Denkanstöße – Wege zu einer Philosophie der Biologie

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Theologie im Dialog

Es ist nicht jedem Wissenschaftler gegeben, im Alter von 100 Jahren die Früchte eines langen Forscherlebens noch einmal in einem brillant geschriebenen Buch zusammenzubringen und zugleich Perspektiven für die Zukunft der eigenen Wissenschaft zu entwickeln. Dem großen deutsch-amerikanischen Evolutionsforscher und Ornithologen Ernst Mayr (1904-2005) war diese Krönung eines reichen Forscherlebens vergönnt.

Ein großartiges Buch von einem großartigen Forscher, der mit Recht als der Darwin des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird. Wer etwas über das Wesen der Evolution und den wissenschaftstheoretischen und philosophischen Status der Biologie erfahren will, der wird in diesem Buch, das alle zentralen Probleme der Evolutionstheorie souverän behandelt und in einer glänzenden wissenschaftlichen Prosa darbietet, reichlich Inspirationen finden. Das Buch stellt eine Sammlung von Aufsätzen dar, teilweise viele Jahre auseinanderliegend, die Mayr dennoch so gegliedert hat, dass der rote Faden und das zentrale Anliegen des Autors deutlich werden. Es geht Mayr in seinem letzten großen Werk um drei Dinge, erstens die Klärung dessen, was die Evolution eigentlich ist, zweites um die Besonderheit der Biologie im Verhältnis zu den „harten Naturwissenschaften“ wie Physik und Chemie und drittens um den daraus sich ergebenden wissenschaftstheoretischen Status der Biologie. Schauen wir uns diese drei Aspekte genauer an.

Was ist Evolution?

Im dritten Kapitel beginnt Mayr damit, die Besonderheit des Darwin’schen evolutionären Denkens dadurch zu verdeutlichen, dass er es von der vordarwinschen Denkstruktur strikt unterscheidet. Diese erkennt er vor allem in zwei Prinzipien. Zum einen ist es die Struktur typologischen Denkens in der Tradition Platons und Aristoteles‘ und zum anderen ist es das teleologische Denken. Besonderes Verdienst gebührt Mayr hier, weil er die Verwirrung um den Begriff der Teleologie durch eine klare begriffliche Unterscheidung verschiedener Arten von Teleologie beendet. Er unterscheidet schließlich fünf Formen von Teleologie, nämlich teleomatische Prozesse, teleonomische Prozesse, absichtsvolles Verhalten, angepasste Merkmale und kosmische Teleologie. Teleomatische Prozesse sind solche, die – durch Naturgesetze gesteuert – auf ein scheinbares Ziel hinsteuern, also z. B. das Fallen eines Steines zur Erde. Teleonomische Prozesse hingegen sind zielgerichtete Prozesse, die ihre Zielhaftigkeit einem evolutiv entstandenen inneren offenen, d.h. durch Erfahrung modifizierbares, oder geschlossenen, d.h. deterministisch ablaufenden, Programm verdanken. Zu dieser Gruppe gehören zum Beispiel Instinkthandlungen oder adaptive Reflexhandlungen. Absichtsvolles Verhalten erklärt sich selbst und angepasste Merkmale sind solche, die unter dem Stichwort Fitness Teil der vordarwinschen Naturtheologie waren. Eine kosmische Teleologie, d.h. ein Ziel des Universums, lehnt Mayr ab. Aus der Zurückführung dieser vier Arten von Teleologie auf kausale Mechanismen (Naturgesetze oder rekursive Optimierungsprozesse) ergibt sich für Mayr, dass es keine Teleologie im Sinne vorgegebener Ziele gibt. Jedes Ziel ist kausal erklärbar und daher ist die Evolution auch – und das ist für Viele schwer zu verkraften – trotz der (scheinbaren) Komplexitätszunahme ziellos, allein durch das Selektionsprinzip gesteuert.

 

 

Im fünften Kapitel legt Darwin dar, dass diese Geistaustreibung der Teleologie aus der vordarwinschen Biologie weitreichende philosophische und weltanschauliche Konsequenzen hat. Die erste Konsequenz ist die vollkommene Säkularisierung der Wissenschaft, war doch gerade die Biologie bis Darwin in die natürliche Theologie eingebunden. Die zweite Konsequenz ist der ständige Wandel in der Welt. War bis Darwin das Prinzip der Konstanz – festgemacht an der Artkonstanz – das grundlegende Paradigma in der Wissenschaft, an dem sich Wandel rechtfertigen musste, so ist es seit Darwin umgekehrt: Da nun der Wandel das Paradigma ist, muss sich die Beharrung rechtfertigen. Die dritte Konsequenz ist die vollständige Naturalisierung des Menschen, d.h. die Beraubung seiner Sonderstellung innerhalb der Natur.

Vor diesem Hintergrund wendet sich nun Mayr der Frage zu, was denn nun eigentlich Evolution sei? Interessanterweise kommt er dabei nach der Analyse der Quellentexte Darwins zum Ergebnis, dass Darwin eigentlich fünf voneinander verschiedene Theorien von Evolution entwickelt habe, die gemeinsame Abstammung, der Gradualismus (d.h. die kleinschrittigen Veränderungen), die Zunahme der Artenzahl und schließlich die natürliche Selektion, wobei letztere sowohl von Gegners wie Befürwortern Darwins erst mit 80jähriger Verspätung akzeptiert worden sei. Ihr widmet er ein eigenes Kapitel, in dem er sich im klaren Gegensatz zu Richard Dawkins (das egoistische Gen) für den Phänotyp als Objekt der Evolution ausspricht und Selektion als zweistufigen Prozess aus Variation und Selektion erklärt. Er beleuchtet dann, wie im 20. Jahrhundert durch die Verbindung verschiedener neu neuentstandener Teilaspekte wie Genetik und Populationsdynamik schließlich die moderne Form der Evolutionstheorie auf genetischer Grundlage in Gestalt der synthetischen Theorie entsteht. Mayr beendet seine Überlegungen zur Evolution mit einer Skizze zum aktuellen Forschungsstand der Evolution des Menschen, in dem er alle relevanten Aspekte zur Sprache bringt, wie z. B. die Rolle der Klima- und Vegetationsveränderungen, Veränderung der Hirngröße, Geburt vor Ausreifung des Gehirns, der Übergang vom Lebensraum der Baum- zur Buschsavanne. Insgesamt entsteht so ein sehr kompliziertes Bild, in dem auch Sackgassen der Evolution des Menschen zur Sprache kommen. Evolutionsforschung wird ihm so zur Geschichtswissenschaft. Das führt zur nächsten Fragestellung, nämlich dem Verhältnis der Biologie zu den harten Wissenschaften.

Was ist Biologie?

Die Besonderheit der Biologie gegenüber Physik und Chemie ist immer wieder gefühlt worden und man hat versucht, diese Besonderheit der Biologie in besonderen Formen von Gesetzmäßigkeit (Teleologie) oder Kräften zu festzumachen (Vitalismus). Mayr lehnt beide mit guten Gründen ab und erkennt die Abhängigkeit der Biologie von Chemie und Physik voll und ganz an, ohne jedoch sie auf diese Wissenschaften reduzieren zu wollen (Reduktionismusproblem). Im zweiten Kapitel nennt Mayr vier Aspekte, die die Biologie von der Physik und der Chemie unterscheiden, die Struktur essenzialistisch-typolgischen Denkens, der Determinismus, der Reduktionismus und schließlich das Fehlen universaler Naturgesetze. Im Unterschied zu Physik und Chemie möchte Mayr daher in der Biologie lieber von Konzepten statt von Naturgesetzen sprechen. Diese Konzepte – sie sind das Proprium der biologischen Wissenschaft – sind u.a. Selektion, Evolution, Komplexität lebender Systeme, Populationen, Zufall, holistisches Denken. Schließlich kommt Mayr zu einem interessanten Fazit seiner Überlegungen zur Stellung der Biologie, wenn er schreibt:

Die Grenze zwischen Natur und Geisteswissenschaft verläuft mitten durch die Biologie.

(S. 53).

 

Dies führt zur letzten Frage, die Mayr umtreibt.

Welche Philosophie der Biologie brauchen wir? Welcher wissenschaftstheoretischen Status kann der Biologie als Wissenschaft zuerkannt werden? Welche Philosophie ist der Biologie als Wissenschaft angemessen? Bei dieser Fragestellung zeigt sich die ganze Klarheit, Tiefe und der Scharfblick des Denkens von Ernst Mayr. Neben einem kurzen Seitenblick auf Kant mustert Mayr vor allem zwei wissenschaftstheoretische Konzepte im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit auf die Biologie. Das erste ist das es kritischen Realismus Popper‘scher Prägung, das vor allem um den Falsifikationsmechanismus kreist. Mayr erkennt in dieser Besonderheit, dass das wissenschaftstheoretische Instrumentarium des kritischen Realismus auf die Biologie nicht anwendbar ist, weil die Evolution nicht mit Hilfe von falsifizierbaren Theorien durch Experimente nachgestellt werden kann. Vielmehr ist ihre Methode die der historischen, retrospektiven Rekonstruktion. In dieser Hinsicht ist die Biologie der Geschichtswissenschaft viel näher and den Naturwissenschaften.

Das zweite wissenschaftstheoretische Konzept ist das des Kuhn’schen Paradigmawechsels. Mayr prüft Kuhns These anhand der Geschichte der Evolutionstheorie und kommt zum Ergebnis, dass aufgrund des komplizierten Ineinander und Auseinander der fünf Teiltheorien der Evolution Kuhns Kernthese, dass auf eine kurze Phase eines radikalen Paradigmawechsels eine lange Phase der normalen Wissenschaft folge, in der das neue Paradigma ausgearbeitet werde, für Darwins Revolution nicht zutreffe. Dies ist aber nur ein äußerer Grund. Der innere und wahre Grund, warum Kuhns These auf die Geschichte der Evolutionstheorie nicht anwendbar ist, liegt in der Struktur des essenzialistisch-typologischen Denkens (Paradigma!) der Kuhn’schen Theorie selbst. Diese – so Mayr – sei eben noch ganz am alten am Gesetzesbegriff orientiert, das eben die Abweichung vom allgemeinen Typus (Gesetz, Form) ignoriere. Die ganze Physik, und Kuhn war Physiker, sei noch an diesem nun auf die Biologie nicht mehr anwendbarem Denken geprägt. Diesem essenzialistischen am Allgemeinen orientierten Denken ist aber der Gradualismus, die Variation und die Selektion als Form des Denkens geradezu entgegengesetzt. Daher, so könnte man sagen – und darin liegt das Ingeniöse des Arguments von Mayr – kann Kuhns Theorie des Paradigmenwechsels deswegen nicht mehr auf Darwin angewendet werden, weil es für Darwin gar keine Paradigmen mehr gibt, das Denken in Paradigmen als solches ist von Darwin bereits für die Biologie beendet worden. Bestenfalls könnte man von einem Paradigmenwechsel höherer Ordnung sprechen. Was aber bleibt dann für die wissenschaftstheoretische Verortung der Biologie, was bleibt für die Philosophie der Biologie für eine Option? Das Paradigma der Philosophie der Biologie kann daher nur ein nichtparadigmatisches Denken sein und dieses liegt allein im evolutionären Denken selbst vor.

Und aus diesem Grund kann dann für Mayr die Philosophie der Biologie nur eine evolutionäre sein, also die evolutionäre Erkenntnistheorie. Leider bleibt dies ziemlich unausgearbeitet, aber Mayr fasst seine Überzeugung von der Grundstruktur der Philosophie der Biologie folgendermaßen zusammen:

 

In der Wissenschaft, wie sie sich in ihrer derzeit akzeptierten Erkenntnislehre darstellt, findet Fortschritt ganz ähnlich statt wie in der organischen Welt während des darwinistischen Prozesses. Das heißt, auch erkenntnistheoretischer Fortschritt ist von Variation und Selektion gekennzeichnet.

(S. 178).

 

Dieses weiter auszuarbeiten wäre die Aufgabe der Philosophie der Biologie in Zukunft – zum Beispiel auch im Bezug auf den Wahrheitsbegriff. Das Buch Mayrs besticht durch seine profunde Kenntnis des letzten Standes der biologischen Wissenschaft und der Evolutionstheorie, der Wissenschaftsgeschichte und der Philosophie, sowie durch seine begriffliche Schärfe und seinen kompromisslosen Klarblick ohne ideologische Schieflagen – verbunden mit der seiner Fähigkeit, auch eigene wissenschaftliche Fehleinschätzungen ohne Koketterie zuzugeben. Ein wahrhaft großes Buch eines großen Forschers!

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Wolfgang Achtner ist Professor für Systematische Theologie an der an der Justus Liebig Universität Giessen, sowie Gründer und Direktor der Transscientia Instituts für interdisziplinäre Wissenschaftsentwicklung, Philosophie und Religion. Prof. Dr. Wolfgang Achtner

6 Kommentare

  1. Mayr

    Mich hat kein Evolutions-Buch so geprägt wie Mayrs “Was ist Evolution?” Der Forscher respektierte den Gegenstand bis zuletzt und setzte Detailarbeit ueber schnelle Schlagzeilen. Danke fuer diese Rezension – und Wuerdigung!

  2. Mayr /@Achtner & Blume

    Der Bewunderung für Ernst Mayr kann ich mich uneingeschränkt anschließen.

    Und im Gegensatz zu Ihnen beiden, Herr Achtner und Herr Blume, kann ich auch die evolutionsbiologischen Auffassungen Mayrs in allen Punkten teilen (soweit ich sie halt verstehe und nachvollziehen kann, bin ja schließlich kein Evolutionsbiologe).

    Ich muss zugeben, dass mich die durchweg positive Rezension überrascht hat, ich hätte an der einen oder anderen Stelle, wo Mayrs Ansichten nicht mit theologischen Ansichten kompatibel sind, Einwände erwartet.

    Aber so liest sich das Ganze, als bestünde in allen evolutionsbiologischen Fragen Konsens, insbesondere was das fehlende Ziel der Evolution angeht.

  3. Balanus-Mayr

    Ich habe mich in meiner Rezension strikt an die biologischen Themen gehalten, die Mayr in seinem Buch vorgegeben hat. Und da er selbst keinerlei theologische Anmerkungen gemacht hat, bis auf die Tatsache, dass Darwin die Biologie vollkommen säkularisiert hat, habe ich auch keine Veranlassung gesehen, theologische Themen künstlich an den Text heranzutragen. Ich habe mit dem wissenschaftstheoretischen Prinzip: “Etsi Deus non daretur” kein Problem. Man muss den lieben Gott nicht überall hereinzwängen wollen. Ich meine auch, dass Darwin durchaus ein theologischer Revolutionär war, insofern er das enge Denken Paleys, seines theologischen Lehrers, bei dem es ja letztlich um eine Art Gottesbeweis geht, geöffnet hat. Gottesbeweise sind seit Luther udn Kant in der evangelischen Theologie nicht mehr diskussionwürdig. Insofern ist Darwin theologisch gesehen eigentlich eine Befreiung gegenüber Paley. Er wirft allerdings andere und neue Probleme auf. Das entscheidende haben Sie angesprochen: Die Richtungslosigkeit der Evolution. Wie passt das mit der göttlichen Providenz zusammen? Auf diese Frage habe ich – ich bekenne es als Theologe offen – keine Antwort.

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