. Die Besatzung bestand aus den beiden Astronauten Tom Stafford (spricht man fast genauso wie sich‘s schreibt) und meinem Namensvetter Eugene. Mit Nachnamen Cernan. Damit Du nicht bei der letzten Geschichte nachgucken musst, wie sich das schreibt, hier nochmal: Ju-tschien Zör-nän. Nicht ganz einfach, was?

Mein Namensvetter Eugene hatte ein ziemlich mulmiges Gefühl, als er zusammen mit Tom Stafford zum Flug von Gemini 9 startete. Und dafür gab es einen guten Grund. Sein Weltraumausflug war nämlich extrem gefährlich. Er war nicht der allererste Astronaut, der so ein Außenbordmanöver unternahm. Vor ihm hatten das schon zwei andere gemacht. Bei einem davon, Alexei Leonow (Alexe-i Leonnoff) aus der Sowjetunion, hätte das beinahe in einer Katastrophe geendet. Das wollten die Sowjets aber nicht zugeben. Schließlich waren sie in einem Weltraum-Wettkampf mit den Amerikanern. Sie wollten als die großen Obermacker dastehen, die alles besser konnten, als die Amis. Deswegen taten so, als sei alles prima gelaufen und hielten es geheim, wie die Geschichte tatsächlich gelaufen war. Und man kann sagen: sie war echt Scheiße gelaufen. Die Sache war die (und das wäre schon wieder eine der vielen spannenden Raumfahrtgeschichten), dass Leonow fast nicht mehr in sein Raumschiff zurück konnte. Sein Raumanzug hatte sich so aufgeblasen, dass er nicht mehr durch die Spezialschleuse passte.

Der andere Mensch, der schon im Raumanzug außerhalb seines Raumschiffes geschwebt war, war der Amerikaner Edward White (Vorname spricht sich, wie man‘s schreibt, der Nachname spricht sich „Weit“. Genau. Wie „nah“, bloß eben weit :-). Der war mit Gemini 4 geflogen. Leonow bei den Sowjets und White bei den Amerikanern hatten aber außerhalb ihres Raumschiffs praktisch nichts gemacht. Sie waren einfach bloß vor ihren Kapseln herum geschwebt. Trotzdem hatte Leonow mächtige Probleme gekommen wieder ins Raumschiff zurück zu kommen, und auch bei White war das recht schwierig gewesen. White war ungefähr 20 Minuten im Weltraum herumgeschwebt. Leonow ungefähr 10 Minuten. Zusammengerechnet betrug also die gesamte Erfahrung der Menschheit mit solchen Außenbordmanövern also damals, im Juni 1966, ganze 30 Minuten.

Eugene Cernan wusste ganz genau, dass außerhalb des schützenden Raumschiffes immer etwas Unvorhergesehenes passieren konnte. Die Versorgungsleitung, die ihn mit Luft versorgte und gleichzeitig die Verbindungsleine zum Raumschiff war, konnte reißen. Oder der Rückentornister, den er ausprobieren sollte, konnte kaputt gehen. Oder es konnte irgendetwas Unbekanntes passieren, so dass er nicht mehr in die Kabine zurückzukehren konnte. Sollte das geschehen, dann wäre Tom Stafford nichts anderes übrig geblieben, als ihn da draußen zurückzulassen. Dann musste Stafford die Versorgungsleitung durchtrennen, die Kabine wieder schließen und ohne ihn zur Erde zurückkehren. Du kannst Dir vorstellen: mein Namensvetter Eugene fand die Idee nicht besonders prickelnd, als „Erdsatellit Cernan“ zu enden. Aber wenn man Astronaut ist, muss man da durch.

Tornister komprimiert
“Chestpack” und Raketenrucksack sind hier gut zu sehen. Das Bild wurde bei einem Test auf der Erde aufgenommen. Da hat noch alles problemlos funktioniert (Bild: NASA)

Der Auftrag, den Eugene Cernan hatte, bestand darin, einen Rückentornister auszuprobieren. Diesen Tornister bezeichnete die NASA als EMU. Das stand für „Extravehicular Maneuvering Unit“. Ich schreibe Dir gar nicht erst auf, wie man das ausspricht, denn da bekommst Du garantiert einen Knoten in die Zunge. Auch den Astronauten, die an die Aussprache von schwierigen Wörtern gewohnt waren, war das zu blöd. Sie nannten das Gerät deswegen einfach den „Rucksack“. Und das traf es auch ziemlich genau. Da waren Treibstofftanks drin und kleine Raketendüsen, aber auch ein komplettes Lebenserhaltungssystem. An das sollte sich Eugene Cernan anstöpseln, sobald er es erreicht hatte. Und das mit dem Erreichen war schon eins der Probleme: Das Gemini-Raumschiff war nämlich so klein, dass dieser Rückentornister nicht in die Kabine hineinpasste. Er war deswegen an der hinteren Wand des Raumschiffs angebracht. Und Cernan musste sein Raumschiff verlassen, um erst da hin zu kommen.

So weit, so gut. Am 3. Juni 1966 starteten die beiden also in den Weltraum. In den ersten zwei Tagen in der Umlaufbahn standen andere Dinge auf dem Programm. Schon da hatten die Astronauten viel Pech und sie erlebten eine spannende Raumfahrergeschichte, nämlich die vom „Wütenden Alligator“. Aber dazu komme ich vielleicht ein andermal. Nach der Sache mit dem wütenden Alligator waren schon zwei Tage im Weltraum vergangen. Am dritten Tag sollte Eugene Cernan sein Außenbordmanöver durchführen. Es sollte fünfmal so lange dauern, wie die Außenbordmanöver von Leonow und White zusammen. Und viel, viel schwieriger werden. Und tatsächlich: es wurde viel, viel schwieriger. Und es wurde noch viel, viel gefährlicher.

Bevor er mit dem Ausstieg begann, musste sich Cernan einen quadratischen Versorgungstornister vor die Brust schnallen. Den nannte man, „Chestpack“ (spricht sich „Tschest-päck“). Das war eine Kiste ungefähr so groß wie zwei Schuhschachteln. Die war in der Kabine über seiner linken Schulter verstaut gewesen, und die schnallte er sich nun am Raumanzug vor seiner Brust fest. Unten am „Chestpack“ gab es einen Anschluss. An dem befestigte er seinen acht Meter langen Versorgungsschlauch. Den nannten die Astronauten immer nur „Nabelschnur“. Diese „Nabelschnur“ war ein Schlauch, die den Cernan mit Sauerstoff versorgte. Durch diese Leitung lief auch die Funkverbindung. Außerdem noch einige Drähte, mit denen medizinische Daten von Cernan an die Gemini 9-Kapsel, und von dort an die Flugkontrolle am Boden übermittelt wurden. Beispielsweise sein Herzschlag und seine Körpertemperatur. Man hatte ja noch keine Ahnung, wie anstrengend so ein Außenbordmanöver ist und wollten das genau feststellen. Und natürlich wollten die Bodenkontrolle auch wissen, ob er überhaupt noch lebte.

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Hier nochmal die Einzelteile von Eugene Cernans Ausrüstung. (Bild: NASA)

Die Nabelschnur in der Schwerelosigkeit aus ihrer Transportbox zu befreien war ungefähr so schwierig, wie einen herumtanzenden, wasserspritzenden Gartenschlauch einzufangen. Sie wand sich wie ein Wurm durch die kleine Kabine und war kaum unter Kontrolle zu bekommen. Dann halfen sich die beiden Astronauten gegenseitig dabei, Helme und Visiere zu schließen. Auch Stafford brauchte einen Raumanzug, denn die Luke des Raumschiffs musste nach dem Ausstieg von Cernan offen bleiben. Aber er brauchte natürlich nicht soviel Ausrüstung wie der. Sie halfen einander, die druckdichten Handschuhe überzuziehen. Dann setzten sie die Anzüge unter Druck. Als der vorgesehene Druck erreicht war, war der Anzug so steif, dass man sich damit fast nicht mehr bewegen konnte. Weder an den Ellenbogen, noch in den Knien, noch an der Hüfte, noch überhaupt irgendwo. Cernan kam es vor, als hätte man ihn von Kopf bis Fuß in einem Gipsverband eingeschlossen.

Eugene Cernans Raumanzug unterschied sich erheblich von Tom Stafford Anzug. Auch Stafford war dem Vakuum ausgesetzt. Aber er blieb in der Kabine auf seinem Sitz. Er brauchte keine Nabelschnur. Und er konnte sich nicht weiter bewegen, als seine Arme reichten. Cernans Anzug war wesentlich fester konstruiert als der von Stafford. Er war viel dicker isoliert, denn er war den Temperaturwechseln zwischen Nacht und Tag außerhalb des Raumschiffes ausgesetzt. Ohne diese vielen Lagen an Isolation würde Cernan in kürzester Zeit gegrillt oder beinhart gefroren werden. Zusätzlich hatte er in der Beckengegend und an den Beinen eine Beschichtung mit einer zusätzlichen Aluminiumschicht. Die brauchte er, um vor den Abgasstrahlen des Rückenrucksacks geschützt zu sein.

Die Beiden ließ nun den letzten Sauerstoff aus dem Raumschiff ab, und prüften noch einmal, dass die Raumanzüge nicht leckten. In der Zwischenzeit näherten sie sich auf der Nachtseite der Erde der amerikanischen Westküste. Der Außenbordeinsatz sollte nämlich hoch über den Vereinigten Staaten beginnen. Dann war eine direkte Verbindung mit dem Kontrollzentrum Houston möglich. .

Bei der 31. Erdumkreisung begann der Ausstieg. „Hier Gemini 9. Wir beginnen mit dem Außenbordmanöver“, meldete Cernan an Houston. Als die Luke offen war, brauchte es nur noch einen ganz leichten Stoß gegen die Sitzfläche, und er hob ab. Er griff an den Rahmen der Luke und zog sich hoch, bis er schließlich auf dem Sitz stand. Die Hälfte seines Körpers ragte jetzt aus dem Raumschiff heraus. Er sah aus, wie jemand, der stehend im Vordersitz eines Cabrios mitfährt. Nun wartete er darauf, dass die Sonne an der kalifornischen Küste über den Horizont stieg. Und als sie kam, war das ein überwältigender Anblick für ihn. Niemand hatte ihn auf diese Überflutung seiner Sinne vorbereitet. „Halleluja“ rief Cernan „Junge, ist das wunderbar hier“.

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Das hier ist ein Plastikmodell der Gemini 9 und noch eins von Eugene Cernan. Hier kann man sich aber gut vorstellen, wie die Sache damals abgelaufen ist. Eugene Cernan versucht hier auf die Rückseite des Raumschiffs zu kommen (Bild: Pete M.)

Das Raumschiff bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von fast 28.000 Kilometern pro Stunde nach Westen, aus der Finsternis hinaus ins Licht. Innerhalb von Sekunden ging die völlige Dunkelheit in ein geisterhaftes Nebelgrau über. Gleich darauf erschien ein dünnes blaues Band entlang der gekrümmten Horizontlinie. Das änderte sich in Sekunden in einen Goldton. Und dann war es urplötzlich Tag. Cernan konnte jetzt von einem Moment zum anderen keine Sterne mehr sehen. Seine Augen waren von der Helligkeit der Erde und des Lichts geblendet.

Dann bereitete er sich auf seine erste Aufgabe vor: Die Erprobung der „Nabelschnur-Dynamik“, wie es die Ingenieure auf der Erde etwas geschwollen genannt hatten. Die Techniker hatten sich überlegt, dass es möglich sein sollte, zu manövrieren, in dem man einfach an der Versorgungsleitung zog. Eine sehr, sehr schlechte Idee, wie sich schnell zeigte.

Cernan stieß sich ab, und bewegte sich vom Raumschiff weg. Er war jetzt schon den zweiten Tag schwerelos, und so war das Gefühl nicht mehr neu für ihn. Aber das war jetzt etwas anderes, als festgeschnallt in der engen Kabine der Gemini zu verharren. Jetzt bewegte er sich weg von der schützenden Hülle der Gemini 9, und war umgeben vom grenzenlosen Universum.

Eugene Cernans einzige Verbindung zur „wirklichen Welt“ war die Versorgungsleitung. Die „Schlange“. Und diese Schlange war jetzt dabei, Eugene Cernan eine Sonderlektion über die Bewegung im Weltraum zu erteilen. Weil es nichts gab, womit er seine Bewegungen stabilisieren konnte, geriet er sofort außer Kontrolle und segelte in allen möglichen Positionen vor dem Raumschiff herum. Als er das Ende der Leine erreicht hatte, spannte sich die Nabelschnur, und er federte wieder in Richtung Raumschiff zurück. So wie ein Bungee-Springer, bloß in Super-Zeitlupe. Als die Nabelschnur wieder kürzer wurde, begann sie sich einzurollen. Als Cernan versuchte, sie gerade zu halten, gelang ihm das zwar, aber nun drehte er sich um sich selbst und die Schnur stand still. Er hatte noch keinen einzigen Handgriff außerhalb der Kabine gemacht als er merkte, dass er die Sache nicht unter Kontrolle hatte. Niemand hatte ihn vor dem gewarnt, was ihn da erwartete. Alles was er tat und versuchte war neu. Er war schon nach wenigen Minuten jenseits der geringen Erfahrungen von Leonow und White. Er befand sich auf unerforschtem Gebiet.

Cernan hatte das Gefühl mit einem Kraken zu kämpfen. Die Nabelschnur kapriolte in verrücktem Eigenleben herum, verdrehte sich in Schleifen und Bögen und versuchte Cernan einzuwickeln. Cernan drehte Loopings und Rollen um das Raumschiff, und vollführte Pirouetten, als würde er durch Pfützen mit Weltraumöl schliddern. Er hatte keinerlei Kontrolle über seine Bewegungen und keine Kontrolle über seine Position. Er war zwar nicht gerade im Weltraum verloren, aber dennoch vollständig hilflos. „Ich komme nicht hin, wo ich will“, teilte er Stafford frustriert mit. „Diese Schlange ist einfach überall“.

Die einzige Chance, die Kontrolle wieder zurückzugewinnen bestand darin, dass er etwas zu fassen bekam, sobald ihn die Nabelschnur wieder zum Raumschiff zurückfederte. Cernan kämpfte etwa 30 Minuten wie ein Besessener mit der Versorgungsleitung, bewegte sich langsam kreiselnd bis ans Ende der Schnur, dann wieder zurück zum Raumschiff und dann wieder hinaus. Während dieses sinnlosen Hin- und Hertrudelns brach er ganz nebenbei den Rekord für den längsten Aufenthalt im freien Weltraum. Schließlich bekam er die Luke zu fassen, und er klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender an eine Planke in den Weiten des Ozeans.

Schließlich stand er wieder schweißgebadet auf seinem Sitz (besser gesagt, er schwebte stehend) und atmete tief durch. Mehr als 30 Minuten waren jetzt vorbei. Aber das Ziel seines Ausfluges, die Rückwand der Gemini, wo sein Rückentornister befestigt war, hatte er noch gar nicht erreicht. Dies musste laut Missionsplan bei Tageslicht geschehen, also innerhalb von 45 Minuten nach Beginn des EVA. In den dann folgenden 45 Minuten der Dunkelheit sollte er sich dann von der Nabelschnur abstöpseln und sich am Lebenserhaltungssystem des Rückentornisters anschließen. Der sollte ihn danach mit Sauerstoff versorgen. Wenn das geschafft hatte, sollte Tom Stafford einen Schalter umlegen, der den Raketenrucksack mit dem darauf festgeschnallten Gene Cernan freigab. Danach sollte er an einer 40 Meter langen dünnen Schnur unter Zuhilfenahme der Manövriertriebwerke seines Rückentornisters als unabhängiger Satellit herumfliegen. Am Ende seines Ausfluges musste diese Übung dann in umgekehrter Reihenfolge erneut stattfinden.

Doch erst musste er die Rückseite der Gemini erreichen. Der Raumanzug war steinhart aufgeblasen, und Cernan sah darin aus wie ein Michelin-Männchen. Zusätzlich hatten die Konstrukteure des Raumanzugs eine Verstärkung eingebaut. Das war ein sehr festes Spezialgewebe, das dem Raumanzug schon unter normalem Luftdruck auf der Erde die Beweglichkeit einer rostigen Ritterrüstung gab. Nur um den Arm zu beugen, brauchte Cernan gewaltige Muskelkraft. Sobald er nachließ, schnellte der Arm wieder in seine Ausgangsposition zurück. Die Konstrukteure des Anzugs hatten so etwas wohl schon geahnt, denn sie hatten im empfohlen, vor der Mission Hanteltraining zu machen.

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Hier das gleiche Plastikmodell noch einmal. Man kann hier sehen, wie der Raketenrucksack auf der Rückseite der Gemini befestigt war, und wie sich Eugene Cernan um die Hinterkante des Raumschiffs herumschwingen musste.

Cernans Herzschlag ging rapide nach oben und stabilisierte sich erst bei 155 Schlägen in der Minute. Aus der Erfahrung der ersten 30 Minuten wusste er nun, dass er sich irgendwo festhalten musste, um nicht die Kontrolle über seine Bewegungen zu verlieren. So arbeitete er sich Hand über Hand an einer Kabelleitung an der Außenhülle des Raumschiffs entlang und stopfte die Nabelschnur alle dreißig Zentimeter unter den Kabelstrang, der entlang des Raumschiffs verlief. So gut das eben ging, denn für diesen Zweck war sie nicht konstruiert. Immerhin ging das unter enormer Kraftanstrengung gut, bis er das hintere Ende der Gemini erreichte. Dort wartete eine böse Überraschung auf ihn.

Als die zweite Stufe der Titan abgesprengt worden war, war ein gezackter Metallrand zurückgeblieben, den die Sprengladung nicht sauber durchtrennt hatte. Er war scharf wie ein Sägemesser. Niemand hatte bei der Planung seines Weltraumausfluges an so etwas gedacht. Vorsichtig legte Cernan die lebenserhaltende Nabelschnur über die rasiermesserscharfen Metallkanten. Ihm war klar: Ein Raumanzug mit einem Loch ist in Sekunden nichts anderes als ein Leichensack.

Gemini 9….

O Manno…

Schon wieder verplaudert. Und die Geschichte von Eugene Cernans Abtenteuer noch nicht mal halb erzählt. Aber Heidi ruft unten und will auf den Ostermarkt. Und dann ist ja das Spiel um 17:30 Uhr. Also erfährst Du leider erst nächste Woche, wie es mit meinem Namensvetter Eugene weiterging. Ich kann Dir aber schon mal sagen. Es wird kritisch. Sehr kritisch. Beinahe tödlich.

Dein Onkel Eugen

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Ich bin Raumfahrt-Fan seit frühester Kindheit. Mein Schlüsselerlebnis ereignete sich 1963. Ich lag mit Masern im Bett. Und im Fernsehen kam eine Sendung über Scott Carpenters Mercury-Raumflug. Dazu der Kommentar von Wolf Mittler, dem Stammvater der TV-Raumfahrt-Berichterstattung. Heute bin ich im "Brotberuf" bei Airbus Safran Launchers in München im Bereich Träger- und Satellitenantriebe an einer Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Technik tätig. Daneben schreibe ich für Print- und Onlinemedien und vor allem für mein eigenes Portal, "Der Orion", das ich zusammen mit meinen Freundinnen Maria Pflug-Hofmayr und Monika Fischer betreibe. Ich trete in Rundfunk und Fernsehen auf, bin Verfasser und Mitherausgeber des seit 2003 erscheinenden Raumfahrt-Jahrbuches des Vereins zur Förderung der Raumfahrt (VFR). Aktuell erschien in diesen Tagen beim Motorbuch-Verlag "Interkontinentalraketen". Bei diesem Verlag sind in der Zwischenzeit insgesamt 16 Bücher von mir erschienen, drei davon werden inzwischen auch in den USA verlegt. Daneben halte ich etwa 15-20 mal im Jahr Vorträge bei den verschiedensten Institutionen im In- und Ausland. Mein Leitmotiv stammt von Antoine de Saint Exupery: Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge zu verteilen und Arbeit zu vergeben, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten unendlichen Meer. In diesem Sinne: Ad Astra

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