Nachruf

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Nummer 5 ist tot. 

Gestern noch – es war Sonntag – war ich ein paar Stunden im Büro und gab ihr bei dieser Gelegenheit einen Apfelschnitz und ein paar Sonnenblumenkerne. Es hat aber da schon recht lange gedauert, bis sie aus ihrem selbstgebauten Wischpapiernest in einer Ecke des Käfigs heraus kam – sonst kam sie stets, sowie die Bürotür aufging. Heut’ morgen lag sie steif und kalt mitten im Käfig auf der Mäusestreu.

Mausetot.

“Mausetot”, dachte ich, als ich den kleinen pelzigen Leichnam in die Hand nahm. Es war auch das erste Mal, dass ich überhaupt ihr Fell berührte, denn Nummer 5 war nicht handzahm, sondern wurde stets nur am Schwanz angefasst, wenn es nötig war (Saubermachen) sie aus dem Käfig zu holen.

“Menschentod”, dachte ich, als ich das Fellhäufchen in meiner Hohlhand genauer ansah. Ganz wie bei Menschenleichen war der Unterkiefer heruntergefallen, der Mund war offen und starr im Rigor mortis, der in den Kaumuskeln seinen Anfang nimmt. Die Augen standen auf und die Hornhäute hatten schon ihren Glanz verloren.

Nummer 5 – das kann man in der oben verlinkten Geschichte nachlesen – Nummer 5 war zeitlebens blind, hat nie irgendwelche Formen oder Gestalten gesehen, sondern nur eine diffuse Empfindung für “hell” und “dunkel” gehabt. Ich weiss nicht so recht, warum – aber es erschien mir jetzt eine gute Idee zu sein, dem kleinen Mäuseleichnam die Lider über den Augen, die nie sahen, zuzudrücken. Das tat ich.

Jetzt sieht die tote Maus aus, als ob sie schliefe. Den grossen Schlaf. 

Nummer 5 war eine Labormaus. Vor vielen, vielen Generationen hat man ihre Vorfahren der Natur entnommen und solange (in)gezüchtet, dass keine dieser Mäuse in der Natur je wieder zurecht käme. Lebend zurechtkäme, meine ich. Ich werd’ den Leichnam von Nummer 5 heut abend auf dem Heimweg in irgendein Gebüsch werfen (1). Zurück zur Natur. Im Tod wenigstens.

 

(1) Ich darf das, denn sie ist nicht “transgen” und kein “BioHazard”, schon weil sie nicht mehr “bio” sondern “mause” ist.

 

 

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

11 Kommentare

  1. Verlust eines Individuums/Artverlust

    Eine Maus – sei sie auch nur für menschliche Forschungszwecke gezüchtet – zu verlieren (durch ihren Tod) kann man als Verlust empfinden.
    Die ganze Rasse von Labormäusen zu verlieren wäre auch ein Verlust. Für die Forschung, nicht aber für die Natur oder irgend etwas sonst.

    Vielleicht steht es ja auch mit dem Menschengeschlecht so. Einen Menschen zu verlieren kann ein grosser Verlust sein. Ob alle Menschen zu verlieren dagegen ein Verlust ist, ist Ansichtssache.

  2. oh … arme nummer 5

    schön hast du es geschildert, rührend, zwischen witz und tragik, für uns mehr witzig, für nr. 5 mehr tragisch.
    geht nahe (oh meine vordere insel…)
    der nachruf steht ihr zu.

  3. @macedonia

    Oh, ich war auch ganz gerührt von mir – ich bin ein rührseliger Charakter.

    Von meinem Plan mit dem Gebüsch hab’ ich Abstand genommen – im Rödelheimer Park blühten die Schneeglöckchen, und unter eines davon hab’ ich die Leiche gelegt und ein mürbes Blatt von einer Kastanie darüber.

    Dann hab’ ich, wie sich das gehört, meinen Zylinderhut abgenommen und stand eine Weile stramm.

    Derweil kamen Kinder. Der Zylinderhut (den ich oft trage) lockte sie an. “Was machst Du da?” “Die Endung mit der Maus…”

    “MAMAAA – der is’ vom Fernseh’n!!”

  4. Zylinder

    Ich würde meinen Zylinder auch abnehmen. Um Ihren sprachlichen Meisterwerken die gebührende Ehre zu erweisen. Allerdings trug ich dieses Kleidungsstück zuletzt als Schüler in den siebziger Jahren. Mit langen Haaren und Vollbart.

    Ich glaube, es war Dustin Hoffmann, der einmal sagte: “Wer sich an die siebziger Jahre erinnern kann, der hat sie nicht erlebt.”

  5. @ Bolt

    Danke.

    In den Siebzigern, da war ich jung, langhaarig, und konformistisch – da trug ich als echter Bohemien _keinen_ Hut und den üblichen systemverändernden Armee-Parka.

    Ich plane, meine nächste Weihnachtsvorlesung über Hüte zu halten. Der Hut, so glaube ich nämlich herausgefunden zu haben, bestimmt auch, was man darunter tut.

    Und – was den Zylinderhut im besonderen angeht – probier’n Sie es doch nochmal aus, holen Sie den alten Hut ‘raus und tragen Sie ihn. Ich hab’ den Eindruck, dass Zylinder Sympathie erzeugen. Die Leute lachen mich nicht aus – sie strahlen mich an.

  6. Wohl behütet…

    … ruhe Nummer 5 unter dürrer Kastanienhand, umflort von Schneeglöckchengeläut. Bis das frühlingskeimende Leben der Bodengare sie sich und der Erde wieder einverleibt…

    Und doch wird diese Labormaus dank Ihrer Worte über den Tod hinaus leben. Wie jene Maus von Robert Burns ist Nummer 5 nun auf eine Weise “vielleicht unsterblich”, wie Ihr Postskriptum zum ersten Mausebeitrag schließt.

    Indem ich mich bekenne, die zu sein, die damals nach der Lektüre Ihres ersten Beitrags über Nummer 5 die Ballade von Burns aus der Hut ihres Gedächtnisses zog und tweetete, erlaub ich mir, diesmal samt Dank mit Knicks für Ihre (belebenden!) Worte noch eben auf eigene “Worte mit Hut” zu verweisen –

    https://textgruende.wordpress.com/2011/08/09/commitment-to-composure/

    – auf Ihre Erkenntnisse zur Prägung der Wahrnehmung durch Wahl-Behütung bin und bleibe ich gespannt…

    Fingerhut-Toast auf Nummer 5! Die trotz und wegen ihrer Blindheit dazu beitrug über die Dimensionen ihres Leben hinaus Blicke zu weiten, neue Blickwinkel zu erschließen!

    Mit herzlichen Grüßen

    Gesine
    aka Füxin (@foxeen)
    aus Textgründen (@textgruen)

  7. R.I.P.

    R.I.P. Nummer 5.

    Aber Helmut, wie kommst du denn darauf, du dürftest im bürokratischen Deutschland dein verstorbenes Haustier einfach so in den Park werfen?

    Die Bestattung von Kleintieren regelt in Deutschland das Tierkörperbeseitigungsgesetz, das Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetz und in Hessen das Hessische Ausführungsgesetz
    zum Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetz
    .

    Vielen Dank aber auf den Hinweis auf die Hüte. Beim Abstieg vom Grazer Schlossberg wurde ich aber gestern von zwei ca. 14-15 jährigen Mädels durchaus ausgekichert. Es war aber zugegebenermaßen kein Zylinder – vielleicht hätten Sie dann zu viel Angst gehabt, um zu kichern.

  8. @ Schleim / Bestattungen / Hüte

    Eieiei.

    Bin ich mal wieder mit den Bestattungsgesetzen in Konflikt gekommen. Aber eigentlich tu ich das ja dauernd – “Störung der Totenruhe” (§ 168 StGB) ist ja sozusagen des Anatomen Beruf.

    Die Sache mit den Hüten fängt an, mich sehr zu interessieren. “textgrün” hat zwei Kommentare weiter oben auf einen Aufsatz von sich verlinkt, in dem es (am Rande) auch um Hüte geht – sie versucht da anhand von Hüten über “Authentizität” nachzudenken. Im Wesentlichen sagt sie – denke ich – “le style, c’est l’homme.”

    Hüte sind spannend, weil

    a) kaum noch einer einen trägt, weswegen
    b) er die “billigste” Möglichkeit ist, ein (modisches) Statement zu machen.
    c) und weil Hüte, wie nur wenige andere Kleidungsstücke, mit Konnotationen, mit Bedeutungen versehen sind.
    d) Endlich ist es so, dass man sich unter bestimmten Hüten tatsächlich anders bewegt als unter anderen. Ein schwerer Lederzylinder fordert eine andere Gangart als eine Baskenkappe.
    c)und d) vor allem. Zu c): Baskenmütze. Prinz-Heinrich-Mütze. Panama-Hut (usf.) – alle sind mit Bedeutung geladen, haben einen Namen, eine Herkunft, stellen eine “Idee” dar. Ich habe es nicht systematisch überprüft, aber ich glaube (so aus dem Bauch heraus), dass es mehr solcher “generischer” Bezeichnungen für Hüte als für irgendein anderes Kleidungsstück gibt. Übrigens gilt das, glaube ich, nur für Männerhüte. Wenn’s stimmte, wäre das auch spannend..

    zu c.) und d.) Der Zylinder z.B. konnotiert Schornsteinfeger. Und Glück. Aber auch – Bürgertum. 19. Jahrhundert. Steampunk. Und aufrechter, bedachter Gang. Auf Windstösse achten.

    Ich denk’, ich werd mich mal an einer Ästhetik des Hutes versuchen. Ein paar Fragmente hab’ ich schon, die stell’ ich demnächst hier in das Blog.

    Viel Spass in Deidesheim!

  9. Nur auf, die Hüte!

    Ich warte gespannt auf deine nächsten Hutnummern, lieber Helmut.

    Was hältst du eigentlich von diesem Hut, den Stefan Oldenburg auf dem SciLogs-Treffen auf meinem Kopf fotografiert hat?

    Groß genug, um darunter eine Maus zu bestatten.

  10. RIP No 5

    Lieber Helmut,
    diese Labormäuse kommen ganz gut in der “freien Wildbahn” zurecht, wie kürzlich Kollegen aus NL und der Schweiz zeigten:

    Daan S, Spoelstra K, Albrecht U, Schmutz I, Daan M, Daan B, Rienks F, Poletaeva I, Dell’Omo G, Vyssotski A, Lipp HP. Lab mice in the field: unorthodox daily activity and effects of a dysfunctional circadian clock allele. J Biol Rhythms. 2011 Apr;26(2):118-29. doi: 10.1177/0748730410397645.

    Aber sonst hast Du mit allem recht!
    RIP No 5
    Erik

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