Ein paar Gedanken zum Heiligen Gral

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Vernachlässigt hab ich dich, meine liebste Bildungslücke. Entschuldige bitte. Jetzt kümmere ich mich wieder um dich.

In Vorbereitung auf einen Vortrag zum Thema „Was ist ein guter Mathematiklehrer? Und was können die Hochschulen dazu leisten?“ arbeite ich mich gerade in die Hattie-Studie [1] ein, denn: eine gute Mathematiklehrerin / ein guter Mathematiklehrer sollte ja auch eine gute Lehrerin / ein guter Lehrer sein, und die Hattie Studie ist a) zunächst fachunspezifisch und b) zurzeit (bzw. seit langem) sehr populär.

Ich hab mir auch gleich die Bücher besorgt, zunächst aber mal den zusammenfassenden kritischen Artikel von Terhart [2] gelesen. (Mit dem Schinken von Hattie hab ich angefangen, ist aber eben ein Schinken.) Ich wiederhole hier am besten nicht alle zusammenfassenden Aussagen und kritischen Punkte; hierfür ist der Beitrag von Terhart wirklich superschön zu lesen, und es gibt auch im Web jede Menge Orte, an denen bereits über die Hattie-Studie diskutiert wird (z.B. auf Google+, eine sehr niveauvolle Diskussion). Ich will auch nicht in die method(olog)ische Kritik einsteigen. Es handelt sich um eine „Metametastudie“, nämlich um eine Analyse zahlreicher (über 800!) Metastudien, in denen Effekte verschiedener Einflüsse auf den Lernerfolg beschrieben wurden. Hier lässt sich vieles grundsätzlich kritisieren, müssen wir hier jetzt aber nicht unbedingt wieder tun. Es kann festgehalten werden, dass es sich um die krasseste Metametastudie im Bildungsbereich bislang handelt, mit allen Stärken und Schwächen, die ein solcher Koloss mit sich bringt. Im Folgenden versuche ich für mich mal erste Gedanken zusammenzufassen zu der Frage: Was kann man aus der Hattie-Studie herausziehen? Wo muss man aufpassen?

Nur kurz die zentralen Ergebnisse:

  • Von den verschiedenen Faktorengruppen (childhomeschoolteachercurriculateaching approaches) ist die Faktorengruppe teacher die einflussreichste. Das heißt: Mit Innovationen im “Bereich Lehrer/in” (ganz allgemein gesprochen) kann man (im Mittel!) die größten Effekte auf den Lernerfolg der Schüler erzielen. Stark vereinfachende Aussagen wie “Auf den Lehrer kommt es an!” treffen es aber auch nicht – entscheidend ist es herauszufinden, welche Verhaltensweisen von Lehrern wie und wie stark wirken. “The important consideration ist the extent to which they do have an influence on student achievements, and what it is that makes the most difference.” (Hattie, 2009, S. 34) Terhart ergänzt auf S. 284: “Der Lehrerfaktor wirkt übrigens im Mathematikunterricht deutlich nachhaltiger als beim Lesenlernen.” Letztlich gibt Hattie also Anlass dazu, die Lehrervariable mit allen möglichen Facetten näher zu beleuchten (was nicht bedeuten soll, dass die anderen Faktorengruppen aus den Augen gelassen werden sollen; wie Lisa Rosa treffend in einer Google+-Diskussion kritisiert: Unterricht ist ein komplexes System, und die Fokussierung einzelner Faktoren wird dem nicht gerecht und birgt die Gefahr von Fehlschlüssen.)
  • Wenn man sich nun die Faktorengruppe teacher näher anschaut, dann haben u.a. microteaching (Lehrverhaltenstraining mit Reflexionen anhand von Videoaufzeichnungen; ich musste auch erst mal gucken, was das ist), Klarheit, Lehrer-Schüler-Beziehung, Weiterbildung und Qualität des Unterrichts die größten Effekte auf den Lernerfolg (by the way: was ist das eigentlich, Lernerfolg?). Hier merkt man schon, wie allgemein letztlich die Ergebnisse zusammengefasst werden: Man muss nun eigentlich erst mal genauer hingucken, was eigentlich so alles unter “Qualität des Unterrichts” fällt. Hattie nennt hier auf S. 115 einflussreiche Faktoren: teachers challenging studentshigh expectationsmonitoring and evaluation und teaching the language, love, and details of mathematics. Hattie schreibt auf S. 116: “Quality teachers, as rated by students, are those who challenge, who have high expectations, who encourage the study of their subject, and who value surface and deep aspects of their subject.” (Huch, ein bisschen stolpert man jetzt darüber, dass hier keine Lernerfolgsmessungen eingegangen sind, sondern Bewertungen durch “college and university students”. Diese Kritik wird aber von Hattie auch selbst aufgenommen und diskutiert.)  Eine zweite Gruppe von Resultaten zu “Qualität des Unterrichts” kommt durch den Vergleich von Lehrer(innen), die bei einem National Board Certification process bestanden bzw. nicht bestanden haben. Hier wird berichtet, dass die zertifizierten Lehrer die folgenden Tendenzen eher zeigen (S. 117): challenging students to thinkvaried and appropriate assignments that were demanding and engagingtesting hypotheses about the effects of their teaching,deeper understanding of their teaching and its effects on student learningsense of controlhigh levels of passion for teaching and learningdeep understanding of their subject usw. usw. So, und das waren nur die “Unterfaktoren” des Faktors “Unterrichtsqualität” der Faktorengruppe “Lehrer”… man muss wirklich genau hinsehen bei dieser Studie…
  • Interessant ist z.B., dass hier im Kontext “Unterrichtsqualität” etwas wie deep understanding of their subject als einflussreich aufgeführt wird, aber die Analyse des Faktors teacher subject matter knowledge auf Rang 125 der Faktoren als relativ unbedeutend dargestellt wird. (Terhart kritisiert auch, dass die Metastudien, die Hattie verwendet, schon teilweise relativ alt sind bzw. dass neuere Studien zur Lehrerbildung gar nicht berücksichtigt wurden. Für Mathematik interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der COACTIV-Studie, deren Ergebnisse ich auch in den Vortrag einbringen werde; mehr dazu demnächst auf diesem Kanal.)
  • Man muss genau hinschauen, auch wenn das Anliegen der Studie “Abstraktion” ist. Es hat sich für mich also tatsächlich rentiert, das Buch zu kaufen und näher nachzuschlagen… und streng genommen müsste man sogar bei Bereichen, an denen man ganz dolle interessiert ist, auch in die verwendeten Meta-Studien hineinschauen… und dann ggf. in die dort verwendeten Studien. Hattie ist ein Wegweiser und ein Anreiz, tiefer nachzuschauen. Die Verwendung der abstrahierten End-Ergebnisse ist gefährlich (siehe auch weiter unten für ein entsprechendes “gefährliches” Beispiel).
  • Die Mutter aller Abstraktionen in dem Buch ist dann letztlich auch namensgebend: Visible Learning. Das bedeutet (Terhart, S. 281): “Unterricht ist dann erfolgreich, wenn Lehrer das Lernen mit den Augen der Schüler sehen und Schüler sich selbst als ihre eigenen Lehrer betrachten.” Oder Hattie (S. 25): “What is most important is that teaching is visible to the student, and that the learning is visible to the teacher. The more the student becomes the teacher and the more the teacher becomes the learner, then the more successful are the outcomes.” Hier liest man zunächst leicht die Methode Lernen durch Lehren heraus, aber Hattie denkt eher an Feedback und Assessment: student self report grades, formative assessments, feedback. Lernfortschritte müssen sichtbar gemacht werden. Insgesamt erscheint das Bild, das Hattie zeichnet, zunächst auch sehr stark lehrerzentriert (S. 238): “Teachers need to be directive, influential, caring, and actively engaged in the passion of teaching and learning.” und “Teachers need to be aware of what each and every student is thinking and knowing, to construct meaning and meaningful experiences in light of this knowledge, and have proficient knowledge and understanding of their content to provide meaningful and appropriate feedback such that each student moves progressively through the curruiculum levels.” Ich habe den Eindruck, dass die Kritik, Hatties Unterrichtsbild sei “zu lehrerzentriert”, den Kern auch nicht trifft. Terhart schreibt passend (S. 289): “Im Zentrum steht ein Lehrer, für den allerdings seine Schüler im Zentrum stehen.” Dagegen ist eigentlich nichts einzuwenden. Und wer zu Bedenken gibt, das Lernen im Sinne Hatties sei nicht “konstruktivistisch”, der hat vielleicht nicht verstanden, dass a) Lernen immer konstruktivistisch ist und b) gerade in der Pädagogik oft auch ein “naiver, falsch verstandener Konstruktivismus” angewendet wird in dem Sinne, Schüler müssten alles selbst entdecken.
  • Interessant ist, dass Aspekte wie inquiry based teaching, problem-based learning, out of school curricula experiences, web-based learning usw., also gerade die offeneren / reformmäßigeren / “neueren”… Ansätze weit hinten in der Rangliste rangieren. Die Effekte (obwohl leicht positiv) sind im Vergleich vernachlässigbar. Was schließt man daraus? Das ist insgesamt schwierig zu interpretieren. Man muss und darf daraus nicht schließen, dass man das lieber sein lässt… eher würde ich sagen, man kann daraus schließen, dass es nicht schadet und dass man deswegen mehr Freiheit in der methodischen Entscheidung hat. (Hattie argumentiert allerdings, dass die positiven Effekte “nahe 0” eher schaden, weil Unterricht an sich im Vergleich zu “kein Unterricht” schon höhere Effekte hat. Ganz nachvollziehen kann ich diese Argumentation aber nicht, denn vermutlich wurde ja gezeigt, dass der kleine positive Effekt sich auf den Unterschied zwischen “Unterricht mit und ohne web-based learning” bezieht. Aber auch hier müsste man nun wieder genau hinsehen: wie wurde in den einzelnen Studien das Web einbezogen? Was ist überhaupt “web-based learning”? Wie wurde das methodisch eingesetzt? usw. “Gefährlich” wird Hattie in der Tat, wenn Menschen daraus das folgende lesen: “Hey, web-based learning hat keinen Effekt, also lassen wir’s.”
  • Da kommt man gleich zum nächsten Punkt: Es geht bei diesen methodischen Konzepten in der Regel nicht allein darum, eine Methode anzuwenden. Also, ich setze nicht nur das Internet in der Schule ein, weil’s ein Medium ist, sondern weil ich will, dass die Schüler lernen, mit dem Internet zu arbeiten und zu lernen. Ich setze forschendes Lernen nicht nur rein “als Methode” ein, sondern weil ich will, dass die Schüler lernen zu forschen. Ich setze problem-based learning nicht nur als Methode ein, sondern weil ich will, dass die Schüler mit offenen Problemen konfrontiert werden und lernen, mit Unschärfen umzugehen und offene Probleme zu lösen. Methoden sind ja oft nicht nur einfach Methoden, sondern forcieren die Entwicklung bestimmter Denk- und Arbeitsweisen bei Schülerinnen und Schülern. Wurde denn bei der Lernerfolgsmessung in den einzelnen Studien auch der Lernerfolg bezüglich dieser (methodischer) Kompetenzen einbezogen? Vermutlich – nein, ziemlich wahrscheinlich – nicht. Wieder einmal: Genauer hinsehen ist gefragt.

Das wären mal die ersten Gedanken zum Heiligen Gral. Demnächst mehr, ich muss erst weiterlesen. Ich würde mich natürlich über Kommentare, Hinweise und Fragen freuen, die aufzeigen, wo man noch genauer hingucken sollte… also: kommentieret fleißig! 🙂

Quellen:

[1] Hattie, J. (2009). Visible Learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. London, New York: Routledge.

[2] Terhart, E. (2011). Hat John Hattie tatsächlich den Heiligen Gral der Schul- und Unterrichtsforschung gefunden? Eine Auseinandersetzung mit Visible Learning. In E. Keiner (Ed.), Metamorphosen der Bildung. Historie – Empirie – Theorie. Festschrift für Heinz-Elmar Tenorth (S. 277-292). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

 

Alles hat damit angefangen, dass Christian Spannagel mal gerne Lehrer werden wollte. Für Mathe und Latein. Man hat ihm damals abgeraten, weil es keine Stellen gibt und so. Stattdessen hat er Informatik studiert (was ihm auch Spaß gemacht hat). Irgendwie ist er trotzdem in den Bildungsbereich geraten. Zur Computernutzung beim Lernen und Lehren promoviert, zunächst an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg in der Mathematik- und Informatiklehrerausbildung tätig, nun Professor für Mathematik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Inhaltlich beschäftigt er sich zudem mit Informatikdidaktik, E-Learning und öffentlicher Wissenschaft. Gerne schaut er über seinen Tellerrand (vielleicht hat sich ja eine Pommes verflüchtigt). In diesem Blog wird er sich allgemein mit Bildungsfragen befassen - da gibts viel zu sagen, und zwar aus ganz verschiedenen Perspektiven: Pädagogik, Psychologie, Fachdidaktiken, Neurodidaktik, Bildungspolitik, Schulpraxis, Hochschuldidaktik, E-Learning, ... (bitte ergänzen Sie die Liste durch drei weitere Disziplinen und begründen Sie Ihre Wahl!) Ach ja: auf Twitter ist er als @dunkelmunkel zu finden. Follow me! :)

6 Kommentare

  1. Warum der Mathe-Lehrer wirchtig ist?

    Mathematikbegabung und errreichte Mathematikkompetenz scheinen nur mittelstark mit dem in Tests ermittelten IQ zu korrelieren. Vielmehr ist die Bereitschaft sich mit der Materie überhaupt auseinanderzusetzene bei den in Mathe Erfolgreichen grösser. Mit anderen Worten: Auch in Mathe Erfolgreiche müssen sich oft durchbeissen und sind darum erfolgreicher, weil sie eher bereit sind, diese Anstrengung auf sich zu nehmen.

    Das wiederum erklärt, warum der Mathematiklehrer und seine Haltung zum Schüler und Lernen enorm wichtig sein kann gerade für Schüler, die sich nicht sonderlich zu dieser Art der geistigen Auseiandersetzung hingezogen fühlen, die die Mathe eigentlich erfordert.

    Eigentlich würde es mich nicht verwundern wenn es in der heutigen Zeit mit heutigen Schülern sogar schwieriger als noch vor 10, 20 Jahren wäre Mathe zu vermitteln, denn die Tendenz in unserer Gesellschaft, – vermittelt auch durch die neuen Medien, die Art wie man Fragestellungen mit Google, Wikipedia etc. löst und das Gaming – geht eher in Richtung schnelles Reagieren/Assoziieren. Die Lehrpläne wiederum scheinen mir immer stärker sprachlich orientiert zu sein. Und die Art und Weise wie man sich mit Mathe auseinandersetzen muss ist meiner Ansicht nach eben gerade eine andere als es in den Sprachen der Fall ist.

    Eigentlich besteht aber heute immer noch die gleiche gesellschaftliche Grundeinstellung zur Mathematik wie seit eh und je. Mathematische Begabung wird als nicht nötig eingestuft und Leute mit solcher Begabung werden als Nerds betrachtet. Bei vielen Erwachsenen ist eine mathematischen Kompetenzen in Tests und praktischen Aufgabenstellungen, in keiner Art und Weise festzustellen.
    Dies beschreibt die Professorin für Lern- und Lehrforschung Elisabeht Stern im Artikel Mythos Mathematische Begabung, wo sie von einem Viertel der Bevölkerung spricht, welche über keinerlei mathematische Kompetenz verfüge.

    Die Ansicht vieler stolzer Mathe-Ignoranten, Mathe habe nichts mit dem Alltag zu tun, hat schon eine gewisse Berechtigung, denn sprachliche Phänomene sind omnipräsent, mathematische aber muss man suchen. Um ein Beispiel zu geben: der obige Begriff “Visible Learning” ist nur als sprachliches Phänomen nicht als mathematisches Phänomen nachvollziehbar. Zwei-Worte Begriffe wie “Visible Learning” haben scheinbar eine grosse Suggestivkraft und Attraktivität, auch wenn sich dahinter etwas verbirgt, was nur eine indirekte Beziehung zum wörtlich genommenen Begriff hat. Solche Begriffe können die meisten von uns praktisch on-the-fly in ihre Denkmodelle integrieren. Mit mathematischen Konzepten geht das aber nicht.

  2. gefährliches Teufelszeug

    Die Hattiestudie ist der natürliche Feind des Lernbegleiters und natürlich des Lernbegleiterausbilders und des Lernbegleiterausbildungskommentierers.

    Alles lief so wunderbar in Richtung eines Konglomerats gutmenschlicher, erleichterungspädagogischer aber auch neoliberaler Vorstellungen wie:
    “Die Großen bringen es den Kleinen bei”,
    “Es ist sowieso besser, wenn sich jeder alles selber beibringt, am besten im Internet”,
    “Der von Fachwissenschaft möglichst unbelastete Lernbegleiter ist das ultimative Lehrermodell der Gegenwart und der Zukunft”,
    “Jeder macht was er will, keiner macht was er soll und alle machen mit”.

    Dann kommt dieser Hattie und auf einmal sind sie wieder da diese Ideen, die doch eigentlich längst der Vergangenheit angehören sollten. Das kann doch nur Lehrerzentrierung und Schülerdrangsalierung bedeuten. Der Mann kommt ja auch vom anderen Ende der Welt. In Deutschland würde sich heute niemand trauen, zu solchen Ergebnissen zu kommen und diese dann auch noch zu veröffentlichen. Da muss man doch was gegen tun können. Ein Mittel ist schnell gefunden: Aussitzen, Ignorieren und jetzt besonders laut die politisch korrekten Parolen rufen: Wir brauchen Lernbegleiter und keine Lehrer, ohne Projekt kein Lernen, stellt Videos ins Netz und Lernen läuft von allein.

    Den einen oder anderen beschleicht dann aber doch ein Gefühl des Unwohlseins: Was wenn der Hattie doch Recht hat?
    Da schauen wir doch mal genauer hin. Irgendwo werden ihm schon Fehler anzuhängen sein. Irgendwie werden wir das schon noch relativieren können, Coactiv sah ja zunächst auch böser aus als es heute rüber kommt.
    Ah da haben wir ja schon was. Es kann ja wohl nicht sein, dass Lernen mit dem Internet so geringfügig zu gewichten ist. Da übersieht der Hattie doch tatsächlich, dass man das Internet ja auch als Lerngegenstand sehen kann und muss. Freunde passt auf, wenn Ihr den Hattie zu ernst nehmt, lauern gewisse Gefahren: Es könnte sein, dass Ihr die wichtigsten Lerngegenstände nicht mehr erkennt. Immer die Packungsbeilage lesen!
    Jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand wird doch wohl erkennen, dass gewisse Techniken des Umgangs mit modernen Medien zur Ausbildung in der Schule gehören sollten. Inwiefern diese Techniken dann aber auch als Methode den Lernerfolg sichern, ergibt sich nicht allein aus dieser Methode.

    Es ist sicherlich sinnvoll gewesen, den Taschenrechnereinsatz in den Mathematikunterricht einzuführen. Die wenigsten Lehrer sind jedoch in der Lage, den Unterricht so zu gestalten, dass der Taschenrechnereinsatz langfristig zu Lernerfolgen hinsichtlich eines Mathematikverständnisses führt. Allein aus der Methode Taschenrechnereinsatz ergibt sich nichts außer einer unzureichend ausgebildeten Fähigkeit mit Überschlägen umzugehen und eines zu geringen Verständnisses für Größenordnungen.

    Sicher ist Lernen und Unterricht ein komplexer Prozess, in dem verschiedene Faktoren eine jeweils mehr oder weniger wichtige Rolle für den Lernerfolg spielen. Der wichtigste Faktor ist und bleibt jedoch der Lehrer. Jeder, der sich in der Praxis intensiv um die Schüler bemüht hat, weiß das. Für ihn ist Hattie nichts weiter als die Bestätigung einer Binsenweisheit.

  3. Mal auf

    Meta-Meta-Meta-Niveau (vs. ‘Metametastudie’) formuliert:

    Das Lernen folgt der Lehre, wobei diese nicht maßgeblich ist, sondern bestenfalls anleitet bei der Ressourcensuche das Lernen betreffend wie auch die Skepsis betreffend.

    Die Didaktik, hier gar die mathematische, stößt denn an Grenzen oder gar schnell an Grenzen, die ihren relativen Wert nachweisen oder nachzuweisen in der Lage sind.

    Wg. Komplexität oder auch der Selbstreferenzialität bleibt demzufolge die Didaktik oder Pädagogik ein hartes Brot und Moden unterworfen.

    MFG
    Dr. W (der’s aber auch anders, drastischer formulieren könnte)

  4. Hattie denn kein Ergebins, diese Studie?

    Doch, hat sie.
    Ein “Problem” in der Veröffentlichung der Studienergebnisse sehe ich darin, dass nun jeder das herausliest, was ihm gerade zu Passe kommt.
    Die Frontalunterricht-Befürworter schreien: “Seht ihr! Haben wir doch immer gesagt” und missdeuten die Ergebnisse in ihre Richtung. Die Frontalunterrichts-Gegner kritisieren die Studienmethodik, weil ihnen das für sie ach so rückwärtig anmutende Ergebnis nicht passt.
    Mein damaliger Mentor (und nun Freund) hat mir auf den Weg gegeben, dass Vielseitigkeit der Schlüssel zum Lehrerfolg ist. Nutze die Methode, die am besten passt und nutze die Medien, die am besten passen – dann klappt’s auch mit dem Nachbarn, ähm.. Verzeihung… mit den SchülerInnen.
    Woher wissen die Lehrenden nun was “am besten passt”? Nun, indem sie es ausprobieren, ausprobieren dürfen! Und zwar ohne gleich an den einen oder anderen Pranger gestellt bzw. in die eine oder andere Schublade gesteckt zu werden.
    Dafür brauchen sie pädagogische Freiheit und die notwendige Zeit. Gebt den Lehrenden dies zurück (was ihr ihnen vor einigen Jahren sukzessive gestohlen habt) und der Unterricht wird richtig gut.
    Doch dies wird nicht passieren, denn das kostet Geld. Und da liegt der Knackpunkt. Solange man nicht bereit ist, für gute Bildung auch gutes Geld auszugeben und zwar auf öffentlicher Ebene, nicht in Privatschulen, wird sich nichts Grundlegendes ändern und wir arbeiten täglich an der Verwaltung der rahmenbedingten Mängel.
    Gott sei Dank gibt es viele engagierte und gute Lehrer und Dozenten, sonst ginge hier gar nichts mehr.
    In diesem Sinne, einen schönen Abend!

  5. Kommentar

    Ich fange einfach an, die Frage am Anfang des Textes zu beantworten. “Was ist ein guter Mathelehrer?”
    Ein “guter” Mathelehrer ist einfach nur derjenige, der nach seinem Lehrerdasein immer einmal wieder freundliche Worte von ehemaligen Schülern erfährt. Ob man das Lehrersein aus Studien lernen kann, bezweifele ich. Der Hauptanteil spielt sich im zwischenmenschlichen Bereich ab. Nicht “Mathe beibringen” ist das Anliegen, sondern “bei der Mathematik helfen, Ängste nehmen” – dann kommt der Erfolg von alleine.

    Zuerst arbeitet man an einem Problem und lässt alle möglichen Lösungswege zu. Die sind aber auf unterschiedlichem Niveau und bei den “schwächeren” oft umständlich und zeitraubend. Deswegen sehen die Schüler ein, dass wir uns auf eine Methode einigen. Die ich mir als Lehrer aussuche. Das ist keine Gängelung oder Einschränkung, das ist eine Hilfsmaßnahme. Jetzt können wir alle nach einem Schema üben. Alleine, untereinander, mit meiner Hilfe…

    Ganz wichtig ist auch, dass die Schüler bewusst erfahren, wie ich als Lehrer an so eine Aufgabe herangehe. wo ich zuerst hinschaue, was ich abchecke, ob ich mir eine Skizze mache usw., denn Schematismus ist nichts verwerfliches, wenn man ihn als Hilfsmittel bewusst akzeptiert. Dann erzähle ich, wie ich selbst als Schüler mit der Mathematik umgegangen bin. Meine Devise: Nicht zeitintensiv üben, sondern immer mal schauen, “ob ich es noch kann”. Eine Gleichung vor dem Schwimmbadbesuch, eine vor dem Abendessen. Immer auf dem neuesten Stand sein und trotzdem das Gefühl zu haben, dass man Freizeit hat und faul sein kann. Denn bei uns gab es die Klassenarbeiten ohne jede vorherige Ankündigung.
    Was noch wichtig ist, ist der “rote Faden”. Was will der Lehrer und wo soll es hingehen? Allmählicher Aufbau ohne Sprünge.

    Ich war 39 Jahre lang Mathelehrer im H/R-Bereich. Darum wurde in 2010 mein Einsatz in einer G 10 von den Eltern skeptisch aufgenommen. Aber sie und ihre Kinder haben mich nach dem Schuljahr dankbar verabschiedet.

  6. Erhebung von Studien, zu Erwartendes

    Sie möchten nicht in die method(olog)ische Kritik einsteigen, trotzdem ein Gedanke dazu (da von solchen Studien ja immer politische Entscheidungen abhängen):

    Ich habe als Grundschullehrer in Bayern drei Studien der Universität in eigenen und fremden Klassen (teilweise über 4 Jahre) miterlebt; mein Eindruck war, dass sie nicht das Papier wert waren, auf das sie gedruckt wurden.

    Ich gebe aus Zeitgründen nur ein Beispiel: In allen Studien wurde wegen des Datenschutzes nicht schülerbezogen erhoben, sondern klassenweise; in der 4-Jahresstudie bedeutete das, dass am Ende der Studie 15 Kinder nicht über die ganzen 4 Jahre in der Klasse waren, 4 von den neuen Schülern kamen praktisch ohne belastbare Deutschkenntnisse. Es spielte auch keine Rolle, wer an den Prüfungstagen krank war (obwohl das – etwa beim Rechtschreiben – 30 Fehler ausmachen konnte, je nachdem, welcher Schüler fehlte). Meiner Kritik wurde mit dem Hinweis begegnet, das alles sei ja nur Teil einer größeren Studie und werde dann schon verrechnet.

    Gut, die Studien wurden anderswo gemacht, deshalb noch eine weitere, grundsätzliche Überlegung:

    Lernerfolg an sich (bei einem einzigen Kind, mit einer einzigen Methode, bei einem einzigen Lehrer, in einem einzigen Fach, Thema, Klasse, sozialen Umfeld etc.) ist schon nicht einfach zu messen. 2 Methoden (oder was auch immer) miteinander vergleichen, ja auf Kommastellen bewerten zu wollen hinsichtlich des Lernerfolgs, ist ein Witz, eine solche Laborsituation existiert einfach nie. Es hängt nicht nur von der Methode (oder was immer) an sich ab, sondern vom Lehrer, den Kindern, der Vorerfahrung, der sozialen Struktur in der Klasse, der Eignung des Themas und und und… und jede dieser Variablen ist in sich selbst nicht statisch, sondern dynamisch und von den jeweils anderen Variablen beeinflussbar (und so hin und her)

    Man kann natürlich trotzdem hergehen und fragen, welche Ergebnisse einem plausibel erscheinen, daher ein paar Einschätzungen nach 20 Jahren Lehrzeit (dass die Aussagen der Studie teilweise mit meinen Einschätzungen übereinstimmen, ändert am oben Gesagten nichts, jeder liest aus einer solchen Studie das heraus, was seinen Erfahrungen entspricht)

    Webbasiertes Lernen bringt nicht viel? Nein, sofern der Lehrer wenig damit anfangen kann und es nicht mag, die Situation es nicht erfordert, die Gruppe nicht richtig zusammengesetzt ist, das Thema doch nicht geeignet ist und und und. Es reicht aber oft auch schon, die Lernziele ein wenig umzufokussieren.

    Kleinere Klassen bringen eher wenig? Das ist nachvollziehbar. Nicht die Größe einer Klasse ist das Problem, sondern die Anzahl der “Störer”. Da gute Lehrer auch mit mehreren Störern klarkommen (mehr oder weniger), ist das Ergebnis erwartbar.
    In kleineren Klassen ist die Wahrscheinlichkeit von vielen Störern ein wenig (!) geringer, und dieses Wenige ist für die kleinen Vorteile von kleinen Klassen verantwortlich. (Übrigens: für die Grundschule fände ich es sogar sinnvoll, zwei Klassen zusammenzulegen und dafür auch zwei Lehrer ständig in einer Klasse zu haben, die sich gut ergänzen)

    Lehrerzentrierter Unterricht ist effektiv (sofern der Lehrer meist die Klappe hält und sein Fach liebt)? Ja, natürlich, und je mehr es um einfach abfragbare Ergebnisse geht, desto klarer kommt das heraus, weil der Lehrer ja (per definitionem) der ist, der (mindestens einen Tag vorher) weiß, worum es geht.

    Offener Unterricht/entdeckendes Lernen bringt nicht so viel? Klar, denn meiner Lehrergeneration wurde eingebleut, jeder Pfurz müsse von jedem Kind entdeckend gelernt werden. Das ist aber nicht so: die Aufgabe eines Lehrers ist es (auch), für das jeweilige Thema in der jeweiligen Klasse etc. die richtige Art der Vermittlung zu finden, und da gibt es wenige Patentrezepte (außer dem, dass man etwas, das man als Lehrer nicht mag oder nicht richtig beherrscht, auch nicht richtig rüberbringt).

    Der Lernerfolg steigt ins Unermessliche, sobald der Lehrer sein Tun mit den Augen der Schüler betrachtet? Ja klar, meist genügt es sogar schon, einmal seinen Schülern in die Augen zu blicken, dann merkt man, ob sie dabei sind, etwas verstehen, interessiert sind etc. Wenn man dann noch so frei ist und so gut (ausgebildet), um sofort an einigen Stellschrauben drehen zu können, dann klappt das auch.

    Hausaufgaben bringen in der Grundschule wenig? Ja, stimmt, das liegt mit daran, dass die Eltern den Grundschulstoff noch halbwegs kapieren und hoffen, mit guten Hausaufgaben kommt ihr Kind aufs Gymmi; solange Eltern nicht kapieren, dass Kinder Fehler machen dürfen (aus denen lernt nämlich auch der Lehrer) und die Korrektur schweigend selbst übernehmen (und solange HA nur das wiederholen, was schon im Unterricht nicht klarwurde!), wird sich da auch nichts ändern.

    “Der Lehrerfaktor wirkt übrigens im Mathematikunterricht deutlich nachhaltiger als beim Lesenlernen”. Sorry, aber über welchen Teil des Mathematikunterrichts wird hier geredet? Das Einmaleins? Dann hätte ich es so nicht erwartet. Mathe (in der GS) allgemein? Ja klar! Ich kenne (viele) Lehrerinnen, die nicht einmal eine schwere Matheaufgabe der 4. Klasse lösen können, geschweige denn flexibel genug sind, ein mathematisch-didaktisches Problem aus mehr als aus einem Blickwinkel zu sehen. Und Lesen (bis zu einem gewissen Grad) kann jeder Lehrer, und Kinder lernen es mit jeder Methode (leichter oder schwerer, aber irgendwie geht es), das haben die letzten 100 Jahre bewiesen.

    Ich könnte noch stundenlang so weitermachen, sagen Sie, wenn es Sie interessiert.

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