Denkanstöße: Darwinisch denken – Menschlichkeit bewahren

BLOG: Hinter-Gründe

Denk-Geschichte(n) des Glaubens
Hinter-Gründe

Eigentlich meinte ich „schon immer“, mit der Evolution des Weltalls und des Lebens keine Probleme zu haben. Diese Abläufe als naturwissenschaftlich erforschbare Fakten zu begreifen und sie anzuerkennen, wurde uns im Lauf der Schulzeit (bis 1964 in einem kirchlichen Gymnasium) so selbstverständlich gelehrt wie Aussagen über andere Fakten auch. Nur: Ich meine mich zu erinnern, dass wir beispielsweise den Beginn der Menschen auf etwa 1 Million Jahre datiert bekamen.  Doch das war wohl der damalige Stand der Erkenntnis; die Abläufe mussten wohl seither insgesamt „gedehnt“ werden. Und irgendwelche schlauen Leute betonten immer wieder: Wir würden ja nicht von den Affen abstammen, sondern mit ihnen zusammen von gemeinsamen Primaten-Vorfahren. War mir eigentlich zunächst egal, was da Wissenschaftler noch rausbringen. Sie brachten einiges heraus, wie ich seither immer wieder in den Medien nachzuverfolgen versuchte.
Doch das war eben Biologie. Und wenn es später für mich als Theologen und Pfarrer darum ging, Menschen zu verstehen, anthropologische Zusammenhänge wahrzunehmen – dafür gab es verschiedenste soziologische und psychologische Diskussionsbereiche, in denen sich mit diesen Wissenschaften gute Begegnungen ergaben. Doch die evolutionären Voraussetzungen des Menschen waren lange Zeit nicht in die Diskussion mit einbezogen. Aber das ging wohl nicht nur uns, den Theologen, so.

Cover

Deshalb finde ich das Buch von Volker Sommer einfach „spannend“: „Darwinisch denken, Horizonte der Evolutionsbiologie“: Da geht es nicht nur um biologische Abläufe, sondern um Anthropologie: Wie geht unsere Primatenart „homo sapiens“ mit sich und anderen um?
Das ist allerdings auch ein Zentralthema der Theologie, ihrer Auslegung der biblischen Geschichten und der daraus gefolgerten Einsichten. Dazu erfuhren wir auch bereits in dem kirchlichen Gymnasium: Selbstverständlich sind die biblischen Vorstellungen aus vorwissenschaftlicher Zeit; unter entsprechender Benutzung dessen, was „man“ im jeweiligen Kulturkreis des Altertums als Gegebenheit vermutete. Und dies änderte sich im Lauf der über 1000-jährigen Entstehungszeit der Bibel immer wieder gewaltig. Wichtiger als diese Vorstellungen ins Prokrustesbett irgendwelcher Naturwissenschaft zu spannen, wurde mir und denen, die damals ab Mitte der 60-er Jahre Theologie studierten: Sie zu verstehen als Ausdruck des Selbstverständnisses des Menschen vor Gott. Das heißt danach zu fragen, wie organisieren die Leute, die an den christlichen Gott (oder andere Götter) glauben, mithilfe der in vielen Erzählungen und Liedern, Gedichten, Mythen… transportierten Vorstellungen ihr Leben? Wie bringen sie solche Vorstellungen in den Dialog mit ihren Erfahrungen, sowohl mit ihren unbewussten Hoffnungen und Träumen als auch mit ihrem absichtlichen Planen und Gestalten? Individuell, in ihrer Lebensgeschichte, und gesellschaftlich-politisch, in der Geschichte der Völker. Womit wir wieder bei der Anthropologie wären.
Nun, der Dialog mit den Erfahrungen des Menschen geht weiter. Und eben auch die wissenschaftliche Erforschung dessen, was den Menschen zum Menschen macht. Die Grenzen zwischen Mensch und Tier waren in meiner Schulzeit und weit danach noch einigermaßen festgeschrieben: Geistiges Bewusstsein, planmäßige Benutzung und Herstellung von Handwerkszeug – als dem Menschen besonders eigene Fähigkeiten. Und, besonders fatal für uns Menschen, entsprechend Konrad Lorenz: die Verminderung oder gar das Fehlen innerartlicher Tötungshemmung:

Der Mensch kann zum Mörder des Menschen werden –
Homo homini lupus

José de Ribera, Apollon und Marsyas

Die Menschen sind eben „zu allem fähig“. Warum nur? Sind die Tiere vielleicht doch die besseren Menschen? Und haben wir vielleicht gegenüber unseren tierischen Vorfahren und Verwandten einen besonderen Knacks bekommen? Diese Grundstimmung gibt es ja in vielerlei Schöpfungs-Erzählungen der Menschheit, und so auch in der Bibel. Es zieht sich auch durch die Geistesgeschichte – von Rousseau über Marx und Freud bis in die verschiedensten Spielarten des Kulturpessimismus im letzten Jahrhundert.
Wie oft habe ich in Predigt und Unterricht etwa das Bild von A.Paul Weber benützt: „Die Herren der Schöpfung“. Für mich eine Klage darüber, wie „weit“ es doch die Menschen gebracht haben, mit aktuellem politischen Bezug zwischen den Kriegen des letzten Jahrhunderts. In diesem Jahrhundert nicht weniger aktuell.
Nun ja, dass da einiges bei Schimpansen nicht so gut geht, habe ich auch irgendwie mitbekommen. Aber wie weit das geht, darüber klärte mich erst richtig im Zusammenhang das Buch von Volker Sommer auf. Gibt ja nicht nur Kämpfe, sondern auch absichtliche Verstümmelung und Mord an Artgenossen; und nicht nur das, auch Krieg der Schimpansen. Nichts Menschliches ist ihnen fremd. Nur gut, dass sie technisch nicht so weit sind, so effektive Waffen einzusetzen wie wir.
Das heißt doch: In der schönen und gleichzeitig grausamen Natur, in der sich die Tüchtigsten durchsetzen und die Angepasstesten überleben – da scheint Egoismus selbstverständlich und Altruismus ist ein Problem. Dieses Problem haben alle und die Menschen eben auch – von Ausbeutung und Gewalt im Nahbereich über Vorurteile und Rassismus im weiteren Zusammenhang, bis hin zum globalisierenden Raubtierkapitalismus.
Aber der Mensch, der sich selbst „homo sapiens“ nennt, könnte auch klug genug werden, mit seinen Problemen klug umzugehen. Die Probleme zu erkennen und entsprechend mit ihnen umzugehen, da führt dieses Buch „Darwinisch Denken“ auf interessante Entdeckungsreisen. Nicht nur über die Gewaltbereitschaft des Menschen, sondern auch etwa darüber wie Affen lernen und Erlerntes weitergeben, über Familienbande und verschiedene Formen des Zusammenspiels, über das Gegeneinander der Geschlechter, über Partnerbindungen und Konkurrenzverhalten, Fremdenangst und Altruismus. Und das mithilfe vieler, mit freundlicher Ironie gezeichneter, Einzelbilder, die zeigen:
Da hilft kein bloßes Moralisieren, sondern da müssen Zusammenhänge aufgedeckt und bearbeitet werden.

So ist eben der Mensch

The Creation of Adam

und dafür reichen die Wurzeln seiner Verhaltensmuster tief in die Natur hinunter, als gemeinsames Erbe mit unseren tierischen Verwandten. Und wir können weder sie noch die „edlen Wilden“ als leuchtendes Gegenbeispiel zu unserem Verhalten nehmen. Wir müssen selbst gut auf uns aufpassen, in dem was wir an Fremdenangst, Rassismus, Konkurrenzverhalten oder Unterwerfungsgesten evolutionär mitbekamen und eigene Lösungsstrategien finden; doch können wir an den auch innerhalb unserer nächsten biologischen Verwandtschaft schon ausprobierten sehen, wie weit die eine oder die andere dort schon geführt oder eben nicht weiter geführt hat.

Als Theologe interessierte ich mich natürlich besonders auch für die Kapitel um „Gut und Böse“, den freien Willen: „In der Mühle des Lebens. Warum ist die Welt voll Leiden?“
Die Probleme werden ja längst schon in den Religionen bearbeitet und nicht so einlinig – nicht so sklavisch dem Wortlaut eines Katechismus folgend – wie gern von interessierter Seite unterstellt. Aber was „längst schon“ bearbeitet wird, wird natürlich auch mit längst schon eingeschliffenen Denkvoraussetzungen bearbeitet.
Diese zu hinterfragen ist sicher immer wieder gut. Das gab es selbst bereits innerhalb der eineinhalbtausend Jahre, in der die Bibel entstand: Die Vorstellungen über Erde und Himmel veränderten sich immer wieder, anthropologische Einsichten ebenso. Im Lauf der letzten 2000 Jahre christlicher Theologiegeschichte waren noch etwas mehr Updates fällig, seit den letzten 500 Jahren beschleunigte sich das Tempo und ist ja rasant geworden.

Lernschritte

Ich empfand es für mich gut, dass dieses Buch Darwinisch Denken dazu verhelfen kann, manche meiner Vorstellungen aus der Schul- und Studienzeit doch noch etwas konsequenter zu updaten.
Für mich wurde es zB fällig, von etwas schlichten Vorstellungen entsprechend Konrad Lorenz frei zu kommen. Andere mögen ihren Kenntnisstand etwas weiter zurück bearbeiten müssen. Dabei hatte ich schon auch ein bisschen zu kauen an dem Satz über die theologischen Antworten auf naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinne: „Die Theologie braucht stets eine Weile, bis sie die unverhofft einherhopsende Kröte schluckt – und behauptet nach einer Weile, dass sie eigentlich ganz gut schmeckt.“
Dieser Satz hat mir nicht so gut geschmeckt – weil was Wahres dran ist. Aber er muss nicht die ganze Wahrheit bleiben. Lernen ist schließlich immer mit Mühen verbunden; und Lernerfolge mit Glücksgefühl.
Jedenfalls, ob man als Theologe von Gott aus zum Menschen denkt oder in den Widerfahrnissen und Bedürfnissen des Menschen der Frage nach Gott nachgeht – anthropologische Zusammenhänge dabei richtig wahrzunehmen, das ist sicher immer wieder für alle Seiten von Vorteil – vielleicht weniger um der ideologischen Richtigkeiten willen. Sondern weil es um die konkreten Menschen geht: Darum, wie sie geworden sind und darum, was sie aus ihren Vorgaben machen können.

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Hermann Aichele Jahrgang 1945. Studium evang. Theologie in Tübingen, Göttingen und Marburg (1964-70), Pfarrer in Württemberg, jetzt im Ruhestand. Hinter die Kulissen der Religion allgemein und besonders des in den christlichen Kirchen verkündeten Glaubens zu sehen, das war bereits schon in der Zeit vor dem Studium mein Interesse: Ich möchte klären, was gemeint ist mit den Vorstellungen des Glaubens, deren Grundmaterialien vor Jahrtausenden geformt wurden - mit deren Über-Setzung für uns Heutige man es sich keinesfalls zu leicht machen darf und denen gegenüber auch Menschen von heute nicht zu leicht fertig sein sollten.

24 Kommentare

  1. Evolutions- Theoorie

    Bei allem Gerede und Geforsche, die Evolutionstheorie in der Bibel stellt sich durchaus Problemlos dar, wen man das Ereignis Adam und Eva als Epoche, oder Paradigma betrachtet.
    Nach meiner Meinung kann das nicht anders gewesen sein. Gerade die Bibel ist ein Buch, das viele Ereignisse in Bildhafter Form darstellt. Auch Jesus macht da keine Ausnahme.

  2. Adam-Eva-Paradigma@theonom-Philipp Horn

    Danke, Philipp Horn. OK, so ähnlich verstehe ich z.B. Adam/Eva ja auch. “Nur mit ein wenig andern Worten”: Meinten Sie anstatt “Epoche” vielleicht “Episode”?
    Ausführlicher habe ich mich ja dazu geäußert in Adam und Eva – erzählte Anthropologie und in Adam und Eva – Teil II – eine Geschichte aus “Schmerz und Liebe und Trotz” .
    Diese beiden Beiträge möchte ich baldmöglichst fortsetzen mit Out of Paradise, Kain und Abel. Auch da gibt es natürlich “bildhafte Sprache”, etwa für die Stimme des Gewissens.
    Die “bildhafte Sprache” ist ein häufiges Stilmittel, nicht nur in der Bibel, sondern etwa auch in Goethes “Sah ein Knab ein Röslein stehn”.
    Aber man muss natürlich in der Bibel, in ihren verschiedenen Schichten, immer wieder unterscheiden, wo diese Interpretation angemessen ist oder nur teilweise und wo nicht .
    Vielleicht möchten Sie diese Diskussion bei den genannten Blogbeiträgen fortsetzen?

  3. @Hermann Aichele

    “Darwinisch Denken” – heißt das nicht auch: Anerkennen, daß die Evolution ein rein zufälliger Prozeß ist. Gott kann den Prozeß möglicherweise einmal angestoßen haben, aber dann muß er zur Seite getreten sein um die weiteren Entwicklungen dem Zufall zu überlassen. Daß eine Art namens Homo sapiens einmal die Erde bevölkert, stand zu Beginn der Evolution noch nicht fest. Daß die Säugetiere und nicht die Dinosaurier das Massensterben am Ende des Erdaltertums überlebten, war aus Sicht der Evolutionstheorie nicht vorhersehbar. Heißt “Darwinisch Denken” damit nicht auch: Anerkennen, daß der Mensch ein Zufallsprodukt ist?

  4. @N.Hagthorpe

    Mein Englisch ist eingestandenermaßen mängelbehaftet. Aber es hilft ja nichts, die meisten wissenschaftlichen Publikationen sind eben in Englisch. Jedenfalls besten Dank für die übermittelten links. Ich werde mich daran versuchen.

  5. Empfehlenswert

    Lieber Hermann,

    Deine Empfehlung für “Darwinisch denken” kann ich mich nur anschließen. Es ist einfach gut und wichtig, dass der Stand der Forschung auch immer mal wieder für ein breiteres Publikum aufbereitet wird und Volker Sommer leistet das auf hohem Niveau. Er hat übrigens auch eine frühe und nach wie vor hoch spannende Hypothese zur Rolle der Frau in der Evolution von Religiosität und Religionen formuliert (“Die Gene der Urgöttin”).

    Herzliche Grüße!

  6. Evolution und Zufall – @Gerd Waldvogel

    Zum Zufall in der Evolution berufe ich mich lieber auf Fachleute in dieser Frage. Gerade zum Gespräch mit dem Glauben hat Prof. Dr. Michael Drieschner, Porfessor für Naturphilosophie, bei der Tagung in Hohenheim, über die ich im Blog-Beitrag „Gefrorener Geist berichtete, eine für mein Verständnis hervorragende Differenzierung vorgenommen: „Zufall“, wie ihn Darwin als Begriff benützte, meint nichts anderes als: Mutationen sind nicht (entsprechend Lamarck) zielgerichtet, sondern geschehen in alle möglichen, eben zufälligen, Richtungen – ohne Rücksicht darauf, ob sie dem Lebewesen nützen. Dies stellt sich erst nachträglich heraus. Diese Zufälligkeit muss nicht unabhängig von Ursachen sein.
    Dem theologischen/allgemeinen Verständnis nach heißt zufällig aber: Absichtslose, blinde Sinnlosigkeit; so hat es Benedikt XVI (miss)verstanden und gemeint, er müsse sich in diesem Punkt gegen Darwin stellen. Aber das muss bei Darwin gar nicht gemeint gewesen sein. Über Sinnlosigkeit ff sagt ja der Naturwissenschaftler nichts.
    Dem „zufällig“ = „blind und sinnlos“ können Glaubende durchaus widersprechen, ohne deshalb meinen zu müssen, sie müssten damit auch Darwin widersprochen haben.
    Also, das heißt doch: Natürlich gesehen sind wir Menschen natürlich Zufallsprodukte. Aber glaubend gesehen kann der Glaube(nde) sagen: Gott sei Dank bin ich – ihm verdanke ich mich.

  7. Blinder Zufall

    @G. Waldvogel

    » Heißt “Darwinisch Denken” damit nicht auch: Anerkennen, daß der Mensch ein Zufallsprodukt ist? «

    In letzter Konsequenz: Ja!

    Die Vorschläge, die in den von Herrn Hagthorpe verlinkten Texten gemacht werden, wie Religion und Evolutionslehre vereinbart werden können, stellen natürlich keine Lösung dar. Die Evolutionslehre kommt ohne Gottesbezug aus. Ende der Geschichte.

    (Etwas anderes sind die mit dem Menschen in die Welt hineingekommenen Gottesvorstellungen. Als Kulturprodukt und neuzeitlicher Umweltfaktor können diese Vorstellungen natürlich auf die Evolution (nicht nur des Menschen) Einfluss nehmen.)

    @H.Aichele

    » Dem theologischen/allgemeinen Verständnis nach heißt zufällig aber: Absichtslose, blinde Sinnlosigkeit; so hat es Benedikt XVI (miss)verstanden und gemeint, er müsse sich in diesem Punkt gegen Darwin stellen. «

    Wenn man das einzelne Zufallsereignis betrachtet, wie etwa eine Mutation, dann hat Benedikt XVI das schon richtig verstanden. Und in der Entwicklungsgeschichte des Menschen gab es wohl eine ganze Menge dieser blinden, sinnlosen Zufälle, also Ereignisse, die zwar alle ihre Ursache hatten, aber nicht vorhersehbar waren.

    Benedikt XVI ist eben trotz aller gegenteiligen Beteuerungen letztlich doch ein Kreationist. So wie alle anderen übrigens auch, für die eine Evolution ohne das Wirken Gottes nicht vorstellbar ist.

  8. @Balanus – Ja!

    Natürlich kommt die Evolutionstheorie ohne Gottesbezug aus. Gott hat, biologisch gesehen, in der Evolution nichts zu suchen.
    Es geht aber gerade nicht darum Gott à la Brüntrupp in die Evolutionstheorie reinzuquetschen. Es geht um theologische Deutung, also um die Frage ob Gott Evolution – so wie sie ist – als ein Schöpfungsinstrument benutzen konnte. Und da gibt es keine Probleme. Und da es sich um Interpretation handelt, gibt es auch unzählige Möglichkeiten. Drieschner sprach davon (Danke an H. Aichele für den Link, wunderbarer Vortrag), meine Links oben und auch Dobzhansky ging darauf ein. Und es ist auch interessant, das beide bekannte biologische Deutungen, also sowohl die von Stephen J. Gould, als auch die von Simon Conway Morris trotz gegensätzlichem Inhalt beide ihre Kompatibilität mit religiösen Überzeugungen unterstreichte. Also während Morris sagte, das die Konvergenz evolutionärer Entwicklungen mit Gottes Plan kompatibel ist, behauptete Gould, das gerade wegen der absoluten Zufälligkeit der Evolution die Gläubigen unser Dasein als von Gottes Vorsehung gewollt ansehen können. Das sind natürlich alles Interpretationen. Sie müssen nicht fürchten, dass in der Evolutionstheorie Gott quasi-biologisch als Faktor oder Lückenfüller installiert wird. Sie müssen aber andererseits Menschen die Freiheit zur philosophischen und/oder religiösen Interpretation der Evolutionstheorie lassen. Da sehe ich ein bisschen zuviel Polarität heutzutage.

  9. Zufall

    Beim Zufall in der Evolution handelt es sich um einen “Doppel-Schritt-Prozeß”: zufällige – kausal entstandene Variante UND nachfolgende Bewährung (praktische Prüfung)!
    Die praktische Prüfung erfolgt nach 2 Aspekten:
    1. Variation aktuell dienlich für die Reproduktion des Individuums als Vertreter der ART
    2. Große Zielrichtung: zunehmende Freiheitsgrade in der Gesamtentwicklung des “Lebens”
    Komplexe Lebewesen befreien sich zunehmend vom Diktat der Naturgesetze, denen sie aber weiterhin unterliegen. (Der Vogel fliegt – entgegen der Schwerkraft – durch Ausnutzung der Strömungsgesetze!)

  10. Gott und Zufall

    @N. Hagthorpe

    Drieschners Vortrag hat mir auch sehr gefallen. Schade, dass ihm die Redezeit davongelaufen ist, zum Thema Geist hätte ich gerne mehr gehört.

    » Es geht um theologische Deutung, also um die Frage ob Gott Evolution – so wie sie ist – als ein Schöpfungsinstrument benutzen konnte. Und da gibt es keine Probleme. «

    Na, ich weiß nicht. Wäre ich Gott (allmächtig und vor allem allgütig), hätte ich die Sache so gestaltet, dass alle Organismen allein von der Energie der Sonne leben können (und sich nicht gegenseitig auffressen müssen). Außerdem hätte ich dem Menschen ein besseres Rückgrat verpasst (na ja, kommt ja vielleicht noch… aber für mich wohl zu spät ;-). Mit Gott wird alles unendlich viel komplizierter…

    Was machen Sie denn, wenn Sie Gott im evolutionären Spiel lassen wollen? Sie verweisen z. B. auf die begrenzte Erkenntnisfähigkeit des Menschen (Gott lenkt, ohne dass wir das bemerken und erkennen können), oder Sie sagen, dass Gott die Naturgesetze so angelegt hat, dass am Ende der (religiöse) Mensch herauskommen musste (es war also kein echter Zufall am Werk, früher oder später musste notwendigerweise ein intelligentes Lebewesen entstehen).

    Wie auch immer, alle diesbezüglichen Vorschläge und Ideen finde ich intellektuell höchst unbefriedigend. Sie nicht?

    » Sie müssen aber andererseits Menschen die Freiheit zur philosophischen und/oder religiösen Interpretation der Evolutionstheorie lassen. «

    Das tue ich ja. Solange die Wissenschaft nicht darunter leidet oder verfälscht wird.

    @ Georg Stürmer

    Ihren zweiten Aspekt der “praktischen Prüfung” (Große Zielrichtung: zunehmende Freiheitsgrade in der Gesamtentwicklung des “Lebens”) sehe ich eher als eine Folge des ersten Aspekts an und er gilt auch nur für einen Teil der Organismen.

    Ich würde auch nicht sagen, dass komplexe Lebewesen “sich zunehmend vom Diktat der Naturgesetze [befreien]”. Sie “lernen” durch Anpassung, andere oder zusätzliche Aspekte der Naturgesetze zu nutzen.

  11. @Balanus

    “Wie auch immer, alle diesbezüglichen Vorschläge und Ideen finde ich intellektuell höchst unbefriedigend. Sie nicht?”
    Zumindest viele. Man kann es sich aber einfacher machen, wenn man die Freiheit der Schöpfung hinzunimmt (nicht Handelsfreiheit, sondern gewisse Freiheit von Gott), die dann mit einem Schlag das Theodizee-Problem löst. Das war der Grund wieso der Evolutionsbiologe Francisco Ayala Evolution als “Salvation of Theology” bezeichnete. Das heist, man hat gerade theologisch gute Gründe zu behaupten, dass nicht eine abgestufte Perfektion wie Sie die skizieren gewollt war, sondern gerade der Mensch als aus der Natur ge-kommenes Wesen. Und damit der zufällige und unvollkommene Mensch (“Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden” und “bis du zurückkehrst zum Ackerboden; / von ihm bist du ja genommen”).

  12. “Blinder” Zufall

    Danke, für alle zwischenzeitlichen Kommentare. Ich war während dessen in so vielen anderen Bereichen unterwegs und habe sie nur aus Abstand verfolgt.

    Ich möchte hier nur schnell feststellen: Zufall ist eine notwendige naturwissenschaftliche Bezeichnung. Und kann eben, wie Drieschner ausführt, dabei durchaus – naturwissenschaftlich nachvollziehbar – verursacht sein. Zufall nur im Blick auf die Effekte, ob die zufällig nützen oder auch nicht.
    *Blinder* Zufall ist, in naturwissenschaftlichen Zusammenhängen gebraucht, nicht mehr Wissenschaft sondern wissenschaftlicher Journalismus, der ja auch seine Berechtigung hat.
    Ja, @Balanus, zum Thema Geist hätte ich gerne von Drieschner auch mehr gehört. Ich fand es sogar demgegenüber zu lang, wie er sich an darwinistischen Selbstverständlichkeiten und Anekdoten aufgehalten hat. Aber er hat sich wohl mit Recht gedacht, diesem Publikum gegenüber tun ein paar Lockerungsübungen gut (und Komplimente gegenüber Benedikt, die womöglich freundlich ironisch gemeint waren: Auf der kirlichen Ebene darf er ja so reden…). Und dann erwies sich sein Beispiel mit den Birkenspannern eben doch als sehr notwendig: dass da Brüntrup so ins Schleudern kam…

    Mit den Theodizee-Problem, @N.Hagthorpe, sollte man nicht zu leicht fertig sein. Wenn man sich Gott theistisch vorstellt, darf man schon mit Balanus fragen, warum er dann nicht einiges besser organisiert (hat).
    Komme ich auch mit einer Anekdote (die ich nicht nachprüfen kann): Ein portugiesischer Prinz habe mal gesagt: Wenn ich bei der Schöpfung dabei gewesen wäre, hätte ich Gott ein paar gute Ratschläge geben können.
    Man kann das als Ausbund der Überheblichkeit ansehen; aber was ist, wenn er das nach dem Tsunami am 1. Nov. 1755 gesagt hat?!

  13. @H. Aichele

    Ja, ich sehe, ich habe mich missverständlich ausgedrückt. Ich meinte nur das Theodizee-Problem im konkreten, auf die Reflektion über die Naturwissenschaft anwendbaren Sinn. Das heißt, dass wenn wir Evolution, so wie sie ist, akzeptieren, müssen wir Gott nicht z.B. für jeden Ausfall unserer evolutionär entstandenen Psyche direkt verantworten. Die allgemeine Frage der Theodizee, wieso es überhaupt Böses auf der Welt gibt, bleibt natürlich. Und ich denke, dass sie auch bleiben muss, wir können ihr nicht entkommen. Es ist aber dann vielmehr ein metaphysisches Problem, die Evolutionstheorie hilft uns hier nicht mehr weiter.

  14. @H.Aichele

    “Mit den Theodizee-Problem, @N.Hagthorpe, sollte man nicht zu leicht fertig sein. Wenn man sich Gott theistisch vorstellt, darf man schon mit Balanus fragen, warum er dann nicht einiges besser organisiert (hat).”
    So funktioniert das auch nicht. Nicht mal religiös.
    Lösung: Ein Schöpfer/Wille immanent und ein sehendes Auge transzendent. “Und er sah, daß es gut war” bzw. er sieht, daß es schlecht ist. Wenn es einen Gott gibt, so sieht er durch die Augen der Lebenden und nicht der Toten. Der Wille aber ist ein blindwütiger zutiefst vernunftloser Drang. Eine bessere Definition als die von Schopenhauer weiß ich auch nicht.

  15. Ergänzung

    “Der Wille aber ist ein blindwütiger zutiefst vernunftloser Drang. Eine bessere Definition als die von Schopenhauer weiß ich auch nicht.” Im Menschen aber fällt er unter das Licht der Vernunft; er wird vernommen und hinterfragt: “Und wenn es zehn Gerechte gibt?” Das Feilschen Abrahams ist eine Glanzleistung! .

  16. Theodizee und Wille @Hilsebein

    Ganz klar, Dietmar Hilsebein, ist mir auch nach längerem Zögern noch nicht, worauf Sie hinauswollen. Das mit dem “Willen”, diesem “vernunftlosen Drang”, ist sicher interessant. Da mögen sich andere schlagen, wie “frei” der ist, was mE in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedlich bewertet werden muss. Darauf müssen wir uns jetzt wohl nicht einlassen?
    Dass der “vernunftlose Drang” auch (wiederum durch Vernunft) gezähmt werden kann (und dann doch nicht immer), daran arbeiten ja Menschen. Macht wohl den Menschen aus, dass er nicht einfach dem seinen Lauf lässt, was seine natürlichen Vorgaben sind. Aber damit werden auch die spezifischen Probleme des Menschen erst richtig deutlich. Der Mensch, der seine Natur überlisten kann, kann sich auch nachhaltiger schädigen als andere Lebewesen; und die schädigt er gleich mit.
    Damit wären wir auf jeden Fall beim Thema :-). Aber ob ich bei dem bin, was Sie wollten?!
    Die Geschichte mit Abraham – schon spannend. Ich deute sie so: Da stemmt sich einer dem entgegen, was er als unausweichliches Verhängnis kommen sieht – es geht doch um die Menschen… Und manches geht doch über die Kraft.
    Theodizee ist und bleibt mit die stärkste Anfrage der Atheisten an die Theisten – eben so lange man sich im Käfig dieser ontologischen Fragestellung bewegt; und daran sind ausdrücklich nicht *die* Atheisten schuld! Wenn schon, dann die Gottesbeweis-Tradition und Pascal ff.
    Ich denke dabei aber immer wieder an Camus, aus “Die Pest”: Angesichts eines Kindes in schmerzhaften Todeskrämpfen sagt der atheistische Arzt zum Priester:“Wir arbeiten miteinander für etwas, das uns jenseits von Lästerung und Gebet vereint. Das allein ist wichtig”.
    Die ganze Szene wäre wichtig. Ich habe sie immer wieder auch in der Kirche zitiert.

  17. @ H.Aichele

    “Damit wären wir auf jeden Fall beim Thema :-). Aber ob ich bei dem bin, was Sie wollten?!”

    Die Frage stellt sich für mich gar nicht. Schreiben ist ein therapeutischer Akt. Es geht nicht darum verstanden zu werden, sondern sich anregen zu lassen. -Denkanstöße- heißt das Motto.

  18. Mit Heiterkeit vorzutragen:

    Wir sind irre und die Welt ist unser Irrenhaus. Nun gibt es Insassen, die sagen: den Heimleiter gibt es nicht. Andere sagen: …
    FORTSETZUNG im thread “Brauchen wir Gott?”

    – redaktionelle Änderung mit freundl. Genehmigung durch D.Hilsebein durch H.Aichele

  19. Herrlich! @D.Hilsebein

    Das ist herrlich. Meine Bauchmuskulatur wurde heftig strapaziert. So musste ich lachen. Danke!
    Und ich überlegte mir natürlich auch, zu welcher Sorte der “Irren” ich dann zähle…
    Jednfalls, es regt nicht nur zum Lachen an, sondern auch zum Denken – ganz wie Sie im Kommentar vorher bemerkten.

    Vielleicht setzen Sie mir das drüben in den thread “Brauchen wir Gott?” rein, dort würde es noch besser passen.

  20. @ H.Aichele

    “Vielleicht setzen Sie mir das drüben in den thread “Brauchen wir Gott?” rein, dort würde es noch besser passen.”

    Können Sie das übernehmen und dann hier löschen? Es muß ja nicht doppelt sein.

    Gerne geschehen. Ist ja produktiv….
    Siehe: “Brauchen wir Gott?…”
    H.Aichele

  21. Irrenhaus

    “Und ich überlegte mir natürlich auch, zu welcher Sorte der “Irren” ich dann zähle…”

    Ich dachte Sie gehören zu den angestellten des Heimleiters. 🙂

Schreibe einen Kommentar