Faktisch fiktiv

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
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Kennen Sie Harry Flashman? Nein? Das ist schade, denn er ist eine ganz große historische Gestalt, ein Soldat, Agent, Raufbold – ein ganzer Kerl. Dank Feigheit. Und George Macdonald Fraser, der die Memoiren des viktorianischen Helden zufällig fand und sorgsam editiert seit Ende der 1960er veröffentlichte.

Bevor Fraser die Memoiren des Frauenhelden fand, war uns Flashman nur als eine wenig bedeutende Nebenfigur in Thomas Hughes stark autobiografischen Tom Brown’s Schooldays begegnet. Ein Bully – ein Schulhoftyrann – war er damals in Rugby, er quälte die jüngeren Schüler, nahm ihnen Wertvolles ab, ließ sie für sich arbeiten. Es war nirgendwo zu sehen, wohin sich dieser mittelmäßig begabte Kerl hin entwickeln würde: zum größten unbekannten Haudegen, der Queen Victoria, Abraham Lincoln und vielen anderen zur Verfügung stand. Ein Mann, der sich Otto Bismarck entgegenstellte!

Meeeeeeta!

Wundern Sie sich nicht, von diesem Mann bis heute nichts gehört zu haben. Er ist ein fiktiver Charakter, die Memoiren sind Romane, seine Abenteuer geschickt in reale Ereignisse eingebunden. In Royal Flash geht es so weit, dass die Europapolitik Bismarcks in Teilen aussieht, wie ein bekannter Abenteuerromane, Anthony Hopes The Prisoner of Zenda. Natürlich lässt sich Flashman, der seine amourösen und kriegerischen Abenteuer selbst erzählt, lang und breit darauf aus, wie dieser Hope einfach seine – Flashmans! – Erlebnissen für schnöden Mammon und natürlich völlig falsch verkauft. Ohne ihn zu erwähnen!

Wenn eine fiktive Figur sich darüber beschwert, in einem realen Werk, dessen Inhalt komplett fiktiv ist, nicht den Fakten gerecht dargestellt zu sein, dann ist das nicht nur sehr meta. Wir müssen uns doch fragen, wie weit Schriftsteller sich an die Fakten halten müssen. George Macdonald Fraser war sehr gut darin, Wirklichkeit und Fantasie zusammenzubringen. Immer wieder fand er eine mysteriöse Figur, die ein Scharmützel überlebt hatte oder auffällig auf dem Schlachtfeld agierte, Name unbekannt. Bis zu Flashmans Memoiren.

Nicht jeder gibt sich so viel Mühe, und mancher schmeißt dann die Fakten über Bord, weil sie dem Effekt und dem Drama entgegen stehen. Beliebtes Ziel selbst ernannter Astronomen und Physiker ist Michael Bays Armageddon, jenes schnulzige, pathetische, dummbrezelige Actionstück über eine Bohrung auf einem Asteroiden.

Auf dem Weg zu den Sternen

Es ist ein Sport daraus geworden, die wissenschaftlichen Fehler des Films aufzuzählen. Im Managementprogramm der NASA – lt. Wikipedia nutzen die den Film – ergibt das auch Sinn; angeblich wurden dort bereits 168 technische und wissenschaftliche Fehler gefunden. Das fängt bei der Größenordnung des Einschlags, der zum Aussterben der Dinosaurier führte, an – im Film heißt es, er entspräche der Energie von 10.000 Atombomben, wenn es lt. Philip Plait* eher 800.000 sind – und endet nicht bei der Idee, einen Asteroiden zu sprengen.

Einige der Fehler sind offensichtlich und stören selbst Laien. Wenn zu Beginn ein ziemlich großes Stück Gestein ein ziemlich großes Loch in den Bürgersteig schlägt und weder Hund noch Herrchen nicht weiter abbekommen, obwohl sie nur Zentimeter vom Einschlag standen, ist das bestenfalls ein Witz auf Stammtischniveau. Für einen Moment reißt es den Zuschauer aus der bequemen Suspension of Disbelief-Haltung.

Sind wir nicht alle ein bisschen Blockbusterer

Nun ist ein Hollywood-Blockbuster keine wissenschaftliche Dokumentation, eben so wenig wie ein Hornblower-, Flashman- oder Sharpe-Roman als historische Reportage durchgehen kann. Allen ist gemeinsam, dass sie eine Fiktion über Fakten stülpen und einer Dramaturgie folgen. Die Autoren nehmen sich mal mehr mal weniger Freiheiten mit realen Personen, Institutionen und Ereignissen heraus. Es spricht nichts dagegen, auch Physik, Chemie und Biologie ein wenig anzupassen, sofern die Geschichte dies braucht.

Armageddon ist Jaws im Weltraum. Steven Spielbergs erster großer Film ist die Vorlage für viele Sommer-Blockbuster; er machte aus einer rein ökonomischen Beschreibung ein ganzes Genre: Große Gefühle, große Effekte, große Figuren mit oberflächlicher Charakterisierung, eine große Bedrohung – großes Kino. Spielbergs Weißer Hai ist kein Carcharodon carcharias, er ist das Böse. Auch der Asteroid bei Michael Bay ist kein echter Asteroid, er ist das personifizierte Böse, mit Intentionen und, ja, Schmerzen.

Wenn wir [Zuschauer] auf dem Asteroiden sind, hören wir ihn ächzen, hauchen, drohen. Später reagiert er direkt auf die Aktionen des Bohrteams, er wehrt sich gegen Eingriffe, scheint vor Schmerz zu schreien. Er kämpft mit Harry Stamper und seinen Freunden, manche erschlägt er, manche treibt er in den Wahnsinn, manche lässt er so lange gegen ihn anrennen, bis sie verzweifeln.

Ohne Michael Bay und sein riesiges Team genannter und ungenannter Autoren höher zu heben, als sie es verdienen, auch William Shakespeare kümmerte sich wenig um die Realität. Keines seiner Historiendramen ist auch nur ansatzweise historisch korrekt, er schrieb Mythen, die dramatisch funktionieren. Die Zuschauer sollen gerührt sein, sollen Angst haben, gespannt sein, erleichtert sein, sich freuen oder hassen.

 

*Philip Plait. ‘Bad Science’. in: Encyclopaedia Britannica. Yearbook of Science and the Future 2000, 1999. S. 26ff [Kasten: ‘The Asteroid That Destroyed Science’, S. 32f].

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

1 Kommentar

  1. Suchen Wissenschaftler das Narrativ?

    Nicht nur Schriftsteller auch Wissenschaftler wollen mehr als eine Aneinanderreihung von Fakten – auch sie suchen nach einem überzeugenden Narrativ ganz ähnlich wie im Wikipedia-Artikel Narrative Psychologie beschrieben: Narrative Psychologie geht davon aus, dass Menschen ihrem Leben Sinn und Bedeutung verleihen, indem sie Erlebnisse in Form von Geschichten und Erzählungen wiedergeben. Einzelne Lebensereignisse werden so nicht als per se verbunden betrachtet; diese Verbindungen und Folgerichtigkeiten werden vielmehr erst im Prozess der Narrativierung vom Subjekt erschaffen.
    Selbst Naturwissenschaftler, mit Sicherheit aber Geisteswissenschaftler wollen mit ihren Forschungsresultaten eine kohärente Sicht auf unsere Realität anbieten und damit alles in einen Zusammenhang stellen und allem einen Sinn geben. Was die Welt im Innersten zusammenhält danach forschen doch die Physiker, oder etwa nicht?
    Viele von uns suchen nach der tiefen, mindestens aber tieferen Wahrheit und wir lassen uns von störenden Details nicht so schnell davon abbringen.

    Doch muss das letzte Welträtsel, das was alles zusammenhält, wirklich von erhabener Schöhheit sein? Nicht unbedingt: Stephen Wolfram stellt in seinem Buch a new kind of science die These auf, das Universum sei nichts anderes als ein Computer Programm, welches wie ein cellulärer Automat nach einem einfachen Set von Regeln aus einem gegebenen Zustand den nächsten berechnet.
    So etwas kann man nicht ganz ausschliessen. Es könnte zur Folge haben, dass man irgendwann the “meaning of life” gefunden hat, den letzten Sinnzusammenhang und er wäre äquivalent zur Zahl 42.