Gagarins 108 historische Minuten – Teil 1

BLOG: Astra's Spacelog

Raumfahrt: Informationen – Meinungen – Hintergründe
Astra's Spacelog

Wie haben sie sich abgespielt, diese denkwürdigen 108 Minuten an jenem 12. April 1961, zwischen 9:07 Uhr und 10:55 Uhr? Bis auf den heutigen Tag sind nicht alle Aspekte des Ereignisses im Detail offengelegt. Wir wissen nur: die Sache ging am Ende gut aus. Und wir wissen auch: sie verlief am Limit.  Dieser zweiteilige Bericht schildert einige bislang weniger bekannte Aspekte des ersten Raumflugs in der Geschichte der Menschheit…

Die sowjetische Propaganda der damaligen Zeit vermittelte den Eindruck, als sei die Mission zu 100 Prozent planmäßig verlaufen. Gagarin schrieb am Tag nach dem Flug, vielleicht sogar noch am Flugtag selbst, einen Bericht. Den trug er am 13. April 1961 auf der „Sitzung der Staatlichen Kommission nach dem kosmischen Flug“ vor, wie es damals pathetisch hieß. Dieser Bericht wurde danach am 19. April 1961 im ZK der KPdSU vorgestellt.

Gagarin schrieb das Papier im Stil der Sowjetzeitzeit der frühen 60iger Jahre. Optimistisch und Positiv. Er wusste, was seine Vorgesetzten von ihm erwarteten. Er stand an diesem Tag sicher noch unter Adrenalin und war von seinem Abenteuer noch emotional aufgewühlt. Er hatte seine Karriere im Auge, er wusste dass das Papier an die oberste Sowjetführung geht. Kritische Stellungnahmen waren da fehl am Platze. Hinweise auf den wahren Ablauf der Dinge waren jedoch angebracht, wenn auch versteckt. Mochte der sie sehen, der in der Lage und willens war, sie zu erkennen.

Und so kann man darin überall die kleinen Hinweise erkennen, die das wahre Ausmaß seiner Sorgen und Befürchtungen zeigen. An vielen Stellen finden sich mehr oder weniger verklausulierte Beschreibungen der technischen Pannen, die während des Fluges auftraten.

Sein Bericht ergibt das Bild eines Abenteuers, dessen Ausgang auf der Kippe stand. Er zeigt die Bereitschaft, Risiko in einem Maße einzugehen, wie es heute undenkbar ist. Er zeigt Pioniergeist und Opferbereitschaft in einem Ausmaß, die einer längst vergangenen Zeit anzugehören scheinen. In diesem wegen seiner Länge zweiteiligen Beitrag sind (in kursiver Schrift) eine Reihe von Auszügen aus Gagarins Report eingestreut.

Der Flug selbst war eine Abfolge aberwitziger Gefahrensituationen. Es begann mit den Startvorbereitungen auf der vollbetankten Rakete (nur wenige Monate zuvor waren General Nedelin und 125 seiner Mitarbeiter ums Leben gekommen, als eine vollgetankte Rakete 50 Minuten vor dem Abheben auf der Startrampe explodierte). Danach der Flug mit der R-7, von dem er wusste, dass er mit mehr als 40prozentiger Wahrscheinlichkeit scheitern würde. Der Aufenthalt  in einer Raumkapsel, die bei vier von sieben Testflügen versagt hatte (wobei vier Hunde ums Leben gekommen waren). Dann das Bremsmanöver mit dem Abstieg in die Atmosphäre mit einer Umgebungstemperatur von 2.000 Grad Celsius. Nie zuvor hatte ein Mensch etwas ähnliches erlebt. Und dann, als wäre das nicht genug, auch noch das Verlassen des Raumschiff vor der Landung mittels eines Schleudersitzes und eine Landung am Fallschirm. Jedes dieser Einzelabenteuer wäre für einen normalen Menschen Gefahr genug für den Rest des Lebens gewesen. Gagarin setzte sich all diesen Fährnissen innerhalb von nur 108 Minuten aus.

Juri Gagarin wusste etwa ab Mitte März 1961, dass er der primäre Kandidat für den ersten bemannten Orbitalflug war. Er war während der Kosmonautenausbildung nirgendwo der Beste gewesen, aber er war überall im Vorderfeld mit dabei. Ausschlaggebend für seine Ernennung waren wohl seine vegetative Ruhe, sein Optimismus und seine Begeisterungsfähigkeit, vor allem aber sein gewinnendes Wesen und – als Sohn armer Bauern – seine unzweifelhaft proletarische Herkunft. Den Verantwortlichen war klar, dass Gagarin nach einem erfolgreichen Flug der ganzen Welt präsentiert werden musste. Dass er nicht nur sich selbst, sondern vor allem die ruhmreiche Sowjetunion angemessen repräsentieren würde.

Während des Countdowns war es zu Verzögerungen gekommen. Auch dies ist ein Punkt, der in den ersten Jahrzehnten nach seinem Flug nie bekannt gemacht wurde. Gagarin war schon eine Weile in seiner Kabine eingeschlossen, als die Luke noch einmal geöffnet wurde. Gagarin berichtet: „Später begannen sie die Luke wieder zu öffnen. Ich sah, wie der Deckel abgenommen wurde und verstand, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Sergej Pawlowitsch (Koroljew) sagte mir: ‚Regen Sie sich nicht auf, ein Kontakt wird aus irgendeinem Grund nicht geschlossen. Alles wird gut‘. Ein Techniker schob an den Platinen, auf denen die Endabschalter montiert waren. Damit beseitigten sie den Fehler und schlossen den Lukendeckel wieder“.

Gagarin hatte in den Monaten und Jahren vor der Mission die Zuverlässigkeit seiner Trägerrakete wohl mit gemischten Gefühlen beobachtet. Nahezu jeder zweite Flug scheiterte, meist wegen Problemen, die mit Resonanzen zusammenhingen, die zwischen der Zentralstufe und den Boostern entstanden. Wegen der auftretenden starken Schwingungen war es immer wieder zur Brüchen im Material, in den Verbindungselementen und in Treibstoffleitungen gekommen.

Ein wenig von dieser Sorge klingt in seinem Flugbericht durch. Über die ersten Minuten des Starts schreibt er: „Ich fühlte, wie durch die Rakete ein kleines Zittern ging. Der Charakter der Vibration: hohe Frequenz, kleine Amplitude. Ich bereitete mich zum Katapultieren vor (für den Rettungsfall, sollte die Rakete explodieren) und beobachtete den Prozess des Aufstiegs. Ich hörte, wie Serjei Pawlowitsch meldete, dass 70 Sekunden vergangen waren. Der Charakter der Vibration änderte sich. Die Vibrationsfrequenz sank, doch die Amplitude stieg an. Es entstand ein Schütteln, so als führen wir mit eckigen Rädern….die Überbelastung (Beschleunigung) wuchs ständig, ungefähr 5 g. Ich führte die ganze Zeit Berichterstattung durch und hielt Verbindung mit dem Startkommando. Es war schwierig zu sprechen….ich war etwas angespannt….die Überbelastung wuchs weiter an“.

Die Besorgnis und die körperliche Anstrengung machen sich im Puls des Kosmonauten bemerkbar, der zu diesem Zeitpunkt zwischen 140 und 150 Schlägen pro Minute beträgt

Vier der sieben unbemannten Wostok-Testflüge waren zuvor gescheitert. Einer davon wegen eines Problems mit der dritten Stufe der Trägerrakete. Gagarin beobachtet deshalb auch diesen Punkt genau: „Die Abschaltung der dritten Stufe war heftig. Die Überbelastung wuchs ein wenig. Ich habe heftige Stöße gefühlt. Nach ungefähr 10 Sekunden war die Trennung (des Raumschiffs von der dritten Stufe) vollzogen. Dabei fühlte ich einen Stoß. Das Schiff begann sich nun langsam zu drehen“.

Seine Professionalität wird im weiteren Ablauf deutlich. Sofort nach dem Erreichen der Erdumlaufbahn berichtet er über die Erscheinung der Erde und der Sterne und wie sie über sein mit Referenzlinien ausgestattetes Navigationsfenster wahrnehmbar waren. Er beschäftigt sich mit der Qualität der Funkverbindung, analysiert schließlich die Bordsysteme und geht erst an vierter Stelle auf die physiologischen Aspekte ein.

Gagarin wusste von den erfolgreichen Flügen der Wostok-Kapseln und von den Versuchen mit Höhenforschungsraketen, dass Hunde im Weltraum überleben konnten. Bei den wenigen Flügen, bei denen sie heil zurückkamen hatte man beobachtet, dass sie physisch in akzeptablem Zustand waren. Wie es in ihrer Psyche aussah war weniger leicht zu erkennen.

Heute wissen wir, dass der Mensch den Aufenthalt in einem im Weltraum befindlichen Raumschiff  gut verkraften kann. Vor Gagarin wusste man es nicht. Aus der Sicht der damaligen Zeit war der Tod eine Option, selbst dann, wenn alle technischen Systeme funktionierten

Es gab im Osten wie im Westen eine nicht unerhebliche Anzahl von Medizinern und Psychologen, welche die mentalen und physiologischen Belastungen eines Raumflug für einen Menschen als nicht überlebbar betrachteten. Von einem vernünftiger Arbeitsprozess ganz zu schweigen. Kann ein Mensch in der Schwerelosigkeit normal atmen? Kann er schlucken? Wird man in dieser Situation der Orientierungslosigkeit verrückt? Werden die Sinne so überladen, so dass das Gehirn die „Reissleine“ zieht und der Mensch ins Koma fällt? Wirkt die Schwerelosigkeit wie eine Droge, die einen Menschen handlungsunfähig macht? Ist es schmerzhaft? Ist das Erlebnis so schrecklich,  dass ein Kosmonaut Selbstmord begehen will? Fragen, die uns heute albern erscheinen. Die man sich aber damals ernsthaft stellte.

Mit all diesen Ungewissheiten macht sich Gagarin nun auf den Weg. Doch er ist davon völlig ungerührt. Innerhalb der ersten Minuten seines Orbitalaufenthaltes sinkt seine Atemfrequenz von den 40 Atemzügen pro Minute der Startphase auf fast normale 20-22 Atemzüge ab. Die Herzfrequenz sinkt auf etwa 100-110 Schläge (und blieb auf diesem Niveau bis kur vor der Landung, wo sie dann wieder ansteigt).

Die physiologischen Tests, die ihm die Mediziner aufgetragen haben, macht er gleich nach dem Einschuss in die Umlaufbahn und bemerkt dazu in seinem Bericht lakonisch: „Ich nahm Wasser und Nahrung zu mir und nahm es normal auf. Es ist also möglich“. Das war alles. Damit war für ihn dieser Punkt im Versuchsprogramm abgehakt. In der Folge verschwendete er keinen Gedanken mehr an die physiologischen Aspekte, der die Mediziner jahrelang so besorgt gemacht hatten.

Der im Westen damals immer wieder etwas verächtlich geäußerte Kommentar, dass Gagarin, im Gegensatz zu seinen späteren US-Kollegen, ein reiner Passagier gewesen sei, der nichts anderes zu tun hatte, als stillzusitzen und abzuwarten, ob alles klappt, ist so keinesfalls richtig.

Neben den Protokollen über die Funktionen des Raumfahrzeugs, die er schriftlich und mit Tonband vornimmt, unternimmt er auch Erdbeobachtungen, baut Funkverbindungen auf und wickelt Sprechfunkverkehr mit verschiedenen Sendestationen ab. Er bedient ein Tonbandgerät mit offensichtlich sehr begrenztem Bandvorrat, denn ein Teil seines Berichtes beschäftigt sich damit, wie er das Gerät zunächst mit einer manuellen Taste betreibt, um Band zu sparen und zunächst mit Bleistift zusätzlich Notizen macht. Schließlich verliert er seinen Bleistift und kann ihn auch nicht wiederfinden (offensichtlich hatte niemand daran gedacht, ihn mit einem Band zu befestigen). Somit beginnt er das Tonband umzuspulen um mehr Speicherplatz zur Verfügung zu haben.

Ohne diesen Punkt besonders zu erwähnen ergibt sich aus dem Bericht damit automatisch folgender Sachverhalt: Man wird nicht nur nicht verrückt im Weltraum, man kann auch normal arbeiten und zielgerichtete Handlungen verrichten.

Schließlich steht die Retrozündung bevor. Ein kritischer Punkt, denn ein Wostok-Testraumschiff hatte im Jahr zuvor wegen einer zu langen Brenndauer des Triebwerks einen zu steilen ballistischen Abstieg erlebt, und die beiden Hunde an Bord starben. Die Brenndauer des 16 kN leistenden Triebwerks durfte 45 Sekunden keinesfalls übersteigen. Gagarin überwachte also den Brennkammerdruck und stoppte die Laufzeit des Motors.

Doch da kommt es zu einer ernsten Anomalie. Gagarin berichtet wie folgt: „…das TDU (Abstiegstriebwerk) arbeitete gut, die Aktivierung ging heftig vor sich. Die Überbelastung stieg ein wenig, dann kehrte abrupt die Schwerelosigkeit wieder zurück…die Arbeitszeit des TDU dauerte genau 40 Sekunden…kaum dass das TDU ausgeschaltet war, kam es zu einem heftigen Stoß und das Raumschiff begann sich mit sehr großer Geschwindigkeit um die eigene Achse zu drehen. Die Erde ging im „Vzor“ (dem Navigationsfenster) von oben rechts nach unten links durch. Die Drehrate betrug etwa 30 Grad pro Sekunde…alles drehte sich, mal sah ich Afrika (die Retrozündung war über Afrika erfolgt) mal den Horizont, mal den Himmel…ich musste herausbekommen, was vor sich ging. Ich wartete auf die Trennung (des Antriebsmoduls von der Rückkehrkabine). Keine Trennung. Sie hätte nach der Berechnung 10-12 Sekunden nach der Abschaltung des TDU erfolgen sollen…“.

Gagarin weiß nun, dass er in ernsten Schwierigkeiten ist. Die Gerätesektion hat sich von der Rückkehrkabine offensichtlich nur unvollständig getrennt. Irgendwie hängen sie zusammen und drehen sich nun umeinander. Er muss sich sofort darüber im Klaren gewesen sein, dass sich der Kabelbaum nur unvollständig getrennt hat. Der Kontakt mit den obersten Schichten der Erdatmosphäre steht in wenigen Minuten bevor.

Diese Sequenz nimmt in seinem Bericht einen erheblichen Teil ein, und macht die Besorgnis sichtbar, der er ausgesetzt war. Hier wieder ein Auszug aus Gagarins Bericht: „Bei der Abschaltung des TDU erloschen alle Anzeigen am PKRS (dem Anzeigegerät für die Landefunktionen). Nach meinem Eindruck verging eine längere Zeit, aber es erfolgte keine Trennung…es gab keine Trennung und das „Herzballett“ (wie er die Bewegung bezeichnete) dauerte an. Ich habe entschieden, dass hier nicht alles in Ordnung ist. Ich stoppte die Zeit mit der Uhr. Es vergingen zwei Minuten, aber es gab keine Trennung. Ich meldete über Funk, dass die Trennung nicht durchgeführt wurde. Ich entschied, dass das noch keine Havariesituation ist. Mit dem Codesystem sendete ich daher „WN“ (Wsje normalno – alles normal).

Lesen Sie Teil 2 am 11. April…

Avatar-Foto

Ich bin Raumfahrt-Fan seit frühester Kindheit. Mein Schlüsselerlebnis ereignete sich 1963. Ich lag mit Masern im Bett. Und im Fernsehen kam eine Sendung über Scott Carpenters Mercury-Raumflug. Dazu der Kommentar von Wolf Mittler, dem Stammvater der TV-Raumfahrt-Berichterstattung. Heute bin ich im "Brotberuf" bei Airbus Safran Launchers in München im Bereich Träger- und Satellitenantriebe an einer Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Technik tätig. Daneben schreibe ich für Print- und Onlinemedien und vor allem für mein eigenes Portal, "Der Orion", das ich zusammen mit meinen Freundinnen Maria Pflug-Hofmayr und Monika Fischer betreibe. Ich trete in Rundfunk und Fernsehen auf, bin Verfasser und Mitherausgeber des seit 2003 erscheinenden Raumfahrt-Jahrbuches des Vereins zur Förderung der Raumfahrt (VFR). Aktuell erschien in diesen Tagen beim Motorbuch-Verlag "Interkontinentalraketen". Bei diesem Verlag sind in der Zwischenzeit insgesamt 16 Bücher von mir erschienen, drei davon werden inzwischen auch in den USA verlegt. Daneben halte ich etwa 15-20 mal im Jahr Vorträge bei den verschiedensten Institutionen im In- und Ausland. Mein Leitmotiv stammt von Antoine de Saint Exupery: Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge zu verteilen und Arbeit zu vergeben, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten unendlichen Meer. In diesem Sinne: Ad Astra

Schreibe einen Kommentar