Die Semjorka – Juri Gagarins Trägerrakete – Teil 1

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Am 12. April 1961 jährt sich die historische erste Orbitalmission der Geschichte zum 50. Mal. Zum Gedenken an dieses Datum begehen die Raumfahrtfans auf der ganzen Welt schon seit Jahren "Juris Night". Es fing mit kleinen, privaten Veranstaltungen an und breitete sich bald immer weiter aus. Heute feiert fast jede größere Stadt weltweit IHRE "Juris Night" mit Symposien und Parties. In diesem Jubiläumsjahr wird das Ereignis verständlicherweise besonders groß begangen. Grund genug, von heute an bis zum 12. April den Lesern der Kosmologs eine Serie von Blog-Posts zu Gagarins historischer Mission bereitzustellen. Heute erzählen wir den ersten Teil der Geschichte der „Semojorka“, der Trägerrakete, die Juri Gagarin in den Orbit brachte…

Die R-7 „Semjorka“ ist vielleicht die wichtigste Trägerrakete in der Raumfahrtgeschichte. Praktisch alle frühen sowjetisch-russischen Pionierleistungen, und eine große Zahl weltweiter Raumfahrterstleistungen stehen mit ihr und ihren Varianten in Verbindung. Sputnik 1, der erste Erdsatellit, wurde mit einer R-7 gestartet, ebenso die ersten sowjetischen Lunik-Mondsonden. Und auch Gagarin wäre am 12. April 1961 ohne die Semjorka, der "gute alte Sieben", auf dem Boden geblieben. Grund genug, die Geschichte dieser Rakete genauer unter die Lupe zu nehmen.

Die Geschichte der R-7 begann als „Forschungsprojekt N-3“, einer Studie welche die Möglichkeiten untersuchte, einen Sprengkopf mit einer Masse von mehreren Tonnen über eine Entfernung von 5.000 – 10.000 Kilometern zu transportieren. Diese Studie wurde im Dezember 1950 ausgeschrieben. Den Zuschlag für ihre Durchführung erhielt das Ingenieurbüro Koroljew, das OKW-1.

Die Untersuchung sollte Lösungsansätze für Problemstellungen schaffen, deren Bewältigung damals noch nicht ansatzweise abzusehen war. Man brauchte Triebwerke, die einen kombinierten Schub von 200-300 Tonnen aufwiesen, das Zehnfache der bisherigen Werte. Es war ein spezifischer Impuls von 325 Sekunden gefordert, weit über allem, was bis dahin erzielt worden war. Die Treibstoffe sollten auf Basis von Sauerstoff und Kerosin arbeiten, statt wie bisher mit Sauerstoff und Alkohol. Die Rakete sollte über eine autonome Funk- oder Trägheitsnavigation verfügen. Man brauchte Hitzeschilde, die Wiedereintritts-geschwindigkeiten von 6-7 Kilometer pro Sekunde möglich machten. Und vieles mehr.

So entstand das Konzept eines Projektils mit der Bezeichnung N-1, das einen Gesamtschub von 170 Tonnen aufwies und in der Lage war, einen 3.000 Kilogramm schweren Sprengkopf 8.000 Kilometer weit zu transportieren.

Eckdaten dieser Art führten damals, als die stärksten Raketen gerade in der Lage waren, einen Sprengkopf von einer Tonne Gewicht über einige hundert Kilometer zu transportieren, direkt hinein in absolutes technologisches Neuland.

Doch dann wurde im Jahre 1954 die Forderung der Militärs noch einmal drastisch aufgestockt. Damals eine Katastrophe für Koroljew aber im Rückblick ein Segen für die Raumfahrt.

Tests in Semipalatinsk hatten ergeben, dass die Sowjetunion einen thermonuklearen Sprengkopf enormer Explosionsstärke bauen konnte. Ein wahrer Gigant der Abschreckung, mit einer Sprengwirkung von 30 Megatonnen TNT. Dieser Sprengkopf hatte aber einen entscheidenden Nachteil: Er wog 5,5 Tonnen. Mit dieser Last konnte die N-1 aus Koroljews Konzept nur etwa 5.000 Kilometer weit fliegen.

So wurden die Designer zusammengerufen und die N-1 noch einmal komplett umkonstruiert. Dies betraf nicht nur Triebwerke, Tanks und Elektronik, sondern auch die Struktur der Rakete und das Startverfahren. Letzteres führte am Schluss zu der bis auf den heutigen Tag einzigartigen Startmethode für die R-7 und ihre Varianten. Die gewaltige Rakete wird dabei an vier Greifern, genannt „Tjulpan“ (die Tulpe), über den Flammenschacht gehängt. Dadurch war sie beim Start vor Seitenwind geschützt, musste nicht auf der Startanlage verbolzt werden und konnte somit strukturell leichter gestaltet werden.

 Tjulpan-Startsystem

Der Startschub musste nun 400 Tonnen betragen. Das Startgewicht der Rakete lag jetzt bei 280 Tonnen und das bei einem Leergewicht von unter 28 Tonnen. Als Brennschluss-geschwindigkeit waren 6.400 Meter pro Sekunde gefordert und als Nutzlast 5.500 Kilogramm. Zusätzlich forderte das Militär die Startvorbereitung in horizontalem Zustand und eine Startbereitschaft der fertig montierten Rakete innerhalb weniger Stunden.

Koroljew baute all die neuen Forderungen in seinen Entwurf ein. Am 20. Mai 1954 war die Konzeptüberarbeitung fertig gestellt und erhielt die Bezeichnung 8K71. Im sowjetischen Militärarsenal bekamen Ausrüstungsgegenstände jeweils eine Bezeichnung des so genannten GRAU-Index. Die Zahl „8“ stand dabei für die großen Armeeraketen der fünfziger Jahre, der Buchstabe „K“ für die Kategorie. Die bedeutenden sowjetischen Designbüros erhielten neben dieser Zweierkombination Zehner-Nummernblöcke für ihre Produkte. Für Koroljews OKB-1 waren das die Ziffern 51-60, 71-79 und 90-99. 

Nur wenig später, am 28. Juni 1954 wurde Koroljew aufgefordert, Modifikationen einzuarbeiten, die den bislang rein militärischen Träger auch für wissenschaftliche Zwecke nutzbar machen sollten

Am 20. November 1954 autorisierte die sowjetische Regierung den Serienbau der R-7. Am 11. März 1955 wurde der Design eingefroren. Die Fertigung der ersten Prototypen begann parallel zur Durchführung eines ungeheuren Technologie-, Test- und Qualifikationsprogramms. Das war notwendig, denn jeder Aspekt, jedes Verfahren, praktisch jede Komponente musste von Grund auf neu entwickelt werden.

Koroljew und sein Team standen vor heute unvorstellbare Anforderungen. Sie konnten nirgendwo auf eine gesicherte Datenbasis zurückgreifen, alles wurde zum ersten Mal gemacht. Überall traten Schwierigkeiten auf. Die Zeitvorgaben waren, verglichen mit heutigen Projektlaufzeiten, unvorstellbar kurz. Für ein Projekt ähnlicher technischer Anforderungen, bei dem man sich in nahezu jedem Detail in technischem Neuland befindet, würde man heute mindestens 15-20 Jahre veranschlagen. Koroljew hatte gerade mal zwei Jahre zur Verfügung. Auch durch Spionage konnte die Sowjetunion keinerlei Informationen gewinnen, denn sie stand mit weitem Abstand an der Spitze der Entwicklung. Die USA lagen zu diesem Zeitpunkt Jahre hinter den Sowjets zurück.

Eine besondere technische Herausforderung waren die Vernier-Triebwerke, die für die Steuerung der Rakete eingesetzt wurden. Sie mussten sowohl leistungsfähig (2,5 Kilonewton) als auch um 45 Grad schwenkbar sein

Das Flugführungssystem wurde bei Testflügen mit der R-5 Mittelstreckenrakete erprobt. Diese Rakete wurde auch insgesamt 10mal eingesetzt, um Subsysteme der 8K71 zu testen.

Das geniale Tjulpan-Startsystem, bei dem die Rakete an vier Trägern über den Flammenschacht gehängt wird, wurde in einer riesigen Versuchsanlage in Leningrad erprobt.

Korolews Design führte zur einzigartigen Form der Semjorka und ihren ganz typischen Start- und Flugverlauf, der sie unter allen Trägern der Welt einzigartig macht. Eine keulenförmige Zentralstufe, die von vier kürzeren Booster-Stufen umgeben ist. Für den Start zünden alle fünf Antriebseinheiten gleichzeitig, nach gut zwei Minuten werden die Booster abgetrennt (und trennen sich dann mit einer ganz charakteristischen optischen Signatur, welche die Techniker damals als "Koroljews Kreuz" bezeichneten). Booster und Zentralelement wurden zwar gleichzeitig gezündet, arbeiteten aber unterschiedlich lange. Durch das Prinzip dieser so genannten parallelen Stufung gab es nun im gesamten Aufstiegsprofil keine unbeschleunigten Phasen mehr. So umging man die Gefahr von Kavitationseffekten in den Pumpen und Leitungen, die sich durch Luftblasen in der Schwerelosigkeit ergeben konnten.

Im Dezember 1956 wurde ein originalgroßes Modell der Rakete nach Baikonur geliefert. Es diente der Erprobung der Betriebsabläufe am Boden. Im März 1957 kam das erste Fluggerät an. Am 10. April trat die Startkommission zusammen und gab den Prototypen für die Startvorbereitungen frei.

R-7 Interkontinentalrakete, GRAU-Bezeichnung 8K71, Spitzname: Semjorka

Der erste Testflug der 8K71 erfolgte am 15. Mai 1957, fast auf den Tag genau zwei Jahre nach der Freigabe des Designs. Zündung und Abheben erfolgten wie geplant, doch schon Sekunden später entwickelte sich durch einen Riss im Leitungssystem ein Feuer im Bereich der Turbopumpen. Das führte 98 Sekunden nach dem Verlassen der Startrampe zur vorzeitigen Abtrennung eines der Booster. Die Triebwerke der Zentralstufe und der drei restlichen Booster schalteten ab und die Rakete schlug 400 Kilometer vom Startort entfernt auf.

Am 12. Juli 1957 fand der zweite Versuch statt. Diesmal verlief der Start noch schlimmer als beim ersten mal. Schon unmittelbar nach dem Abheben kam es zu einem Kurzschluss in der Flugsteuerung. Die Rakete begann sehr schnell zu rollen und die Booster trennten sich 33 Sekunden nach dem Verlassen der Startrampe von der Zentralstufe. Die Rakete fiel wieder zurück und schlug in der Nähe der Startanlage auf.

Der dritte Einsatz aber war erfolgreich. Am 21. August 1957 erreichte die Rakete eine Flughöhe von 1.000 Kilometern und steuerte exakt und wie geplant das Zielgebiet auf der Halbinsel Kamtschatka an.

Auch der vierte Testflug, am 7. September 1957 verlief perfekt. Damit war der Weg frei für den ersten Einsatzflug.

Und so eröffnete die Semjorka mit dem in Windeseile gebauten Sputnik 1 an der Spitze am 4. Oktober 1957, um 20:28 Uhr mitteleuropäischer Zeit, das Raumfahrtzeitalter. Die 8K71 erhielt zu Ehren ihrer ersten Orbitalnutzlast die Bezeichnung „Sputnik“. Damit wurde die jahrzehntelange Tradition in der sowjetischen Raumfahrt begründet, einen Träger stets nach der ersten Nutzlast zu benennen, die er erfolgreich in den Orbit gebracht hatte.

Das Basismodell der R-7 kam insgesamt 31mal zum Einsatz, davon aber nur dreimal als Satellitenträger. Dabei brachte sie Sputnik 1, Sputnik 2 und Sputnik 3 in den Orbit. Alle anderen Flüge dienten dazu, die 8K71 und ihre Nachfolger als Atomwaffenträger zu qualifizieren. Elf der 28 suborbitalen militärischen Testflüge endeten als Fehlschlag. Die 8K71 wurde aber nie als Einsatzrakete stationiert. Das blieb ihren Nachfolgern vorbehalten.

8K71 ICBM-Version (inks) im Vergleich zur 8K71 "Sputnik".

Copyright Dietmar Röttler/Raumfahrt Concret

Hinweise:

Teil 2 der Geschichte der Semjorka finden Sie hier

Ein Klick hierher oder in das Logo am Beginn des Artikels führt zur zentralen deutschen Juris-Night Webpage.

Hier ist der Link zur zentralen österreichischen Veranstaltung in Wien.

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Ich bin Raumfahrt-Fan seit frühester Kindheit. Mein Schlüsselerlebnis ereignete sich 1963. Ich lag mit Masern im Bett. Und im Fernsehen kam eine Sendung über Scott Carpenters Mercury-Raumflug. Dazu der Kommentar von Wolf Mittler, dem Stammvater der TV-Raumfahrt-Berichterstattung. Heute bin ich im "Brotberuf" bei Airbus Safran Launchers in München im Bereich Träger- und Satellitenantriebe an einer Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Technik tätig. Daneben schreibe ich für Print- und Onlinemedien und vor allem für mein eigenes Portal, "Der Orion", das ich zusammen mit meinen Freundinnen Maria Pflug-Hofmayr und Monika Fischer betreibe. Ich trete in Rundfunk und Fernsehen auf, bin Verfasser und Mitherausgeber des seit 2003 erscheinenden Raumfahrt-Jahrbuches des Vereins zur Förderung der Raumfahrt (VFR). Aktuell erschien in diesen Tagen beim Motorbuch-Verlag "Interkontinentalraketen". Bei diesem Verlag sind in der Zwischenzeit insgesamt 16 Bücher von mir erschienen, drei davon werden inzwischen auch in den USA verlegt. Daneben halte ich etwa 15-20 mal im Jahr Vorträge bei den verschiedensten Institutionen im In- und Ausland. Mein Leitmotiv stammt von Antoine de Saint Exupery: Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge zu verteilen und Arbeit zu vergeben, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten unendlichen Meer. In diesem Sinne: Ad Astra

3 Kommentare

  1. Semjorka und Koroljow

    Die R-7 „Semjorka“ ist vielleicht die wichtigste Trägerrakete in der Raumfahrtgeschichte.

    Auf jeden Fall dürfte sie die mit weitem Abstand erfolgreichste Rakete sein.

    Das mit der Bezeichnung N-1 ist etwas verwirrend, da auch die spätere, viel größere Schwerlastrakete für das sowjetische bemannte Mondprogramm N1 hieß. Ich nehme an, “N” stand für “Nositjel” (=Tráger)?

    Übrigens habe ich im Januar des 45sten Todestages von Sergej Pawlowitsch Koroljow gedacht:

    http://www.kosmologs.de/…oroljow_45ster_todestag

  2. Nummernsalat

    N 1 für Koroljews ersten Orbitalträger scheint sinnvoll. Ein wenig verwirrend ist aber bereits, dass die Konzeptstudien zu dieser Rakete als „Forschungsprojekt N-3“ liefen.

    Auch die Bezeichnung R 7 ist sinnvoll. Es geht hier immerhin um die „Raketa 7“, das siebte militärischen Raketenprojektes der Sowjetunion nach dem zweiten Weltkrieg.

    Auch mit 8K71 entsprechend der militärische GRAU-Klassifikation kann man sich gut anfreunden. Sie hat den Vorteil die zahlreichen unterschiedlichen Versionen, welche aus der ursprünglichen R-7 entstanden, allesamt genau zu definieren.

    Aber schon früh war das auch den am Projekt beteiligten immer zuviel. Deswegen sprach man schon bald nur noch respektvoll von der „Semjorka“, der „guten alten Sieben“ weil den Leuten schon damals der Nummernsalat suspekt war.

    Warum aber auch die sowjetische Mondrakete, immerhin auch von Koroljews Designbüro konzipiert, ebenfalls die Bezeichnung N-1 habe ich noch nicht definitv erschlossen. Es war ja keinesfalls die erste Trägerrakete des OKW-1, ja noch nicht einmal ihre erste Rakete mit der Eignung Mondsonden zu transportieren.

    Nach dem GRAU-Index wurde die N-1 Mondrakete als 11A51 bezeichnet. Meine Vermutung geht dahin, dass es von den Sheldon-Bezeichnungen herrührt, mit denen ab den späten sechziger Jahren sowjetische Trägerraketen bezeichnet wurden. Die 11A51 wurde von Sheldon als G-1 bezeichnet, und könnte, ausgesprochen wie ein kyrillisches N (sprachlich ist das wohl eher ein „gje“) später so bezeichnet worden sein. Ich bin mit dieser Vermutung aber auf Glatteis, es ist pure Spekulation und ich lasse mich hier gerne eines Besseren belehren.

  3. Entwicklung einer erfolgreichen Rakete

    Der Beitrag gibt eine Einsicht in die harte Arbeit zum Erfolg.
    Die entscheidenden Grundlagen wurden für beide Seiten (USA und UdSSR) in Deutschland erarbeitet. Es waren auch deutsche Fachleute, die auf beiden Seiten die Ausbildung einheimischer Kräfte sowohl in Theorie als auch in der Praxis unterstützten. Während sich die sowjetische Seite nach einer bestimmten Zeit „aus Sicherheitsgründen“ von den deutschen Fachleuten trennte, baute Wernher von Braun seine Position weiter aus – und sein Traum zum Mond wurde war.
    Sein Gegenspieler Koroljew, der so nicht bekannt war, hatte eine Rakete entwickelt, die prinzipiell noch jahrzehntelang und zuverlässig flog.

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