Pfingsten und Pfingstbewegung

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die Psychologie irrationalen Denkens
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Kaum die Hälfte der Deutschen wusste bei einer Umfrage aus dem Jahr 2009 zu sagen, was an Pfingsten eigentlich gefeiert wird. Und noch weniger Deutsche wissen vermutlich, welche christliche Glaubensrichtung mit dem Stichwort Pfingstbewegung gemeint ist. Dabei gewährt gerade der erstaunliche Erfolg der Pfingstbewegung einen hervorragenden Einblick in die psychologischen Ursachen der Entstehung von Religionen.

Das Pfingstfest wird in der Apostelgeschichte der Bibel so geschildert:

„Und es erschienen ihnen [den Aposteln] Zungen wie von Feuer, die sich verteilten, auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“ (Apostelgeschichte 2,3 – 2,4)

Die Anhänger Jesu waren zum jüdischen Schawuot-Fest zusammengekommen und hatten nach dem traumatischen Erlebnis der Kreuzigung und der Auferstehung noch keine großen Ambitionen zum Missionieren. Das änderte sich jetzt. Petrus hielt eine feurige Rede und bekehrte gleich dreitausend Menschen. Angeblich hörte ihn jeder in seiner eigenen Sprache reden. Später am Nachmittag heilte er einen Gelähmten und bekehrte weitere zweitausend Menschen mit einer Rede vor dem Tempel. Den Priestern und Schriftgelehrten gefiel das nicht besonders und die Tempelwächter nahmen ihn und seinen Begleiter Johannes in Haft. Am nächsten Morgen mussten die Schriftgelehrten und Priester die beiden wieder freilassen, denn Missionieren war nicht strafbar. Sie forderten lediglich, Petrus und Johannes sollten das Predigen unterlassen, was die beiden feierlich ablehnten. Also kehrten sie zu den anderen Aposteln zurück und beteten.

„Als sie gebetet hatten, bebte der Ort, an dem sie versammelt waren, und alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt, und sie verkündeten freimütig das Wort Gottes.“ (Apostelgeschichte 4,31)

Die Pfingstbewegung

Die Pfingstbewegung und verwandte Strömungen werden auch als charismatische Bewegung bezeichnet. Dabei steht der Begriff Charisma für die Gaben, die der Heilige Geist an fromme Christen verteilt. Die Pfingstbewegung feiert die Gottesdienste mit Gesängen und Tänzen, wobei ekstatische Zustände ausdrücklich erwünscht sind. Wenn jemand in Zungen redet und von Visionen überwältigt wird, so sehen die Gemeinden das als Zeichen, dass der Heilige Geist ihn erfüllt hat. Dazu gehört das Zungenreden, aber auch Krankenheilungen, Erkenntnis, Wundertaten oder Zukunftswissen.

Was ist überhaupt Zungenreden, oder, wie der Fachausdruck lautet: Glossolalie? Anders als die Apostelgeschichte nahelegt, handelt es sich nicht um die plötzliche Beherrschung von Fremdsprachen. Vielmehr stammeln die Zungenredner unverständliche Silben, die hinterher ausgelegt werden müssen. Die Wortfetzen sind Bestandteile ihrer eigenen Sprache. Wenn Russen zungenreden, klingt das anders als bei Amerikanern. Die Betroffenen haben das Gefühl, die Laute stammten nicht von ihnen, sondern seien ihnen von außen eingegeben. Und sie sind überzeugt, dass die ihnen selbst unverständlichen Worte von großer Bedeutung sind. Das Phänomen ist aus den verschiedensten Religionen bekannt.

Die Pfingstbewegung und verwandte charismatische Bewegungen sind der am schnellsten wachsende Zweig des Christentums: Seit ihren Anfängen zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts in den USA haben sie nach vorsichtigen Schätzungen ca. 400 Millionen Anhänger gefunden, viele davon in Afrika, wo die Pfingstbewegung sehr aggressiv missioniert. In Deutschland hat die Pfingstbewegung nicht mehr als ca. 300.000 Anhänger, also weniger als 0,5% der Bevölkerung. Viele Mitglieder der Gemeinden bestehen auf einer wörtlichen Auslegung der Bibel. Wenn das Pfingsterlebnis wörtlich zu nehmen ist, muss auch der übrige Text richtig sein, so argumentieren viele von ihnen. Das ist natürlich Unsinn, die Glossolalie beweist nicht die buchstäbliche Wahrheit des biblischen Pfingsterlebnisses. Und selbst wenn die Bibel es korrekt beschrieben hätte, müssten damit die übrigen Teile nicht unbedingt richtig sein.

Viele Pfingstgemeinden vertreten die Idee, dass Reichtum und Gesundheit als Gottesgaben zu betrachten sind, die Gott seinen Auserwählten sozusagen als Vorgriff auf das Paradies schon im Diesseits zukommen lässt. Wer reich ist, hat also Gottes Segen, und wer arm ist, von dem hat Gott sich abgewandt und lässt es ihn spüren. Eine ähnliche Auslegung findet sich allerdings schon im Calvinismus, der auf den französischen Reformator Johannes Calvin (1509-1564) zurückgeht.

Wissenschaft und mystische Erlebnisse

Der Radiologe Andrew Newberg überprüfte im Jahre 2006 die Veränderungen in der Hirndurchblutung bei fünf Frauen mit Glossolalie aus einer Pfingstgemeinde. Er fand, dass der hinter der Stirn gelegene präfrontale Cortex während der Glossolalie deutlich schlechter durchblutet wurde. Genau dieser Bereich aber vermittelt dem Bewusstsein das Gefühl, die eigenen Handlungen zu kontrollieren. Offenbar schalten die Menschen beim Zungenreden diesen Bereich ab und überlassen das Reden den mehr oder weniger ungerichteten Impulsen des Unterbewussten. Mystiker aller Religionen vermögen das Gefühl göttlicher Nähe oder der Verschmelzung des Ich mit dem Universum nach jahrelanger Übung auch willentlich hervorzurufen. Deshalb sind sie nicht geisteskrank, Mystiker sind eher ausgeglichener und „normaler“ als andere Menschen.

Epilepsien

Die norwegischen Ärzte Bjørn Åsheim Hansen and Eylert Brodtkorb haben im Jahre 2003 elf Fälle von Schläfenlappenepilepsien mit eindrucksvollen mystischen Erlebnissen zusammengetragen2. Eine Patientin berichtete, dass ihre Anfälle damit begannen, dass sie den Geruch von Sägemehl wahrnahm. Dann sah sie sah ein typisches, immer gleiches Bild von sich selbst als Kind in einer Überlagerung ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ihr Großvater, den sie sehr mochte, kam auf sie zu und versuchte ihr eine Botschaft zu übermitteln, die sie aber niemals festhalten konnte. Die Szene war von einem intensiven Gefühl der Freude begleitet, dass sie so lange wie möglich erhalten wollte. Manchmal konnte sie den Anfall selbst hervorrufen, wenn sie sich an den Geruch von Sägemehl erinnerte. Die Erscheinungen verfolgten sie seit ihrer Kindheit, aber erst im Alter von 39 Jahren, als ein Krampfanfall hinzukam, wurde die Diagnose Epilepsie gestellt. Unter einer Therapie mit entsprechenden Medikamenten verschwanden Krampfanfälle und Erscheinungen.

Eine andere Patientin hatte während der Anfälle das Gefühl, in zwei Welten zu sein. Sie hörte eine fremdartige, unirdische Melodie, während sie gleichzeitig die normale Welt weiterhin wahrnahm. In ihrer Vorstellung begegnete sie einer weisen Frau, die ihr ohne Worte den höchsten Zweck ihres Daseins mitzuteilen versuchte. Sie bekam nie heraus, was es war, aber es hatte mit Kindern zu tun. Sie fühlte jedoch, dass die Botschaft von allerhöchster Bedeutung war. Manchmal setzte sie die Dosis ihrer Medikamente herab, um die Anfälle erneut ausbrechen zu lassen und die Botschaft endlich zu verstehen.

Die meisten der befragten Patienten bezeichneten die Erlebnisse während ihres Anfalls als „unbeschreibliches Wohlgefühl“. Sie seien im Grunde mit Worten überhaupt nicht zu fassen.

Das Phänomen der epileptischen Ekstase ist lange bekannt, und ebenso lange wird diskutiert, ob es nicht maßgeblich zum Entstehen der Religionen beigetragen hat. Epilepsien sind vergleichsweise häufig, etwa fünf Prozent aller Menschen erleiden im Laufe ihres Lebens wenigstens einen Anfall. Haben also die zungenredenden Menschen in den Messen der Pfingstgemeinden epileptische Anfälle? Der amerikanische Psychologe Michael Persinger entwickelte in den achtziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts die viel beachtete Hypothese, religiöse Ekstasen und mystische Vereinigungserlebnisse könnten durch eine Art Mikroepilepsie im Schläfenlappen ausgelöst werden. Weil manche Menschen dafür anfälliger sind als andere, kommen diese Erscheinungen nicht bei allen Menschen vor.

In jedem Fall kann schnelle rhythmische Musik, rhythmisches Tanzen, aber auch exzessives Fasten und Meditieren das Gehirn aus dem Gleichgewicht bringen. Es produziert dann falsche Eindrücke, ähnlich einer Kamera, auf deren Linse direktes Sonnenlicht fällt. Ein ekstatischer Zustand ist also eine Fehlreaktion des Gehirns unter bestimmten künstlichen Bedingungen. Daraus lässt sich keinerlei Wahrheit oder Unwahrheit erschließen.

 

Literatur

[1] Newberg AB et al. (2006) The measurement of regional cerebral blood flow during glossolalia: A preliminary SPECT study. Psychiatry Research: Neuroimaging 148, 67-71.

[2] Hansen BA, Brodtkorb E (2003) Partial epilepsy with ‘‘ecstatic’’ seizures. Epilepsy & Behavior 3, 667-673.

[3] Persinger MA (1983) Religious and mystical experiences as artifacts of temporal lobe function: a general hypothesis. Perception Motor Skills 57, 1255-62.

Der Blog-Beitrag enthält einige stark gekürzte Ausschnitte aus meinem Buch Magisches Denken, in dem ich diese Themen sehr viel ausführlicher behandle.

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Veröffentlicht von

www.thomasgrueter.de

Thomas Grüter ist Arzt, Wissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er lebt und arbeitet in Münster.

12 Kommentare

  1. Zungenrede ist nicht Christsein

    Am Anfang des Artikels steht der irreführende Satz: ‘Dabei gewährt gerade der erstaunliche Erfolg der Pfingstbewegung einen hervorragenden Einblick in die psychologischen Ursachen der Entstehung von Religionen’. In dem Artikel geht es aber nicht um das Christentum, sondern ausschließlich um das Phänomen der ‘Zungenrede’. In dem Artikel werden nicht die psychologischen, sondern die neurologischen Ursachen dieser Erscheinung dargestellt. Dies betrifft jedoch nicht das Christentum als solches. Wie in dem Artikel richtig dargestellt ist, ist die Zungenrede der Charismatiker nicht die in der Bibel beschriebene Rede in fremden Sprachen. Auch sonst entsprechen die aufgeführten Merkwürdigkeiten der Charismatiker nicht biblisch, christlicher Lehre. Man kann also hier nicht sagen, dass Einblick in die psychologischen Ursachen der Entstehung von Religionen gegeben wird, sondern es wird Einblick in die Einstehung muystischer Phänomene gegeben. Gerade das Christentum ist in diesem Sinn weniger eine Religion, sondern eine bodenständige Sache für den Alltag. So ist z.B die Anweisung, dass der Mensch sich seinen Lebensunterhalt erarbeiten soll Bestandteil christlicher Lehre.

  2. @Reinhard Schmidt

    Sie haben ganz recht, Zungenreden ist nicht Christentum. Es erklärt auch nicht den Erfolg des Christentums. Aber die schnelle Ausbreitung der Pfingstbewegung und anderer charismatischer Religionen hat ihre Ursache nicht zuletzt in der Ekstase und im Zungenreden. Das ist zwar ein neurologisches Phänomen, aber es erhöht die Glaubwürdigkeit der Religion, was wiederum ein psychologisches Phänomen ist. Wenn sonst völlig normale Menschen während des Gottesdienstes offenbar eine Art direkten Draht zu höheren Wesen haben, wirkt das schon beeindruckend. Und natürlich verstärkt es den Eindruck der Menschen, es gäbe neben der materiellen Welt eine geistige Welt. Mehr dazu können Sie in meinem letzten Blogbeitrag und der anschließenden lebhaften Diskussion lesen.

  3. @Reinhard Schmidt – Bodenständigkeit

    “Gerade das Christentum ist in diesem Sinn weniger eine Religion, sondern eine bodenständige Sache für den Alltag.”

    Kann man das so sagen? Ich bin eher der Ansicht, dass das Christentum durchaus eine mystische Religion ist. Die Apokalypse des Johannes ist ja eine dieser Visionen, in der das Gehirn in ähnlicher Form manipuliert wird wie beim Zungenreden. Auch wenn das Mystische im Christentum in den letzten 200 Jahren vor allem durch die Aufklärung stark zurückgedrängt wurde, findet man sie heutzutage durchaus noch in verschiedenen Klöstern, bei denen Mönche meditieren und beten (bspw. Litaneien) und dadurch in andere (angeblich erweiterte) geistige Zustände versetzt werden. Die als Verbindung zu Gott erwartete Erhöhung des Geistes ist also durchaus ein übliches mystisches Phänomen im Christentums, auch wenn der bei den normalen Anhängern weitgehendst verloren gegangen ist und sich inzwischen auf das klösterliche Leben beschränkt.

  4. Religion, Erlebnis, Welterklärung

    Drogenerlebnisse, Rausch, Ekstase können und werden of religiös interpretiert als Kontaktaufnahme mit einer anderen Wirklichkeit. Religion erfüllt aber auch andere Bedürfnisse, zum Beispiel den, den eigenen Lebensentwurf in einen grösseren (göttlichen) Plan zu integrieren. Deshalb kennen viele Religionen Schöpfungsgeschichten und/oder Genealogien, die das Heute aus dem Gestern erklären und den Weg zum Morgen bereits einschliessen. Dies ist Sinnstiftung durch Schaffung einer Kontinuität.
    In gewissen Sinn scheinen die beiden Bestrebungen – das Streben nach direktem Erleben des Göttlichen und das Streben nach einer “vernünftigen” gottesgefälligen Lebensführung – konträr. Doch letztlich decken sie beide menschliche Grundbedürfnisse ab und die sind oft konträr.

    Beiden gemeinsam – dem zum göttlich/sakral erklärten Irrationalem und dem zum göttlich/fromm erklärten rationalen Weg durch das Hier und jetzt – ist aber die Erdung im religiösen Glauben, im Vertrauen in das eigene Erleben oder das eigene Tun und ein solches Vertrauen und ein solcher Glauben lässt sich besser aufbauen, wenn wir in eine (religiöse) Gemeinschaft eingebettet sind. Die Glaubensgemeinschaft stützt jeden Einzelnen, denn sie bestätigt, dass wir – im Fall des Ekstatischen – nicht auf einem einsamen Tripp ins Nirgendwo sind und bestätigt – im Fall des rechten/frommen Lebenswegs – dass wir uns nicht für eine Illusion anstrengen, sondern Teil sind einer Anstrengung die viele auf sich nehmen. Und was viele gemeinsam tun wird sinnhaft auch wenn es allein getan fragwürdig erscheint.
    Religionsgemeinschaften wirken also als Integrator. Sie bündeln und sozialisieren Impulse und Lebensentwürfe.

  5. “Ein ekstatischer Zustand ist also eine Fehlreaktion des Gehirns unter bestimmten künstlichen Bedingungen.”

    -> Nein, es ist keine Fehlreaktion. Es ist nur eine Reaktion unter vielen anderen. Eine Fehlreaktion ist es nur, wenn man von einer irgendwie vorrausgesetzten Normalität ausgeht (was man ja leider auch tut). Die vielen zur Diagnose verfügbaren psychischen Störungen sind Beispiele der Abweichung von der zugrundegelegten Normalität des Verhaltens und der Gehirnfunktionen…

    Sich vorzustellen, dass diese zugrundegelegte Normalität nicht existiert und eine variabilität der Funktionen des Gehirns (und in Folge der Veränderungen des Bewusstseins) geben könnte, ist bisher kaum populär. Das “Normale” ist uns lieber, weil durch die allseits bekannte Normalität (durch Konditionierung) es uns das Leben berechenbarer macht, was uns im Leben von Extern begegnet.

  6. @Chris

    Die Ekstase und das Zungenreden sind in der Tat eine Fehlfunktion. Das Gehirn reagiert nicht mehr adäquat auf äußere Reize, und auch die Steuerung der Motorik ist nicht mehr sinnvoll.

    Obwohl das Gehirn nicht schläft und nicht betäubt ist, könnte es auf Ansprache von außen oder auf eine Bedrohung nicht richtig reagieren. Gehirn und Umwelt stehen in einer ständigen Wechselwirkung, die aber in diesem Moment gestört ist. Deshalb spreche ich von einer Fehlfunktion.

  7. @ Thomas Grüter @ Chris

    @ Grüter @ Chris
    Chris hat recht. „Die Ekstase und das Zungenreden sind in der Tat eine Fehlfunktion“ – das ist nur richtig, wenn man eine richtige Funktion von irgendeinem dem momentanen Vergnügen entgegengesetzten Ziel her definiert – von der langfristigen Summe des Glücks für das Individuum selbst über die Fitneß im darwinistischen Sinn bis zur Erhöhung des Profits dessen, dem man seine Arbeitskraft verkauft hat. Aber wenn das Ziel ist, für eine gewisse Zeit einen höchst angenehmen Zustand zu erreichen, dann sind weder Alkohol noch eine andere Droge noch eine mystische Praxis, die ähnliche Wirkungen hat, dysfunktional: sie erfüllen ja die Funktion, die sie haben sollen.

  8. Fehlfunktionen nicht nur in der Religion

    Thomas Grüter scbreibt’Die Ekstase und das Zungenreden sind in der Tat eine Fehlfunktion’, während andere Schreiber meinen, dass es keine Fehlfunktion gibt, sondern es nur eine Frage der Definition ist. ‘Das Gehirn reagiert nicht mehr adäquat auf äußere Reize, und auch die Steuerung der Motorik ist nicht mehr sinnvoll'(Thomas Grüter). Das ist zumindest dann eine Fehlfunktion, wenn es ungewollt und unbeabsichtigt zum Schaden führt, dem Mensch in Ekstase und erst recht wenn es anderen schadet. Ich habe noch keine charismatische Gemeinde erlebt, in der nicht massiv Druck ausgeübt wird, das doch jeder die besonderen Gaben (Zungenreden, Umfallen in Ekstase) erleben soll. Besonders fatal ist das, wenn mit dem Hinweis auf Wunderheilungen der notwendige Gang zum Arzt unterbleibt. Das kann allerdings auch bei jeden profanen Naturheiler passieren. Wie ich in meinem ersten Beitrag geschrieben habe, sind die untersuchten Phänomene nicht auf Religion beschränkt, sondern laufen im profanen Bereich genauso.

  9. Selbstexperimente

    Gibt es hier im Blog einen, der das Plappern oder Zungenreden überhaupt schon einmal selber ausprobiert hat?

    Ich habe es in Köln bei Meditationen selber probiert. Es ist anfangs sehr schwer, sich überhaupt darauf zu konzentrieren, dass man so etwas tut. Vor allen Dingen, weil man ja nichts sagen oder brabbeln soll, dass einen Sinn ergibt. Nicht einmal in einer Fremdsprache.

    Dafür ist der Kopf anschließend schön leer, um sich voll auf andere Aufgaben konzentrieren zu können.

    Insgesamt eine nette Erfahrung. Hat aber mit Religion und Religiosität wenig zu tun. Ähnliche Zustände kriegt man auch bei übertriebenem Joggen oder Krafttraining.

  10. …künstlichen Bedingungen…

    “Ein ekstatischer Zustand ist also eine Fehlreaktion des Gehirns unter bestimmten künstlichen Bedingungen.”

    -> Ist es nicht auch so, dass wir Menschen eine Normalität anerkennen, dessen Bedingungen von Grund auf “künstlich” sind und dazu erstellt wurden?

    Nach dieser These sind also auch der Alltag und der Umgang rein künstliche Bedingungen. Der Mensch ist ein Raubtier – im Rohzustand (unkonditioniert) würde er einen ihm begegnenden Mitmenschen lieber an die Gurgel gehen, anstatt ihm freundlich zu grüßen.

    Sicher, aus der Sicht der Zivilisation sind dies alles “Fehlfunktionen” und dafür hat die Zivilisation auch allerhand Gesetze und Verhaltensregeln erschaffen, damit ein Zusammenleben (das erst nötig wurde, als die Bevölkerung zu zahlreich wurde) möglich wird.

    Und auch aus einer prakmatischen Sichtweise erkenne ich an, dass derartige besondere Funktionen eben Fehlfunktionen seien. und das beim Zungenreden natürlich nicht grundsätzlich Wahrheit heraus kommt.

    Aber was ist nun schon wieder Wahrheit…

    Ich habe übrigens auch nicht gewusst, was der Pfingstfeiertag eigendlich bedeutet.

  11. Fehlreaktion oder nicht?

    Zunächst einmal: Der Mensch ist ein Gruppenwesen, er würde ohne die Regeln der Zivilisation mehr oder weniger friedlich in einer Gruppe leben, vergleichbar mit den Horden anderer höherer Primaten. Die Gruppenwesen sind darauf angewiesen, dass die Mitglieder einigermaßen berechnbar agieren und kommunizieren. Das ist im Zustand der Ekstase nicht möglich. Deshalb findet man ekstatische Zustände bei Naturvölkern in einem genau festgelegten Rahmen, also zum Beispiel bei Stammesfeiern. Vielfach sind ekstatische Zustände auch für bestimmte Stammesglieder reserviert (Priester, Schamanen etc.). Wer in Ekstase ist, kann mit der Außenwelt nicht mehr agieren, muss also geschützt werden. Oder er gerät in eine gewalttätige Ekstase, dann muss Vorsorge getroffen werden, dass er sich und andere nicht verletzt. In jedem Fall ist die Rekation bestimmter Hirnareale nicht mehr bestimmungsgemäß und deswegen bleibe ich dabei: Es ist eine Fehlreaktion. Sie ist unter bestimmten Umständen gesellschaftlich zugelassen oder erwünscht, aber eben nur unter diesen genau definierten Umständen.

  12. @Thomas: Fehlfunktion?

    Lieber Thomas,

    die letzte Ausgabe von Religion, Brain & Behavior hat sich schwerpunktmäßig und mit neuen Studien mit Glossolalie befasst. Eine kostenfrei zugängliche Studie findet sich hier:
    http://anthropology.ua.edu/reprints/921.pdf

    Zudem ist festzuhalten, dass Trance und Glossolalie in religiösen Kontexten als Glaubwürdigkeit steigernder Signal (CRED) eingesetzt werden – nicht leicht zu fälschen und damit die Glaubenden einander identifizierend.

    Und wenn Du Dir die Auswertungen der Schweizer Volkszählung in Gott, Gene und Gehirn anschaust, so wirst Du dort finden, dass die Schweizer Pfingstchristen einen weit überdurchschnittlichen Reproduktionserfolg aufweisen.

    Nur so als Anregung zum Weiterdenken.