Konservative Kulturkritik: Vielfalt, Eigenart, Schönheit – Teil 2 von “Zur Geschichte der Ökologie und des Naturschutzes”

BLOG: Landschaft & Oekologie

Unsere Umwelt zwischen Kultur und Natur
Landschaft & Oekologie

Ganz anders als die Aufklärungskritik der Romantik war die des klassischen Konservativismus. Darauf gehe ich jetzt ausführlicher ein.

Der Konservativismus folgt wieder, wie die Aufklärung und anders als die Romantik, einer politischen Utopie, doch der entgegengesetzten. Die Verhältnisse, in denen der Mensch sich und alles als sinnvoll ansehen konnte, weil für ihn alles eingebunden war in ein übergreifendes Ganzes, das so, wie es ist, von Gott gewollt ist, sollten jedenfalls im Prinzip wieder hergestellt werden. Bezogen auf das Zusammenleben der Menschen ist essentiell: Die Gesellschaft ist nicht durch Vertrag der Einzelnen im Interesse dieser Einzelnen zustande gekommen, sondern sie besteht vor jedem Einzelnen als eine Gemeinschaft, in der jedes Glied dem anderen dient und alle dem Ganzen dienen, das wiederum für den Einzelnen sorgt. Dies alles ist nicht nur in materieller Hinsicht zu sehen, sondern im Dienst an der Gemeinschaft liegt auch der Sinn allen Tuns. Der Einzelne wird in die Gemeinschaft hineingeboren, ihm ist durch Geburt und das, was ihm mitgegeben ist, seine „Gaben“, ein bestimmter Platz in dem Ganzen zugewiesen. Auf diesem hat er seine Aufgabe zu erfüllen. Er erkennt seine Aufgaben, weil er Vernunft hat. Diese wird also im Unterschied zur Romantik hoch geschätzt. Vernunft ist aber nicht, wie für den Liberalismus, ein dem eigenen Nutzen dienendes Vermögen, sondern das von Gott gegebene Vermögen, das uns (in den Grenzen des Menschenmöglichen) dieses Ganze und unsere Aufgabe darin zu erkennen erlaubt. Sie ist „vernehmende“ Vernunft, nicht  „konstruierende“. Freiheit heißt hier nicht Ungebundenheit, sondern bedeutet die Möglichkeit, seinem Wesen entsprechend zu leben, und das Wesen ist eben auch durch den Platz, an den man gestellt ist, bestimmt. Ein Leben, das gesteuert ist durch Triebe oder die Gier nach Glück, was dazu veranlaßt, den angestammten Platz, die Heimat zu verlassen, ist ein nicht dem eigenen Wesen gemäßes, ist ein fremdbestimmtes, unfreies Leben, ein Leben unter Zwängen.

Wie ist das Verhältnis zur Natur in diesem Denken? Der entscheidende Begriff ist der der Landschaft, obwohl dieses Wort bei den einschlägigen Denkern erst spät auftaucht. Der Mensch sieht sich nicht nur in eine bestimmte Gemeinschaft hineingeboren, sondern auch in eine bestimmte Naturumgebung. Mit Natur ist hier nicht die abstrakte Natur der Naturwissenschaften gemeint, nicht all das, was den allgemeinen Naturgesetzen gehorcht, sondern die Natur in ihrer lokalen-regionalen Besonderheit, wie er sie vorfindet. Diese Natur hat der Einzelne und hat die Gemeinschaft zu achten, denn sie ist als gottgewollte eben nicht einfach nur Natur. Sie zu achten bedeutet einerseits, daß man sich an sie anzupassen hat: nicht im Interesse eigenen Wohlergehens ganze Landstriche ökonomie- und technikgerecht umzugestalten, sondern den Naturvorgaben im Detail, also kleinräumig[1] zu folgen. Aber der Mensch hat sich der Natur nicht nur anzupassen, sondern hat sie auch zu pflegen und zu entwickeln, das heißt: Er hat der Natur zu dem zu verhelfen, was in ihr angelegt ist und wohin sie von sich aus strebt, aber von sich aus nicht gelangen kann. Das ist den Menschen als moralische Aufgabe von Gott gesetzt.

So entstehen „Kulturlandschaften“ als Einheiten von menschlicher Gemeinschaft und von ihr vorgefundener und entwickelter Natur. In der konservativen Kulturkritik des späteren 19. Jahrhunderts hat man von Landschaften als Einheiten von Land und Leuten (W. H. Riehl) gesprochen. Solche Kulturlandschaften sind organische Einheiten. So wie die Menschengemeinschaft ein Organismus höherer Ordnung ist, wo alle Einzelnen wie Organe dem Wohl des Ganzen dienen, so auch die Kulturlandschaft als Ganze. Die Natur dient in ihrem Funktionieren den Menschen und umgekehrt.

Wenn die Entwicklung gelingt, also wenn die Menschen sich gegen die Natur dem göttlichen Willen gemäß verhalten, dann entstehen individuelle Kulturlandschaften als Einheiten von Vielfalt, Eigenart und Schönheit.

Heute ist es weithin selbstverständlich geworden, daß die landschaftliche Schönheit stets in Verbindung mit diesen zwei anderen Attributen der Landschaft genannt wird. „Natur und Landschaft sind … so zu schützen, zu pflegen, zu entwickeln und … wiederherzustellen, dass … Vielfalt, Eigenart und Schönheit … gesichert sind“ (§ 1 Bundesnaturschutzgesetz). Nicht nur Schönheit, auch Vielfalt und Eigenart gelten als Werte, nicht einfach als Eigenschaften der Landschaft. Im täglichen Gebrauch dieser Formel ist selten ganz klar, ob es sich um drei unabhängige Werte handelt oder ob die Landschaft gerade dann schön ist, wenn sie die Eigenschaften Vielfalt und Eigenart hat. Letzteres ist nur im konservativen Denken möglich, zumindest ist es nur hier selbstverständlich. Nicht nur, daß diese Verbindung als notwendig gedacht wird, sondern auch, daß Vielfalt und Eigenart überhaupt Werte darstellen, verdankt sich diesem Denken. Zu anderen Zeiten und für Anhänger anderer Weltanschauungen wäre das auf Unverständnis gestoßen.

Im Liberalismus ist Vielfalt deshalb ein Wert, weil – und nur wenn – sie viele verschiedene Nutzungsmöglichkeiten bietet. Eigenart ist gar kein Wert. Dem typischen Liberalen ist es egal, daß die Orte überall auf der Welt heute immer ähnlicher aussehen, ja, es ist meist wünschenswert, denn es ist nützlich. Schönheit gilt hier als ein rein subjektives Empfinden, nicht als eine objektive Eigenschaft der betrachteten Gegenstände. Inwiefern ist es im Konservativismus anders?

Warum ist im konservativ-gegenaufklärerischem Denken Vielfalt ein Wert? Die ideale Landschaft entsteht, wie wir gesehen haben, dadurch, daß eine Gemeinschaft sich an die Natur ihres Lebensraums anpaßt und dieser Natur dadurch zu ihrer eigenen Vollkommenheit verhilft – derjenigen Vollkommenheit, die sowohl dem Wesen der Gemeinschaft (Volkscharakter) als auch dem des Lebensraums entspricht. Von jedem Menschen, jeder Gemeinschaft ist gefordert, das je eigene Wesen zu entfalten. Das bedeutet aber, die Vielfalt (an Fähigkeiten) zu entwickeln, die in einem steckt, und zwar die dem jeweiligen mitgegebenen Wesen gemäße Vielfalt – nicht eine beliebige Vielzahl, sondern genau die, die durch Ent-faltung des eigenen, individuellen Wesens entsteht. Und Anpassung an den Lebensraum bedeutet, auf dessen Vielfalt Rücksicht zu nehmen. Das aber tut man, wenn man an und mittels jener Vielfalt an eigenen Fähigkeiten das Potential an Vielfalt, das in dem Lebensraum steckt, zur Entfaltung zu bringt. Es ist eine gottgegebene Aufgabe, die in der Natur schlummernden Potentiale zu ihrer eigenen, eigentlichen Bestimmung zu erwecken.

Wenn aber das geschieht, dann bilden alle Menschen und alle Gemeinschaften und alle Landschaften Eigenart aus. Denn was auf diese Weise Vielfalt entwickelt, hat notwendigerweise Eigenart: Was sein eigenes Wesen entfaltet, gleicht immer weniger irgend etwas anderem. Und weil die Entfaltung des eigenen Wesens zugleich die Entfaltung des eigenen Wesens der umgebenden Natur bedeutet, gilt nicht nur für die Menschen und ihre Gemeinschaften, sondern auch für die Landschaft, daß sie immer weniger einer anderen gleicht. Umgekehrt ist alles, was wahre Eigenart hat, eben darum vielfältig: Es gleicht gerade deshalb nichts anderem, weil es sein Wesen ent-faltet hat, viel-fältig geworden ist. Embryonen sind einander ähnlicher als reife Lebewesen, die Knospen verschiedener Pflanzenarten ähnlicher als die Blüten, zu denen sie sich entfalten. Was aber zwar Vielfalt hat und einzigartig ist, jedoch nicht von einer bestimmten Art ist, diese nicht repräsentiert, hat keine Eigenart, sondern ist nur eigenartig, und was einzigartig ist, ohne Vielfalt zu haben, sein Wesen also nicht zu Entfaltung gebracht hat, ist primitiv.

Das war der Zusammenhang zwischen Vielfalt und Eigenart. Worin besteht nun der Zusammenhang zwischen Vielfalt, Eigenart und Schönheit? Bei dem Aufklärer Kant war Schönheit „interesseloses Wohlgefallen“, eine Gemütsregung des Betrachters, die man nur im oberflächlichem Reden so behandelt, als wäre sie eine Eigenschaft des Gegenstands. Bei Johann Gottfried Herder, bei dem die konservative Idee der Landschaft als Land-und-Leute-Einheit, ohne daß er es so genannt hätte, erstmals formuliert wurde, ist dagegen schön, was seinem – ihm letztlich vom Schöpfer her zukommenden – Zweck entspricht. Schön ist also, was in diesem Sinn vollkommen ist, Schönheit ist die äußere, den Sinnen zugängliche Seite einer inneren Zweckmäßigkeit.[2]

Wie aber entsteht die Vollkommenheit der Landschaft? Sie entsteht dann, wenn eine Gemeinschaft ihrem göttlichen Auftrag gerecht wird, sich selbst und die Natur ihres Lebensraums zur ihnen gemäßen Vielfalt zu entfalten. Je nach mitgebrachtem Volkscharakter, je nach Klima und spezifischer Geschichte wird Vollkommenheit aber in etwas anderem bestehen. Die Kulturlandschaft wird also Eigenart haben. Diejenige Kulturlandschaft, die so ist, wie sie sein soll, die also vollkommen ist, vereint darum Vielfalt und Eigenart, und eben deshalb ist sie schön.

(Fortsetzung folgt)


[1] Gelinsky, Eva 2008: Vielfalt und regionale Eigenart als strukturierende Prinzipien einer Kulturtheorie des Essens. Eine ideengeschichtliche Rekonstruktion am Beispiel der Organisation Slow Food. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur 17, = https://mediatum.ub.tum.de/doc/603772/603772.pdf

[2] Siegmund, Andrea (2010): Der Landschaftsgarten als Gegenwelt. Ein Beitrag zur Theorie der Landschaft im Spannungsfeld von Aufklärung, Empfindsamkeit, Romantik und Gegenaufklärung. Dissertation Technische Universität München, S. 328.

 

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

2 Kommentare

  1. @ Ralph Dihlmann: Liberalismus

    „Vielleicht täusche ich mich, lese aber in Ihren Beiträgen zwischen den Zeilen eine tiefe Abneigung gegenüber dem Liberalismus.“

    Da täuschen Sie sich. Auch wenn ich eine tiefe Abneigung gegen die sog. Neoliberalen habe: Ohne den Liberalismus würden wir heute unter Verhältnissen leben, die auch dem konservativsten unter den heutigen Konservativen unerträglich wären. Aber man darf eben auch die Schattenseiten nicht übersehen.

    Daß die liberalen Staatstheorien ohne Tugend auskommen, heißt nicht nur, daß der Staat bzw. die Gesellschaft nicht auf die Tugend setzen darf, wie es in gewissem Sinne die Anarchisten tun: nehmt die Unterdrückung weg, dann handeln die Menschen ganz von sich aus rücksichts- und liebevoll usw.; man schafft die Polizei ab, und eben darum braucht man sie dann nicht mehr. Sondern es heißt, daß es a) nicht nötig ist, daß die Menschen tugendhaft sind: es reicht, daß sie aus Furcht den Gesetzen gehorchen, die sie sich aus (egoistischer) Klugheit selbst gegeben haben. Und b) heißt es, daß es Tugend, die ja wesentlich darin besteht, sich innerlich auf das Wohl der anderen bzw. der Gemeinschaft verpflichtet zu wissen und dem zu folgen, grundsätzlich nicht braucht und es auch verwerflich ist („verwerflich“ impliziert natürlich eine Art Meta-Tugend), sie zur Tugend anzuhalten.

    Gut ist es, für sich selbst zu sorgen, das „größte Glück der größten Zahl“ ergibt sich ganz von selbst, wenn man die Einzelnen das tun läßt. Daraus folgt, daß es auch keine Politik der Erziehung zur Tugend gibt wie bei den Konservativen und den Demokraten/Sozialisten; was der Einzelne macht, vor allem was in seinem Inneren vorgeht, geht niemanden etwas an, kein Pfarrer und kein jakobinischer Wächter über die dem Gemeinwohl verpflichtete Gesinnung hat sich da einzumischen; das gehört zu dem, was man im Liberalismus unter Freiheit versteht. – Das ist die Theorie, in der Praxis hat das dann auch dazu geführt, daß es in vom Liberalismus geprägten Gesellschaften (vor allem angloamerikanischen) in gewissem Sinne lockerer zugeht. Aber in der Praxis kann genau diese Theorie auf das Gegenteil hinauslaufen. Die amerikanischen christlichen Sekten, die radikalliberal nichts als den individuellen Erfolg predigen, entfalten, wie man hört, im Inneren einen Tugendterror sondergleichen.

    Eine ganz andere Sache ist, daß der Liberalismus, auch wenn er in seinen Theorien ohne Tugend auskommt, da, wo er gesellschaftlich herrschend wird, Tugenden hervorbringt . Die liberale Denkungsart ist ja selbst eine, und die Anti-Haltung gegen die kirchlichen und staatlichen Gewissenskontrolleure impliziert ja selbst bereits eine Tugend: die der Toleranz. Aber auch ohne die kommen die liberalen Theorien aus: man darf auch intolerant sei, solange man damit nicht gegen Gesetze verstößt, ist das für das Zusammenleben ausreichend.

    Natürlich ist das alles idealtypisch zugespitzt. Keine liberale Partei kann es sich leisten, die Konsequenzen aus ihren grundlegenden Denkfiguren derart radikal zu ziehen; aber das gilt für die anderen politischen Richtungen genauso. Kein realer Mensch, keine reale Partei entspricht dem Idealtyp vollkommen; der ist nur eine Konstruktion, dient dem Verständnis, ist keine Abbildung der Wirklichkeit.

  2. Vielen Dank für diesen Beitrag, den ich mit grossem Genuss und Gewinn gelesen habe.

    Vielleicht täusche ich mich, lese aber in Ihren Beiträgen zwischen den Zeilen eine tiefe Abneigung gegenüber dem Liberalismus.
    Wie mir scheint, braucht es einen guten Schuss Liberalismus um den ‘gottgewollten’ Zwängen des Konservativismus oder auch der Gleichmacherei des Sozialismus etwas entgegen zu setzen. Falls der Liberalismus wirklich ohne Tugend auskommt, heißt das doch, dass der Staat nicht darauf setzen darf, dass sich die Menschen ‘tugendhaft’ verhalten, sondern dass er den Einzelnen (oder auch die Gemeinschaft) vor der praktizierten ‘Untugend’ anderer schützen muss.