Wenn Bücher brennen

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Am 10. Mai dieses Jahres, also gestern, jährte sich ein Spektakel aus dem Jahr 1933, mit dem die Nationalsozialisten ihr wahres Gesicht in aller Öffentlichkeit zeigten. Nach einer Serie von ähnlichen nächtlichen Verantaltungen in anderen Städten wurden in Berlin vor geschätzten 70.000 Schaulustigen Bücher all jener Schriftsteller verbrannt, die den Nazis kritisch oder ablehnend gegenüberstanden oder von den Nazis als “undeutsch” eingestuft wurden. 

Darunter waren die Werke von Sigmund Freud, Karl Marx, Lion Feuchtwanger, Erich Kästner und vieler anderer (nicht nur jüdischer) Autoren.

Alle, die gerne lesen und schon gar alle, die gerne kritisch ihre Mitmenschen und ihre Welt beobachten und darüber schreiben, sollten sich an jedem 10. Mai bewusst machen, wie dünn der kulturelle Firnis nicht nur damals war, der uns von der Barbarei trennt. Die Schande, von der sich Deutschland bis heute nicht richtig erholt hat (wie denn auch – bei all den verjagten und ermordeten Autoren?) – diese Schande war umso größer, als damals nicht nur grölende SA-Horden sich über die gedruckte deutsche Kultur hermachten, sondern vor allem Studenten und nicht wenige eilfertige Professoren: Man wollte “dabei sein”, wenn das neue Deutschland zu seinem Siegeszug aufbrach.

Wir meinen, weil das Internet heutzutage eine ungeahnte geistige Freiheit verschafft (ja: auch dies, und nicht nur sex and crime) und weil die Autoren von inzwischen Millionen von Blogs, wie dieser hier, ungehindert und vor allem unverfolgt ihre freie Meinung äußern dürfen, seien wir sicher vor solchen Bücherverbrennungen. Das könnte sich irgendwann als großer Irertum herausstellen – denn was ließe sich besser kontrollieren, als so ein weltweites Netzwerk?

Wir sollten den 10. Mai deshalb jedes Jahr sehr bewusst als Gedenktag beachten, um nicht zu vergessen, was ein paar hochmotivierte Soziopathen in einer hochorganisierten Gesellschaft binnen weniger Jahre alles an schrecklichen Ereignissen anrichten können, bis hin zu einem globalen Krieg mit 55 Millionen Toten. Ich weiß nicht mehr, wer das sagte: “Wer Bücher verbrennt, verbrennt bald auch Menschen.” Aber dieser Warner hat fraglos recht, nicht nur was die Entwicklung damals, 1933 in Nazi-Deutschland angeht.

Nur haben Schurkenstaaten heute Atombomben. Und täuschen wir uns nicht: Das Internet wird ja nicht nur in Nordkorea und China zensiert. Auch hochgelobte Demokratien wie die USA haben schon Bücherverbrennungen inszeniert – und nicht erst in der McCarthy-Ära zur Eindämmung des Kommunismus. Die elektronischen Lauscher der NSA und der CIA und wie die Geheimdienstr alle heißen, filtern täglich Milliarden von E-Mails, Blogs und anderen elektronischen Texten nach – in ihren Augen – “brisantem Material”. Damit haben sie die aktuellen Attentäter des Boston-Marathons vor einigen Tagen freilich nicht verhindern können. Wie denn auch?

Der information overkill der in jeder Sekunde durch die Datenleitungen rauschenden Informationen ist zwar mit keiner noch so cleveren Software zu bändigen – von der profunden Unfähigkeit all dieser Schnüffelorganisationen mal ganz abgesehen (s. die NSU-Morde, die gerade in München verhandelt werden). Aber Bürgerrechte werden aufgrund von Verdachtsmomenten gerne zurückgestutzt – damit der Anschein von Aktivität beim Wähler entsteht.

Vor allem religiöse Fundamentalisten zerstören gerne jede in Büchern gedruckte abweichende Meinung – überall auf der Welt.

Tja, und dann wird da noch ordentlich für den Cyber-Krieg aufgerüstet – wie immer der aussehen mag: “Von 2015 an könnten Informatiker feindliche Netze lahmlegen.” (SZ 2013) Klingt irgendwie von ganz ferne auch wie Bücherverbrennung. Oder?

Die Bücherverbrennung sollte uns daher stets daran erinnern, wie hauchdünn der Lack der Zivilisation in Wirklichkeit ist, der im Verlauf von Jahrtausenden durch Gesetze und funktionierende politische Einrichtungen mit ihren wechselseitigen checks and balances geschaffen wurde.

 

Allgegenwart des Labyrinth-Mythos

Vielleicht müssen wir nicht nur sinngemäß so etwas wie einen politischen Gleichgewichtssinn entwickeln, der uns rechtzeitig warnt und uns so etwas wie Übelkeit verursacht, wenn die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse sich zum Negativen hin ändern? Die globale Wirtschaftskrise der Gegenwart erzeugt Ängste vor dem Verlust von Pivilegien und gibt Populisten Auftrieb, die besser ihr Mauil halten sollten, statt noch zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen. Andrerseits: Sind diese Populisten nicht zugleich wichtige Frühwarnsysteme, die uns informieren, dass etwas nicht stimmt – als Teile eines kollektiven Gleichgewichtssystems?

Seltsam, dass die Wissenschaftler, die sich mit den Bogengängen im Innenohr (nicht nur) bei uns Menschen, befassen, den zentralen Teil des dort sitzenden Gleichgewichtssinns als Labyrinth bezeichnen! Sie meinen damit natürlich, dass sich leicht verirrt, wer nicht mehr weiß, was “rechts und links” und “vorne und hinten” und “oben und unten ist”. An diesen Sachverhalt hat mich, wieder mal so ein Zufall, eine Glosse von Axel Hacke im gestrigen Freitags-Magazin der Süddeutschen Zeitung erinnert. Darin amüsiert Hacke sich über “vierzig kleine Buntbarsche”:

Man hat sie in einem bierkistengroßen Aquarium mit einer Rakete von Baikonur aus zur Internationalen Weltraumstation geschickt, um in der Schwerelosigkeit neue Erkenntnisse über die Reisekrankheit zu gewinnen. Denn die Reisekrankheit hängt mit dem menschlichen Innenohr zusammen, und das menschliche Innenohr ähnelt dem von Buntbarschen offensichtlich auf verblüffende Art und Weise.

Hacke benennt das Labyrinth in seiner wie immer sehr geistreichen Kolummne nicht eigens. Aber der Labyrinthologe weiß darüber Bescheid: Ohne das als Labyrinth benannte winzige und zugleich hochkomplexe Sinnesorgan im Innenohr sind wir Menschen in der Welt verloren – nicht nur die Buntbarsche. Da ist es mit einer Reisekrankheit nicht getan, wenn dieses Organ versagt.

 

Ein gewagter Sprung

Ich weiß: Es ist ein gewagter Sprung von der Bücherverbrennung über Buntbarsche zum politischen Frühwarnsystem. Aber ich denke, wir brauchen immer wieder solche verblüffenden Zufälle und Hinweise und geistige Sprünge – damit wir wach bleiben. Vielleicht ist dies ja so etwas wie der Teil einer funktionierenden Schwarmintelligenz – wenn es sie denn gibt? Auch wenn die deutschnationale Schwarmintelligenz 1933 bei den damals ja noch recht demokratischen Wahlen auf entsetzliche Weise versagt hat. Womit wir wieder bei den Bücherverbrennungen wären.

(Wer mehr zum Thema Bücherverbrennung erfahren möchte: Recht gut informiert erscheint mir der entsprechende Artikel in der Wikipedia.)

Quellen
DPA: “Bundeswehr rüstet für Cyber-Krieg”. in: Südd. Zeitung Nr. 107 vom 10. Mai 2013, S. 6
Hacke, Axel: Das Beste aus aller Welt (Kolummne). In: Südd. Zeitung Magazin Nr. 19 vom 10. Mai 2013.

Schauen Sie bitte gelegentlich auch mal in die früheren Beiträge dieses Blogs rein! Hilfreich sein könnten vor allem Willkommen im Labyrinth des Schreibens und die Zeittafel. Die wichtigsten Personen und Begriffe werden erläutert in Fünf Kreise von Figuren sowie im Register dieses Blogs.

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"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

10 Kommentare

  1. Umgekehrter Effekt

    Die technischen Möglichkeiten zur Errichtrung einer “schönen neuen Welt” könnten paradoxerweise auch die Demokratisierung voranbringen.

    Gerade weil sie so umfassend und gefährlich sind , bleibt uns eigentlich gar nichts Anderes übrig , als sie effektiv zu kontrollieren , mit vielmehr Druck als gegenüber den bisherigen “analogen” Möglichkeiten von Diktaturen.

    So wie die Atombombe beiträgt zur Friedenssicherung , könnte der drohende Überwachungsstaat zu demokratischem Fortschritt führen.

  2. Herinrich Heine

    -> Ich weiß nicht mehr, wer das sagte: “Wer Bücher verbrennt, verbrennt bald auch Menschen.”

    Ansonsten ist Papier heutzutage nur noch ein Datenträger, und kein besonders guter.

    Die Zensur in Internetzeiten sich also nun fast auf den selektiven Zugriff beschränkt, dabei auch nur mäßig erfolgreich.

    Die Abkehr vom Buch ist vielleicht die größte Gefahr für totalitaristische Systeme.

    MFG
    Dr. W

  3. DH

    “So wie die Atombombe beiträgt zur Friedenssicherung , könnte der drohende Überwachungsstaat zu demokratischem Fortschritt führen.”

    Solange sich der “freiheitliche” Wettbewerb um die SYMPTOMATISCHEN Begehrlich- und Abhängigkeiten des (Betriebs-)Systems von “Wer soll das bezahlen?” und “Arbeit macht frei” in Ausbeutung und Unterdrückung, arm und reich, usw. dreht und globalisiert, solange wird auch Demokratie nur eine illusionäre Irreführung in “…” sein – geistiger Stillstand seit der “Vertreibung aus dem Paradies” (erster und bisher EINZIGE geistige Evolutionssprung)!

  4. Dr. Webbaer

    “Ansonsten ist Papier heutzutage nur noch ein Datenträger, und kein besonders guter.”

    Und Mensch ist ein Datenträger der nicht besonders gut kompatibel ist mit den Möglichkeiten des Internet – das Zeitalter der KONFUSIONIERENDEN Überproduktion von KOMMUNIKATIONSMÜLL!

  5. Mensch

    kein Datenträger, Horscht.

    Der Trick im Web ist übrigens der selektive Zugriff.

    MFG
    Dr. W (der natürlich auch nicht immer konsumiert/dahin geht, wo es nicht uninteressant ist)

  6. @Horst

    Gerade auch die von Ihnen zu Recht beschriebenen Mißstände müssten die Demokratisierung vorantreiben helfen , weil sie nicht unendlich fortgeführt werden können und wir sonst unsere Überlebensfähigkeit verlieren.

  7. Tja, Bücherverbrennung… das lag in guter alter Tradition. Schon Paracelsus hat öffentlichkeitswirksam damalige medizinische Standartwerk(e) verbrannt… und auch er war nicht der erste.

    Und “Schwarmgeist” ist die Notwendigkeit von Intelligenz und sowieso der Kulturgemeinschaft, ohne welchem man sich gar nicht zu einer selben zugehörig “fühlen” kann.

    Das ist das Blöde am “Guten”,dass das Böse zwangsläufig immanent enthalten ist.

  8. Unterwanderung ist wirksamer als Verbot

    Bücherverbennungen und Einschränkung der Rede-Publikationsfreiheit rufen immer auch Gegenreaktionen hervor und sind gerade darum, weil sie klar ersichtlich sind, der Beweis für die Fragwürdigkeit des Systems und eine implizite Aufforderung nach Umgehung (wie West-TV schauen es im ehemaligen Ostblock war).

    Subtiler und wirksamer ist dagegen die möglichst unbemerkt bleibende Steuerung der Diskussion und des Meinungsaustausches durch Manipulatoren. In China mit seiner grossen Mikrobloggerszene gibt es staatlich angestellte Mikroblogger, die die Chats und den Meinungsaustausch in die richtige Richtung lenken sollen. Allerdings scheint das doch nicht immer zu genügen. Daneben gibt es in China auch die Internetzensur und die physische – nicht nur virtuelle – Verfolgung von dissidenten Meinungen.

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