Evolutionsforschung interdisziplinär – Der kreative Mensch zwischen biologischer und kultureller Evolution

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Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Schon der studierte Theologe Charles Darwin erkannte den Evolutionsprozess als interdisziplinär – doch im 20. Jahrhundert setzten sich leider zeitweise Reduktionismus und Sozialdarwinismus durch. Auch in der Blogosphäre sind immer noch Stimmen zu hören, die am (Neo-)Darwinismus der 70er Jahre festhalten, nach dem “Evolution” ein nur biologischer Begriff sei.

Doch gerade auch in den vergangenen Jahren haben interdisziplinäre Perspektiven die Evolutionsforschung zum Menschen enorm nach vorne gebracht – nicht nur in Fragen der Religiosität. Verschiedentlich hatte ich dazu schon herausragende Bücher empfohlen – nun aber will ich auch das aktuelle Spektrum Spezial hervorheben.

Schon der Titel elektrisierte: “Der kreative Mensch. Zwischen biologischer und kultureller Evolution” Und das Erfreuliche: Das Heft hält, was es verspricht!

Kate Wong schildert, wie neuere Fossilfunde von der Malapa-Höhle bei Johannesburg wieder einmal den menschlichen Stammbaum (der mehr und mehr zu einem Stammbusch wird) in Frage zu stellen beginnen. Spannend sind dabei nicht nur die neuen Entdeckungen, sondern auch die Diskussionen darüber, dass auch Wissenschaftler Fakten nicht einfach feststellen, sondern immer auch bewusst und unbewusst interpretieren – jede(r) hätte nun einmal gerne einen direkten Vorfahren des Menschen gefunden. Lesenswert!

Michael F. Hammer zeigt auf, wie gerade auch neue Genstudien das noch in den Lehrbüchern gefeierte “Out of Africa”-Modell ergänzen: Offenbar haben sich die aus Afrika aufbrechenden Homo sapiens nicht nur mit den Neandertalern, sondern auch mit anderen außerafrikanischen Menschenzweigen vermischt. Statt der klassischen, linearen Verdrängungsgeschichte beginnen sich Umrisse einer noch viel komplexeren Vorgeschichte abzuzeichnen, deren Buchstaben wir nicht in Büchern, sondern in DNA-Proben und archäologischen Grabungen entziffern.

Nina Jablonski stellt den Forschungsstand zur Frage dar, warum wir unsere Fell verloren und weitgehend nackt sind – eine Frage, die schon Charles Darwin selbst beschäftigte und zunehmend interdisziplinär beantwortet wird.

Olli Arjamaa und Timo Vuorisalo stellen die “Evolution am Kochtopf” dar – eines dieser Themen, die die evolutionäre Wucht biokultureller Evolutionsprozesse eindrucksvoll beleuchten. (Kochen ist immer kulturell ausgeprägt und tradiert, wirkte aber enorm auf die Biologie und Anatomie unserer Art zurück.)

Biokulturelle Evolution oder Gen-Kultur-Koevolution (Schaubild, Blume 2009)

Heather Pringle zeigt die Funde auf, die entgegen lange gängiger Meinung belegen, dass die menschliche Kultur nicht erst mit einer “kulturellen Explosion” in Europa begann. Zenobia Jacobs und Richard Roberts bauen diese Befunde nicht nur aus, sondern beschreiben wiederum Afrika als “Wiege der Kultur”, mit unterscheidbaren, kulturellen Schüben.

Curtis Marean schildert die Forschungen zu einem rätselhaften Bevölkerungs-Flaschenhals von vor über 100.000 Jahren, der unsere Vorfahren an den Rand des Erlöschens brachte.

Rachel Caspari stellt die Befunde der Großelternforschung vor – ohne deren Evolution Menschen womöglich nicht so lange Kindheiten und so viel Intelligenz und Kultur hätten entfalten können. In einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft wie der unseren eigentlich Pflichtlektüre.

Ropert Sapolsky diskutiert, ob und wie die biologische Evolution des Menschen durch Technologie(n) verändert werden wird. Solche Spekulationen sind persönlich nicht so mein Ding, ich akzeptiere aber, dass manche voll darauf abfahren.

Das herausragende Heft schließt mit Forschungen aus der vorerst letzten großen Eiszeit: Jiri Svoboda schildert Skizzen einer Kultur von mährischen Großwildjägern von vor über 30.000 Jahren. Marylene Patou-Mathis stellt die Bedeutung von Mammuts für (einige) altsteinzeitliche Kulturen dar.

Marc Azema schildert die neueste Entdeckungen zu den Höhlenmalereien: In flackerndem Licht (wie den frühen Fackeln) verwandeln sich viele der kunstvollen Darstellungen in scheinbar bewegte Bilder. Haben wir unsere Vorfahren wieder einmal unterschätzt?

Kate Ravilious schildert schließlich das Auftreten verschiedener Symbole in der Höhlenkunst vergangener Jahrzehntausender, quer durch die Kontinente. Entwickelten die Menschen der Steinzeit bereits eine frühe Vorform von (Zeichen-)Schrift?

Dieses Spektrum Spezial kann selbstverständlich nicht alle Fragen beantworten – interdisziplinäre Evolutionsforschung ist nie “fertig”, sondern stets nur eine Annäherung an eine unendlich komplexe und faszinierende Geschichte. Hinter jeder gefundenen Antwort tauchen daher neue Fragen auf. Wenn Sie sich jedoch von Wissenschaft faszinieren lassen oder sogar mitforschen wollen, dann wurde dieses Heft genau für Sie geschrieben!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

5 Kommentare

  1. Evolutionsforschung

    Da sich noch keine von den Blogosphäre-Stimmen, »die am (Neo-)Darwinismus der 70er Jahre festhalten«, zu Wort gemeldet hat, werde ich mal einspringen und ein paar Gedanken zum Besten geben.

    Diese Stimmen sollen der Auffassung sein, „Evolution“ sei »ein nur biologischer Begriff«. Nun, in der Tat denkt man heute im deutschen Sprachraum bei diesem Begriff, wenn er alleine steht, in den allermeisten Fällen an die Darwin‘sche Evolution bzw. Evolutionstheorie(n). Dieser naturwissenschaftliche Evolutionsbegriff hat mit der Herkunft des Wortes („Entwicklung“) aber nichts mehr zu tun. Das wird häufig übersehen. Daneben ist es aber auch üblich geworden, allem und jedem das Mäntelchen „Evolution“ umzuhängen, wenn es irgendwie passend erscheint, und zwar meist im Sinne von „Entwicklung“. Zum Beispiel so: „Die Zukunft des E-Autos – Evolution statt Revolution“ (Thomas Puls in der Fuldaer Zeitung, 15. September 2011).

    Wenn es also in der Überschrift zu diesem Blog-Beitrag heißt: „Evolutionsforschung interdisziplinär“, dann werden die meisten fachfremden Leser zwar an die Evolution der Lebensformen denken, aber nicht im streng naturwissenschaftlichen Sinne, sondern im Sinne von „Entwicklung“. Insbesondere der phylogenetische Wandel vom Einzeller zum Menschen wird vom Laienpublikum—aus durchaus verständlichen Gründen—zumeist als „Entwicklung“ verstanden.

    In der Überschrift heißt es weiter: „Der kreative Mensch zwischen biologischer und kultureller Evolution“.

    Da stellt sich die Frage: Um welchen Evolutionsbegriff handelt es sich hier jeweils? Und weiter könnte man fragen: Wie sieht es bei einem Begriff wie „Gen-Kultur-Koevolution“ aus?

    Soviel zu den unterschiedlichen Evolutionsbegriffen, die in Umlauf sind. Vielleicht werde ich der geneigten Leserschaft in einem weiteren Kommentar erklären, warum „Gen-Kultur-Koevolution“ eine völlig missglückte Begriffsschöpfung ist.

    Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 🙂

  2. Neandertaler

    “Offenbar haben sich die aus Afrika aufbrechenden Homo sapiens nicht nur mit den Neandertalern, sondern auch mit anderen außerafrikanischen Menschenzweigen vermischt.”

    Wird dort auch auf die Neandertaler eingegangen? Ich habe dazu nämlich im Februar folgenden Artikel gelesen:

    http://www.scinexx.de/…ell-15540-2013-02-05.html

    Kurz gesagt, hatte eine Neudatierung der jüngsten Neandertalerfunde ergeben, dass die Neandertaler doch schon ausgestorben sein könnten, bevor der moderne Mensch nach Europa kam. Ich habe aber seitdem nichts mehr in die Richtung gelesen. Weiß da irgendjemand Neues oder wird sogar in dem Artikel darauf eingegangen?

  3. @Sebastian

    Ja, der Artikel thematisiert auch die Vermischung mit Neandertalern. Grundlage sind vor allem Genstudien, die immer mehr Menschenzweige unterscheiden können. Wir tragen als ethnische Europäer Belege für unsere Neandertaler-Ahnen bei uns, in unseren Genen. (Eine Zumutung für Möchtegern-Arier, klar…) 🙂

  4. Neanderthaler

    Es ist ja immer wieder putzig, wenn bei populärwissenschaftlichen Bebilderungen der Begegnung von Neanderthaler und modernem Menschen der “Neandi” mit dunklerer Hautfarbe dargestellt wird. Wo sich doch der “sapiens sapiens” ein Einwanderer aus Afrika war, während der Neanderthaler sich im eiszeitlichem Europa entwickelt hat, einen vergleichsweise größeren Hirnschädel hatte und einigen heutigen Mitteleuropäern (darunter meiner Frau und meinem Sohn) die roten Haare vererbt hat.

    Es kann also gut sein, daß so manches “arisches Rassemerkmal” nichts weiter ist als Neanderthaler-Erbe…

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