Der Kraterzähler: Gerhard Neukum ist tot

Gerhard Neukum (Bild: ESA)

Ein guter Wissenschaftler ist immer kritisch. Er ordnet sich keiner Autorität unter und steht zu seinen Überzeugungen. Gerhard Neukum war so ein Wissenschaftler. Nicht selten eckte er damit an – bei Kollegen, bei Vorgesetzten. Dabei ging es ihm immer um die Sache, die Planetenforschung. Am 21. September 2014 verstarb Gerhard Neukum in Berlin [1] und verlässt die europäische Raumfahrtszene auf dem Höhepunkt einer Entwicklung, an der er selbst nicht unschuldig ist.

Gerhard Neukum (Bild: ESA)
Gerhard Neukum (Bild: ESA)

Gegen die Lehrmeinung

Zuerst hatte Europa bei der Erkundung des Alls nicht mitzureden. Amerikaner und Russen schickten erste Sonden zu Mond und Mars, dann folgte die Mondlandung. Gerhard Neukum studierte Physik in Heidelberg „und ich hätte auch ein Hochenergiephysiker werden können“, sagte er in einem Interview.

Es kommt anders. Er verbeißt sich in ein Problem, das ihn zeitlebens nicht loslassen wird: Krater. Fast alle Körper des Planetensystems sind übersäht von ihnen, von den Planeten Merkur und Mars, über den Erdmond bis zu den Trabanten der Gasriesen. Wie viele Krater über die Jahrmillionen hinzukommen, lässt sich berechnen. Warum – fragte sich der junge Neukum – zählen wir diese Krater nicht einfach sehr genau? Ließe sich dann nicht das geologische Alter fast jeder Oberfläche bestimmen? Und das ohne, dass je ein Mensch auf all diesen Körpern gewesen ist? Alles was man bräuchte, wäre eine gute Kamera im Orbit.

Neukum verfolgt diesen Gedanken verbissen. Er untersucht bei der NASA die Gesteinsproben der Apollo-Astronauten und schreibt seine Doktorarbeit darüber. In einer US-dominierten Zeit der Planetenforschung bietet Neukum den Amerikanern die Stirn. Viele US-Kollegen glauben nicht an seine Methode der Kraterzählung – aber Streit scheut er nie.

„Durch seine Art, die Lehrmeinung in Frage zu stellen, hat sich Neukum den Respekt seiner amerikanischen Kollegen erarbeitet“, sagt Ralf Jaumann vom DLR-Institut für Planetenforschung in Berlin, ein langjähriger Weggefährte. „Selbst unpopuläre Ansichten hat er mit meist starken Argumenten kompromisslos verteidigt“, sagt auch Ulrich Köhler vom DLR.

Holprig zum Mars

Nach seiner Arbeit mit dem Mondgestein will Gerhard Neukum zum Mars. Besonders gute Bilder des Planeten zu schießen, wird sein Ziel. Neukum wird 1991 Direktor des heutigen Instituts für Planetenforschung in Berlin-Adlershof. Er arbeitet jetzt mit Kollegen aus Ost und West zusammen und ist seinem Ziel ganz nah.

Bereits vor dem Fall des eisernenen Vorhangs geplant, nimmt eine große russische Marssonde Gestalt an. Mars 96 trägt eine von Neukums Team entwickelte Stereokamera, die High Resolution Stereo Camera (HRSC), sein ganzer Stolz. Damit hebt die Sonde am 16. November 1996 vom russischen Weltraumbahnhof Baikonur ab – und fällt Stunden später wegen eines Raketenfehlers in den Pazifik.

Aus der Traum? „Wenn einem knapp zehn Jahre Arbeit unter den Fingern wegbrechen, muss man das erstmal verkraften“, sagt Ralf Jaumann. Aber Gerhard Neukum denkt nicht ans Aufgeben. „Er war immer entschlossen und fokussiert“, sagt DLR-Planetologe Harald Hoffmann. Die Kamera ist verloren? Bauen wir eine neue.

Der Absturz von Mars 96 markiert die Geburtsstunde der europäischen Planetenforschung: Mars Express soll Europas erste Sonde zu einem fernen Planeten werden. Und von Anfang an hat Gerhard Neukum die Fäden in der Hand. Gemeinsam mit Franzosen und Italienern – deren Instrumente nun ebenfalls am Pazifikgrund liegen – setzt er sich für Mars Express ein.

Ralf Jaumann sagt: “Neukum gehörte zu den ersten Planetenforschen in Europa.” Und der will jetzt mit seinen europäischen Kollegen direkt in die erste Liga aufsteigen: Denn die vorhandenen Marsbilder sind hoffnungslos veraltet, die neusten globalen Aufnahmen stammen von den Viking-Missionen der NASA – und sind drei Jahrzehnte alt.

Mars Express erfüllt alle Erwartungen, nach der Ankunft am Mars Ende 2003: Die ersten zwei Jahre gehen wie im Fluge vorbei, die Mission wird mehrfach verlängert und fotografiert den Mars erstmals weiträumig in Farbe. Die Instrumente weisen Gesteine aus feuchten Episoden in der Marsgeschichte nach. Und dank der längst anerkannten Kraterzählmethode Neukums wissen Planetologen nun auch recht genau, wann das Wasser floss [2]. Die hohe Auflösung der HRSC erlaubt, vulkanische Tätigkeit in jüngerer Vergangenheit des Mars nachzuweisen [3]. Und die Kamera liefert 3D-Ansichten, dank derer der NASA-Rover Curiosity erfolgreich landen kann.

Was bleibt

Über die Jahre wird es kaum ruhiger um Gerhard Neukum. Zwar verlässt er 2003 das DLR-Institut in Berlin-Adlershof. Manche sagen, er hatte zu teure Forschungsideen. Andere, er habe sich selbst zu wichtig genommen. Neukum bleibt seine Professur an der Freien Universität Berlin, wo er weiter eifrig publiziert. Gemeinsam mit US-Forschern entdeckt er Gasfontänen des Saturnmondes Enceladus und erkundet den Zwergplaneten Asteroiden Vesta mit der NASA-Sonde Dawn. Denn an Bord von Dawn befindet sich eine Kamera, die auf Neukums Arbeit beruht.

Neukums Tod hat seine Kollegen weltweit erschüttert. Mit vielen hat er sich gestritten – aber alle haben seinen kritischen Geist geschätzt. Denn er konnte eigene Fehler zugeben. Er war kein Fachidiot – und verstand die Zusammenhänge des Planetensystems wie kaum einer. Als Professor im Ruhestand hätte er noch viele Jahre weiterarbeiten können. Was von Gerhard Neukum bleibt, sind etliche Kapitel in Lehrbüchern über das Sonnensystem. Und eine Kamera im Orbit des Roten Planeten: in Kürze dürfte ihre Mission um weitere zwei Jahre verlängert werden.

Mehr über Neukum

Ich selbst habe Gerhard Neukum einmal getroffen, als junger Amateurjournalist für dieses Interview. Ich war damals so aufgeregt, dass ich die meisten Fragen meinem Kollegen überließ. Wer erleben will, wie Neukum war, empfehle ich allerdings folgende Aufnahme.

Quellen

[1] Neukums Tod ist noch nicht offiziell bekannt gegeben worden. Es liegen mir aber bestätigende E-Mails aus seinem Institut und von seinen ehemaligen DLR-Kollegen vor. Das DLR hat jetzt ein In Memoriam herausgegeben.

[2] Bibring et al.: Global Mineralogical and Aqueous Mars History Derived from OMEGA/Mars Express Data, Science (2006)

[3] Neukum et al.: Recent and episodic volcanic and glacial activity on Mars revealed by the High Resolution Stereo Camera, Nature (2004)

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https://www.astrogeo.de

Karl Urban wäre gern zu den Sternen geflogen. Stattdessen gründete er 2001 das Weltraumportal Raumfahrer.net und fühlt sich im Netz seitdem sehr wohl. Er studierte Geowissenschaften und schreibt für Online-, Hörfunk- und Print-Publikationen. Nebenbei podcastet und bloggt er.

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