Wie viel Vision darf sein?

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Abstraktion funktioniert so: Man hat jede Menge Konkretes vorliegen, sagen wir, Konkretes A, B und C. Man kommt irgendwie dazu, diese konkreten Etwasse zu vergleichen, in Beziehung zu setzen, und plötzlich fallem einem Gemeinsamkeiten bei A, B und C auf. Es schält sich langsam aber unausweichlich eine Struktur heraus, die A, B und C innewohnt, und schon ist man mitten im Abstraktionsprozess. Der geschieht oft unabsichtlich, einfach weil unser Gehirn, während es so vor sich hinbruddelt, gewisse Ähnlichkeiten herausarbeitet, die plötzlich ins Bewusstsein drängen. Man merkt dann: Hey, hier gibt’s irgendwie ne ähnliche Struktur s(x), und A, B und C sind eigentlich nix anderes als s(a), s(b) und s(c). Okay, lassen wir die Mathematik, darauf kommt’s auch grade nicht an.

Eine solche Struktur ist mir neulich in drei unterschiedlichen Situationen aufgefallen: drei Interviews, drei Kommentarthreads, dreimal heftiger Gegenwind. Voilá, hier erst mal A, B und C:

A: Die Bildungsreporter interviewten den Reformpädagogen Otto Herz. Er beantwortet dort darin unter anderem die Frage “Was ist Bildung?” und stellt sein Bild von Lernen und Schule und Hochschule dar, das (trotz dass es Reformpägogik schon lange gibt) immer noch als visionär bezeichnet werden kann. In der anschließenden heftigen Diskussion wird diese Vision als ideologisch oder erfahrungsarm kritisiert. Christian Füller zitiert Salman Ansari: “Die Reformpädagogen vertreten keine Konzepte, sondern Ideologie, deren Versprechen sie nicht einlösen können”. Jean-Pol Martin schreibt: “Die allgemeine Pädagogik verführt, wie die Geisteswissenschaften insgesamt, zur Produktion von erfahrungsarmen Visionen.”

B: Einige Zeit später interviewten die Bildungsreporter Lisa Rosa, die darlegt, dass alles Lernen als Projektlernen aufgefasst und demnach so organisiert werden kann. Darauf hin schreibt Berta: “Projektlernen geht von einem idealisierten Schülerbild aus: Manchmal muss man Schüler dazu zwingen, etwas zu lernen, was sie momentan nicht interessiert. Denn nur so erschließen sie sich eine Wissensbasis, die sie nutzen können, um eigene Interessen auszubilden.” und: “Verzicht auf differenzierende Noten ist ideologischer Bildungssozialismus.” und: “[sie] vertritt eine didaktische Position die durch und durch ideologisch ist.”

C: Ich wurde von ZEIT ONLINE WISSEN zum Thema Open Science interviewt. Auch hier wird in den Kommentaren immer wieder eine gewisse Art der “Weltfremdheit” oder “Utopie” attestiert. Manusmanumlavat schreibt: “Oder aber er ist einfach nur naiv und glaubt tatsächlich, dass so endlich die Quadratur des Kreises zu versuchen neu geboren wird – dabei hat er wohl vergessen, dass nur der Kreis keine Ecken und Kanten hat…” Twingo440 schreibt: “ich hoffe sie meinen das satirisch… sonst frage ich mich echt, wo sie leben;-)” usw.

Sowohl der Fall A, B und C haben gewissen Ähnlichkeiten. In allen drei Fällen geht es letztlich um Systemänderung: In Fall A und Fall B geht’s um das Bildungssystem, in Fall C ums Wissenschaftssystem. In allen drei Fällen sind die drei Interviewten mit dem bisherigen System unzufrieden und äußern Visionen, in welche Richtung es gehen könnte. In allen drei Fällen wird den Interviewten Weltfremdheit, Ideologie oder Utopie entgegengehalten, frei nach dem Motto: “Das sind ja alles gute Ideen, aber schaut euch doch mal die Realität an, die ganzen Probleme, die es hier gibt, lasst und doch erst mal damit befassen und die Wolkenkuckucksheime außen vor.”

Ich frage mich: Weshalb schlägt Visionen ein solch harter Wind entgegen? Letztlich ist allen drei Fällen doch eines gemeinsam: Jemand ist mit einem System nicht einverstanden und entwickelt eine Vision eines (aus seiner Sicht) besseren Systems. Diese Visionen werden zur Diskussion gestellt. In allen drei Fällen wird sofort entgegengehalten, dass der Mensch so nicht funktioniert. Alle drei Fälle haben aber gemeinsam, dass Menschen eben genau in diesen Systemen groß geworden sind und die Systeme “am Leben erhalten”. Ich habe somit den Eindruck, dass die Gegenposition also nicht lautet “Menschen sind so nicht”, sondern “Menschen, die in den bisherigen Systemen groß geworden sind, sind so nicht” und somit “Die visionären Systeme, die ihr da entwerft, sind zwar nett, aber sie passen nicht ins alte System”. Irgendwie stimmt daran was nicht. Auf der anderen Seite zeigt die Geschichte, dass Visionen auch ordentlich in die Hose gehen können (Kommunismus etc.pp.). Also ist es doch besser, die bestehenden Systeme im Kleinen zu verbessern, aber prinzipiell das Bestehende mal grundsätzlich als pragmatisch-beibehaltenswert anzusehen?

Wie viel Vision darf man haben? Wie viel davon darf man äußern? Als Wissenschaftler? Soll man sie in Anbetracht der realen Situation nicht äußern, weil die Realität anders ist als die Vision? Aber geht’s nicht genau darum? Und: Wann wird eine Vision zur Ideologie? Ist es zulässig, Visionen zu verfolgen, die letztlich wesentlicher Systemumstellungen bedürfen, damit sie greifen? Und wenn man eine solche Vision hat, was macht man dann? Versucht man, diese Vision innerhalb des bestehenden Systems umzusetzen, dabei anzuecken, aber gleichzeitig in der Hoffnung, andere zu begeistern und letztlich die langsame Evolution in Richtung Vision voranzutreiben (wie im Falle Open Science)? Oder baut man lieber gleich neue Mini-Versuchssysteme auf, die von vorneherein Strukturmerkmale des alten Systems ausblenden, um einfach alles mal von Grund auf neu zu machen (wie im Falle von Reformschulen)?

Sabine Hueber schreibt als Kommentar zu Otto Herz: “Man darf auch mal Ideale und Visionen hochhalten, selbst wenn die reale Welt häufig anders ist.” Darf man? Was meint ihr?

 

Alles hat damit angefangen, dass Christian Spannagel mal gerne Lehrer werden wollte. Für Mathe und Latein. Man hat ihm damals abgeraten, weil es keine Stellen gibt und so. Stattdessen hat er Informatik studiert (was ihm auch Spaß gemacht hat). Irgendwie ist er trotzdem in den Bildungsbereich geraten. Zur Computernutzung beim Lernen und Lehren promoviert, zunächst an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg in der Mathematik- und Informatiklehrerausbildung tätig, nun Professor für Mathematik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Inhaltlich beschäftigt er sich zudem mit Informatikdidaktik, E-Learning und öffentlicher Wissenschaft. Gerne schaut er über seinen Tellerrand (vielleicht hat sich ja eine Pommes verflüchtigt). In diesem Blog wird er sich allgemein mit Bildungsfragen befassen - da gibts viel zu sagen, und zwar aus ganz verschiedenen Perspektiven: Pädagogik, Psychologie, Fachdidaktiken, Neurodidaktik, Bildungspolitik, Schulpraxis, Hochschuldidaktik, E-Learning, ... (bitte ergänzen Sie die Liste durch drei weitere Disziplinen und begründen Sie Ihre Wahl!) Ach ja: auf Twitter ist er als @dunkelmunkel zu finden. Follow me! :)

26 Kommentare

  1. Visionen und Utopien haben eine ungeheure kreative Kraft. Im Kreativen liegt immer auch ein Stück “neu erfinden” von Begebenheiten. Um kreativ sein zu können, muss man vorher die Parameter neu gewürfelt haben.

    Die Kritik rührt aus meiner Sicht nicht an der Vision selbst sonder daher, dass im Rahmen eines Interviews keine „reinen Visionen“ erwartet werden. Man kann einer Vision die aus dem realen Kontext gerissen ist – wenn man Erbsen zählen möchte – mit gutem Gewissen „Wolkenkuckucksheim-Mentalität“ unterstellen.

    Ein guter Kommunikationsweg wäre, im Rahmen einer Dialektik zunächst die Realität zu skizzieren und anschließend die Utopie bzw. Vision gegenüber zu stellen.

    Ein nächster Schritt – die Synthese – könnte dann mögliche Wege hin zu einer “besseren Welt” beschreiben. Damit sind die Gedanken in einen größeren Gesamtzusammenhang gebracht und wirken nicht ganz so abwegig.

    Möchte man das nicht, sollte dem Zuhörer von Anfang an klar sein, dass es sich um Visionen handelt. Auch das wäre ein möglicher Kommunikationsweg, doch wäre es zu überlegen wie man das entsprechend klarstellt. Man könnte beispielsweise von Bildung im Jahr 2030 sprechen, etc.

    Ich vermute, dass bei einer gut aufgebauten Dialektik die Kritik genau so weniger werden würde, wie bei einer klar als solche angekündigten Utopiensammlung.

    Auf der anderen Seite ist Kritik ja wichtig. Je mehr etwas kritisiert wird, desto undenkbarer (im positiven Sinne) ist es meistens. Manche Menschen tun sich schwer bei Kreativität gepaart mit Idealen, weil die Fähigkeit nötig ist, sich von bestehenden Denkstrukturen zu lösen.

    Dabei geht es vielleicht gar nicht so sehr darum, aktiv das Bestehende als pragmatisch-beibehaltenswert anzusehen. Es geht vielmehr darum, sich auf ein Gedankenexperiment einlassen zu können, sich gedanklich in etwas Neuem fallen zu lassen.

    Hierzu ist Fantasie unabdingbar und die Möglichkeit, mehrere Realitäten gleichermaßen denken und beschreiben zu können, Dies wiederum erfordert, das was gerade ist, mit einem gewissen Abstand zu sehen.

    Eine solche Betrachtungsweise kann Furcht auslösen, da sie die positiv wie negativ belegte Gewöhnung an Bestehendes bedroht. Um sich auf Visionen einzulassen, sollte man loslassen können. Loslassen kann man nur, wenn die „Verstrickung“ mit der Realität nicht allzu dominant ist.

  2. Harter Wind

    weht nun mal wenn man gegen den Strom rudert. Da ist es schon schön wenn man ein wenig Rückenwind bekommt und nicht ganz allein im Boot sitzt (-; Visionen kann es nicht genug geben und ganz wunderbar wäre es doch wenn jeder sie einfach umsetzt so wie es ihm/ihr entspricht. Einfach mal machen. Und wenn das alle tun, dann sieht sowohl die Wissenschaft als auch die Schullandschaft bald ganz anders aus.

  3. In Medical express erschien 2011
    Is there a hidden bias against creativity?
    http://medicalxpress.com/news/2011-11-hidden-bias-creativity.html

    Könnte ein Teil der Problematik erklären.
    Der Mensch ist ein Gewohnheistier. “Das haben wir immer so gemacht!” oder “Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen!”
    Solange das so ist, wird man mit Visionen immer seine Schwierigkeiten haben. Sprich, Visionen müssen erstmal zeigen, dass sie besser sind.Nur müssen sie erstmal Realität/Praxis check überstehen. Da sie aber, wie das bsp deutlich zeigt, hohe Hürden zu überwinden. Haben sie Praxistest bestanden, tritt dann ein Gewöhnungseffekt ein,..

    Ist bei allem so.. Ob Wirtschaft, Politik. oder eben Bildung und Wissenschaft..

  4. keine Panik

    Nur keine Panik. Wenn etwas Neues erlebt/gedacht wird, dann kommt erst mal Skepsis, als erste Reaktion; dann wird das ganze nochmals durchdacht und gar nicht so schlimm empfunden und zum Schluss kann eine kleine Bewegung kommen – oder es entstehen neue Ideen.

  5. Vision

    Vielleicht … Eine Vision gibt die Richtung vor, in welche ‘man’ gehen möchte. Je mehr Menschen, die Vision für tatsächlich erreichbar halten (dran glauben), desto schneller geht es dann in diese Richtung … und zwar völlig unabhängig davon, ob die Vision zur Gänze realisiert werden kann oder nicht. Tricky … Vielleicht …

  6. Keine Visionen

    Im Zusammenhang mit Reformpadagogik und Projektunterricht wurde ich nun aber nicht von Visionen sprechen. Beides wird seit Jahrzehnten in allen möglichen Variationen getestet und man kann leicht die Ergebnisse mit denen der herkömmlichen Methoden vergleichen. Und das sollte man dann auch mit wissenschaftlicher Gründlichkeit tun statt sich nur allgemein über Vorurteile gegenüber allem Neuen zu beklagen.

    Die Open Science wiederum (jedenfalls in der Form, wie sie hier wohl gemeint ist, als Offentlichmachen von Ideen etwa zur Mathematik-Didaktik) hat ja nun eigentlich gar nichts mit Systemanderung zu tun, sondern einfach mit dem Engagement jedes Einzelnen. Und um das aufzubringen braucht man eigentlich keine institutionalisierten Inzentive. Insofern scheint mir der Vergleich mit der Reformpadagogik, bei der es ja nun tatsächlich um ein ganz anderes Schulsystem geht, doch ziemlich übertrieben.

  7. “In allen drei Fällen sind die drei Interviewten mit dem bisherigen System unzufrieden und äußern Visionen, in welche Richtung es gehen könnte. In allen drei Fällen wird den Interviewten Weltfremdheit, Ideologie oder Utopie entgegengehalten”
    Da fühle ich mich aber missverstanden. Ich habe nur betont, dass die meisten Vorschläge schon längst Realität sind. Wenn die Visionären in der Praxis tätig wären, würden sie es wissen. Das nenne ich erfahrungsarm. Sich als “Visionär” darzustellen ist Selbstüberhöhung. Vieles, womit sich sich die Damen und Herren profilieren, tun Praktiker in ihrem Alltag. Das ist allerdings für sie so banal, dass sie keine Veranlassung sehen, damit in die Öffentlichkeit zu gehen.

  8. Visionen hat jeder, Umsetzen kann keiner

    Viele haben Visionen, einfach weil sie die Realität als unbefriedigend empfinden und sich etwas besseres vorstellen können. Eine Vision aber nicht nur für sich zu entwerfen und vielleicht auch für sich zu realisieren, sondern eine Vision umzusetzen, wo viele in die richtige Richtung “spuren” müssen, damit etwas daraus wird, ist etwas ganz anderes. Und wird in einem bestehenden System mit Sicherheit auf Widerstand stossen. Deshalb kommt ein Visionär bald einmal auf die Idee, die Vision gar nicht im bestehenden System zu realisieren, sondern auf der grünen Wiese damit zu beginnen.

    Um nun aber konkret zu werden, was bedeutet das Umsetzen von Visionen im Schulaltag, in einer Erziehungssituation? Das ist wohl klar. Der Erzieher/Lehrer ist gefordert. Er muss die Vision umsetzen. Und das ist umso schwieriger je mehr andere Verpflichtungen er auch noch hat. Und tendenziell wird ja vom Lehrer immmer mehr verlangt. Er muss nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch noch die soziale Situation der Schüler berücksichtigen, sich mit den Eltern herumschlagen und vieles mehr.
    Mit andern Worten: Es gab wohl noch nie eine Zeit, in der Visionen im Schulalltag so störten wie heute, denn es bleibt einfache kein Freiraum mehr für Visionen.

    Heute wäre es wohl am dringensten anstatt Visionen für die Kinder, für die zu Erziehenden, zu Unterrichtenden zu entwerfen, Visionen für das Zusammenarbeiten von zu Erziehenden, zu Unterrichtenden mit den Erziehern, Lehrern etc. zu erarbeiten.

  9. Visionen, Realitäten, Begriffe

    Zu Deiner Frage, Christian, habe ich mehrere Einwände, um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen.
    1.) “Wieviel Vision” ist eine quantitative Orientierung, die m.E. nicht viel hergibt. Wörtlich genommen, müsste man darauf ja so etwas ähnliches antworten wie: 30% oder 7Euro oder 12MB. Wieviel ist adäquat wofür? Also es geht nicht so.
    2.) Dann fragst Du auch noch nach dem “Dürfen”. Inwiefern und wo und wofür muss ich für das Äußern meiner Visionen eine Befugnis einholen?
    3.) und wichtigstens:
    Den Begriff der “Visionen” haben in den Beispielen, die diskutiert wurden und die Du anführst die Diskutanten bzw. Kritiker eingebracht. Ich bin ganz und gar nicht der Meinung, dass der Visions-Vorwurf (mit dem eigentlich ein Utopie-Vorwurf gemeint ist im Sinne einer niemals erreichbaren Realisierbarkeit) überhaupt auf diese Beispiele passt!
    a) Die Kritik Füllers an Herz hatte ganz und gar nicht diesen Vision-Vorwurf zum Inhalt, sondern etwas ganz anderes. Die Kritik an der Kritik (“Man muss ja auch mal Visionen haben dürfen”) passte gar nicht auf Füllers Kritik, fand ich.
    b) mein Projekt-statement hat mit Visionen nicht viel zu tun gehabt. Es bezog sich auf ein Modell, menschliches Lernen zu verstehen und zu erklären (lerntheoretisch) und auf ein didaktisches Modell, wie man Lernen organisieren kann. Beide sind nicht normative Utopien, sondern zunächst einmal analytisch (im ersten Falle) und konzeptuell modellierend (im zweiten). Und Realtität ist das didaktische Modell vielfach in der Umsetzung, nämlich in allen nach dieser Methode durchgeführten Projekten, die in Schulen schon umgesetzt wurden, seit Deweys Laborschule vor über 100 Jahren. Wenn Kritiker jetzt von Visionen (im Sinne etwa von Thomas Morus Utopien) sprechen (ganz zu schweigen vom politischen Ideologievorwurf), dann haben sie mein Statement nicht verstanden. Sie reden nach dem dialogischen Muster: “Geht nicht!.” “Hier ist es aber schon gegangen!” “Geht trotzdem nicht, du Böse!”

    Wenn es Dir aber – und so verstehe ich Dich – darum geht, zu klären, wie man mit Ideen und Wünschen für die Zukunft umgehen muss, damit sie auch Realität werden, dann mache ich diesen projekt-methodologischen Aufschlag (denn die Gegenwart so zu verändern, dass uns die Zukunft gefällt, ist eine klassisches Projekt):
    1. Wir machen eine Zukunftswerkstatt (Methode)
    2. Wir schauen, was wir davon schon haben, also woran wir anknüpfen können in der Realität
    3. Wir klären, was wir noch brauchen und wie und mit wem wir es kriegen können
    4. Wir machen den ersten Schritt,
    denn:
    Do or do not. There is no try.

  10. Um-Ordnung bringt Un-Ordnung mit sich…

    Eine unbewusste Angst vor Un-ordnung? Wenn etwas Um-geordnet wird, entsteht eine vorrübergehende Phase der Un-ordnung. Die Leute äußern sich, als würde man ihnen androhen, die Kehrwoche abzuschaffen. Traditionelle Systeme scheinen doch sehr viel Orientierung zu bieten (alles ist an seinem Platz, es ist klar, wann was erlaubt bzw. verboten ist, wann welche Daten in welche Listen eingetragen werden müssen usw.)
    Glaubt man alten Mythen, so entsteht Schöpfung aus dem Chaos. Man müsste also in Kauf nehmen, dass die in die Tat umgesetzte Vision erst einmal in die Hose geht, Dinge durcheinander bringt, irritiert oder dass an der einen oder anderen Stelle nachjustiert werden muss.
    Zur Ideologie wird meines Erachtens eine Vision nur, wenn sie als absolute oder einzige Wahrheit verkauft wird.
    Als Realschullehrer in NRW habe ich mir vorgenommen, von “unten” anzufangen: Ausprobieren im Klassenraum und dann einen Teil des Kollegiums “anstecken”, wenn ich das Gefühl habe, es lohnt sich.

  11. Danke für die vielen Beiträge!

    @jeanpol Ich glaube, keiner der drei Personen hat sich als Visionär bezeichnet. Die Kritiker hingegen bezeichnen die Ideen als Utopien, Wolkenkuckucksheime und Ideologien. Meine Wendung war, dass diese Begriffe es nicht treffen, sondern eher der Begriff Vision.

    Mittlerweile glaube ich auch, dass es auch so etwas wie eine Überheblichkeit des Praktikers gibt (“Ihr mit euren Visionen… geht erst mal in die Praxis, dann sehen wir, was davon übrig bleibt!”). Ich unterstelle zunächst mal allen dreien (auch mir ;-)), die Dinge selbst schon ausprobiert zu haben. Aber selbst wenn nicht: Wäre es schlimm, wenn jemand eine Idee äußert, die nicht auf Praxiserfahrung beruht? Ich kenne deine Position (wir haben ja heute drüber getwittert), die Gefahr besteht, dass unterschieden wird zwischen den “Visionären da oben” und den “Praktikern da unten”. Ich frage mich nur, wessen Interpretation das ist… vielleicht die der Praktiker, die sich vielleicht ungerechtfertigterweise nicht als gleichberechtigt wahrgenommen fühlen? Es mag auch sein, dass manche praxisfernen Visionäre mit einer gewissen Arroganz daherkommen. Aber ist das eine Notwendigkeit? Ich denke, ich glaube das doch nicht. Auch das könnte wieder falsch verstanden werden: Ideen, die auf reichhaltiger Praxiserfahrung beruhen, haben einfach ein starkes empirisches Argument im Rücken. Aber: Ideen, die das nicht haben, müssen nicht unbedingt schlecht sein.

    @lisarosa Für mich ist der Visions-Begriff positiv besetzt. Keiner der Kritiker hat diesen Begriff verwendet (siehe meine Bemerkung ein Stück weiter oben). Aber auch keiner der Interviewten – insofern ist dies meine begriffswendende Reaktion auf den Utopie-Vorwurf: Nein, es sind keine Utopien, es sind Visionen. 😉 In diesem Sinne verstehe ich auch deinen Beitrag: Kritiker sehen ihn als Utopie, deine Antwort könnte lauten: nein, allenfalls könnte es zur Vision werden, dass viele Lehrer einen ähnliche Sicht auf Lernen entwickeln.

    Aber ansonsten stimme ich dir gerne zu – hin und wieder habe ich vermutlich zu stark abstrahiert. Die Hauptkritik von Füller bezieht sich nicht auf den Utopie-Aspekt (aber dennoch greift er in die Ideologie-Schublade am Ende seines Beitrags), und viele Kritiker kritisieren an den Beiträgen auch anders (z.B. stärker an einigen inhaltlichen Aspekten orientiert wie beim Open-Science-Beitrag). Deinen zweiten Teil des Kommentars stimme ich vollkommen zu.

  12. @christianbrenk Passt schon, deine Beiträge waren zunächst alle als Spam markiert, ich habe einen freigeschaltet. 🙂

    Genau: “von unten” anfangen ist die richtige Strategie. Ausprobieren und beispielhaft arbeiten – dann lassen sich vielleicht andere anstecken. Und diese Beispiele auch in die Öffentlichkeit tragen, ins Web, um mehr Menschen zu erreichen… in genau diesem Sinne verstehe ich auch die drei oben erwähnten Beispiele.

  13. Bildungsvisionäre zum Arzt?

    Würde ich heute etwas anders schreiben, aber möglicherweise findest du zu dem Thema den folgenden Beitrag brauchbar:

    Tacke, Oliver (2011): Sollten Bildungsvisionäre vielleicht zum Arzt gehen, in: Konferenzband der 1. openmind (#om10), Kassel, 02.10.2010, S. 103-111.

    Findest du unter http://11.openmind-konferenz.de/wp-content/uploads/2011/11/om10-final-111013.pdf

    Apropos open mind… Vielleicht hast du auch Lust auf die #om12? http://12.openmind-konferenz.de/

  14. zentraler unterschied

    “Ich frage mich nur, wessen Interpretation das ist… vielleicht die der Praktiker, die sich vielleicht ungerechtfertigterweise nicht als gleichberechtigt wahrgenommen fühlen? Es mag auch sein, dass manche praxisfernen Visionäre mit einer gewissen Arroganz daherkommen. Aber ist das eine Notwendigkeit? Ich denke, ich glaube das doch nicht.”
    Geanu das unterscheidet uns. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals in meiner ganzen karriere einem theoretiker begegnet wäre, der nicht offen oder verdeckt auf die praktiker heruntergeschaut hätte. Mich eingeschlossen, sobald ich ein paar wochen nicht mehr im klassenzimmer kämpfen musste.

  15. Visionen

    … sind in vglw. erfolgreich laufenden Großsystemen, ‘Never change a winning team!’, ‘Don’t fix it, when it’s not broken!’, in der Regel dann wegzugähnen, wenn sie zu umfangreich sind und ein laufendes und grundsätzlich erfolgreiches System (was immer am relativen Erfolg erkennbar oder zu messen ist, also auf Konkurrenzsysteme bezogen) umzuwälzen versuchen. Also wenn die betrachteten Systeme hinreichend komplex sind.

    Die Individualintelligenz reicht schlichtweg nie aus um Großsysteme visionär und revolutionär anzugehen. Erkennbar an den Gesellschaftsystemen, aber auch ein lumpiges Vertriebssystem eines mittelständigen Betriebs kann oft schon überfordern.

    In minderleistenden Systemen, diese Minderleistung wiederum im Vergleich erkennbar, sind Visionen Einzelner potentiell wertvoll.

    In vglw. “normal laufenden” Systemen ist die evolutionäre Anpassung erforderlich, die auf Visionen basieren kann und muss, wenn wir die “Vision” mal ein wenig erden, aber auf individuellen “Kleinvisionen”.

    🙂

    HTH
    Dr. Webbaer

    PS: Visionen basieren auf Ideologien, was nichts schlechtes ist, “Visionen” werden üblicherweise als “Großsichten” verstanden. – Vs. Theorien (Sichten).

  16. Fazit?

    Wenn Praktiker mit Hass reagieren, was kann man dagegen tun? Die Praktiker tadeln? Oder vielleicht doch eher ihr Leid ernst nehmen und versuchen, ihre Position zu verstehen, vor allem aber nachzuempfinden? Das Gespräch habe ich gerade fortgeführt mit Alina Rachimova, die als exzellente Aktionsforscherin sich jetzt von universitären Theoretikern bewerten lassen muss, die ihre Arbeit nicht verstehen aber auf sie “herunterschauen”, weil sie von der PH kommt. Verständlich, dass da Wut aufkommt. Wie du (vielleicht nicht) weißt, verachten Uni-Leute die PH-Leute, die wiederum die FH-Leute, die wiederum die normalen Gymasiallehrer, die wiederum die Realschullehrer, die wiederum die Haupt- und Grundschullehrer, usw. und so fort. Ich war zwar an der Uni, wurde aber von den Fachwissenschaftlern verachtet, weil ich Didaktiker war, innerhalb der Didaktiker wurde ich als Methodiker verachtet, weil ich mit Praxis was zu tun hatte, ich wiederum sah auf die Pädagogen herunter, weil sie kein richtiges Fach studiert hatten, usw. und so fort…
    Das ist nicht tragisch und ich kam wunderbar damit zurecht. Aber das muss man wissen!

  17. die hierarchische gesellschaft

    der derzeitigen “Wissenschafts-Gesellschaft” wird so wohl nicht in der “Wissensgesellschaft” ankommen. Ich finde die gegenseitige Missachtung blöd.
    Es ist m.E. so:
    – ohne gute Theorie ist der Praktiker nur zufällig gut
    – ohne Praxisproof bleibt jede Theorie Spekulation
    – Theorie und Praxis einander entgegen gesetzt sich vorzustellen, ist schon eine Alltagstheorie, aber keine taugliche, weder für wissenschaftliches Theoriebilden, noch für reflektierte Praxis.

  18. @jeanpol Das ist mir wirklich zu viel Verachtung. Ehrlich gesagt finde ich das schon tragisch, und letztlich ist das auch die Motivation für diesen Beitrag hier.

    @lisarosa Ich finde die gegenseitige Missachtung auch blöd. Zusammenarbeit und voneinander lernen wäre angebracht.

  19. Sehr interessant. Bei der Diskussion Theorie vs.Praxis fällt mir jetzt der blöde Spruch ein: “Theorie ist, wenn man alles weis, aber nichts funktioniert. Praxis ist, wenn alles funktioniert, aber keiner weis warum.”
    Das stimmt zwar nicht, bringt aber die Animositäten zwischen Theoretikern und Praktikern satirisch auf den Punkt.
    Was mich angeht, so stimme ich zu, dass alle voneinander lernen sollten, wie etwas besser zu machen ist, und eine Vision zu einer besseren Welt führt.

  20. Theoprax

    @Hans
    Was mir schwer fällt nachzuvollziehen, ist die Denkfigur, die Praktiker und Theoretiker trennt. Denn das gibt es so in der Praxis auch eigentlich nur auf eigenen Wunsch 😉
    Erziehungswissenschaftler haben als Hochschullehrer eine eigene Lehrpraxis. die können sie endlich mal begreifen als ihr eigenes Praxisforschungsfeld. Pfui ist, wenn gerade Didaktiker das nicht nutzen und ewig von vorne predigen, dass nicht von vorne gepredigt werden darf ;-))
    Andererseits halte ich die Theoriefeindlichkeit vieler Lehrer für fatal. Denn nur reflektierte Praxis ist verbesserungsträchtig. Erst, wenn ich begriffen (auf den Begriff gebracht = ein theoretisches Konzept von Praxis) habe, was in meiner Tätigkeit passiert an gutem/schlechtem/widersprüchlichem usw. kriege ich anschließend was verbessert. Nur rumprobieren ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
    Manche meinen mit “Theorie” die normativen Entwürfe von einer besseren Praxis am grünen Tisch. ich habe einen anderen Theoriebegriff. Und ich bewege mich ständig zwischen Praxiserfahrung – theoretischen Erklärungsmodellierungen dieser Praxis (analytisch, nicht normativ) – und Neuerfindung von Praxis, die dann ausprobiert wird und deren Ergebnisse wiederum in Reflexion und TheorieModelle von Praxis zurückgespeist werden. Dafür müssten die Lehrer nicht nur bereit sein (in ihrem Verständnis von ihrer Tätigkeit), sondern vor allem auch die notwendige Zeit bekommen.

  21. Konsum- und Profitautismus

    “Ich frage mich: Weshalb schlägt Visionen ein solch harter Wind entgegen?”

    Die Antwort ist einfach:-) Weil wir im geistigen Stillstand seit der “Vertreibung aus dem Paradies” (erster und bisher einzige GEISTIGE Evolutionssprung) einen zeitgeistlichen Kreislauf von gutbürgerlich-gebildeter Suppenkaspermentalität auf stets systemrationaler Sündenbocksuche VEGETIEREN (die UNWAHRHEIT von Staat und Kirche), für das “gesunde” Konkurrenzdenken im nun “freiheitlichen” Wettbewerb um …, obwohl ein Zusammenleben OHNE … möglich und notwendig wäre.

  22. Die volle Vision, bitte!

    Sehr geehrter Herr Spannnagel, genau auf den Punkt.
    Visionen sind keine Träume! Visionen sind Resultate, die erreicht werden wollen.

    Im Gastbeitrag wird es sehr schön dargestellt, wo das Dilemma des Praktikers und das Dilemma eines Visionärs liegen.

    Visionen werden oft verwechselt mit Träumen oder reines Wunschdenken.

    Schaut man sich unsere heutigen Visionäre an…Bill Gates, Steve Jobs, selbst Montesori- und Walddorfschulen entspringen den Köpfen von Visonären.

    Mit strahlenden Grüßen
    Elena Sommer
    Vision Follower – Folge Deiner Vision!

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