Braucht man für „Ökosystemdienstleistungen“ Ökosysteme?

Tagebücher der Wissenschaft

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Das Millennium Ecosystem Assessment bringt viele Beispiele für „Ökosystemdienstleistungen“. Eine Ökosystemdienstleistung ist z. B. das Bestäuben von Obstblüten durch Insekten. Wie ist das gemeint?

Offenbar so: Nicht eine von Menschen konstruierte Maschine nimmt die Bestäubung vor oder ein Mensch per Hand, so daß man sagen könnte, die „Dienstleistung“ erbringe eine Firma oder sie werde von Menschen erbracht, die man dafür bezahlen müßte. Die Bestäubung ereignet sich vielmehr von selbst, so wie die Sonne scheint oder die Schwerkraft wirkt, ohne daß man etwas dafür tun muß. So redet man aber in Texten wie denen des Millennium Ecosystem Assessments im allgemeinen nicht, vielleicht, weil es doch einige Mühe machen würde, die Dienstleistung, die die Erde dadurch erbringt, daß sie uns ermöglicht, auf ihr zu stehen, in Geld umzurechnen, und darum geht es ja. Statt „ereignet sich von selbst“ sagt man darum, „die Natur“ erbringe eine Leistung. Wenn man so spricht, kommen einem Beispiele wie das eben genannte, die einen auf den Gedanken bringen könnte, die Rede von “Dienstleistungen” in diesem Zusammenhang sei einfach Unsinn, nicht so leicht in den Sinn.

Damit es einem aber auch nicht gleich abwegig erscheint zu sagen, „die Natur“ erbringe eine Leistung, ist es außerdem gut, „die Natur“ als Ökosystem oder als aus Ökosystemen bestehend zu betrachten. Von einem Ökosystem scheint sich denken zu lassen, daß es ein „Akteur“ ist, jemand, der etwas tut. Offensichtlich ist das ein Anthropomorphismus, aber das soll uns hier nicht weiter interessieren. Jedenfalls kann man dann, wenn man aus der Natur oder dem Ökosystem einen Akteur gemacht hat, sagen: Es, oder die Natur, erbringt eine Dienstleistung. Und es ist – so die Behauptung der Ökonomen, die den Begriff der Ökosystemdienstleistungen in die Welt gesetzt oder zumindest verbreitet haben – vernünftig, sie in die ökonomischen Berechnungen einzubeziehen.

Nun ist die Bestäubung der Obstblüten, obwohl immer wieder genannt, kein gutes Beispiel, denn sie ist überwiegend eine Dienstleistung der Imker, die zu diesem Zweck ihre Haustiere einsetzen wie ein Kutscher seine Pferde, nur daß sie anders als der Kutscher diese ihre Leistung nicht vergütet bekommen (in Deutschland, anderswo schon).

„Schadstoffilterung durch Feuchtgebiete“ (Millennium Ecosystem Assessment) könnte ein besseres Beispiel sein. Angenommen, es ist überhaupt sinnvoll, von Ökosystemdienstleistungen zu sprechen, dann scheint es einen gewissen Sinn zu haben, wenn man sagt, daß das Feuchtgebiet, und zwar das Feuchtgebiet als Ökosystem betrachtet, diese Leistung der Schadstoffilterung erbringt. Ob es ökonomietheoretisch zulässig ist, von der Leistung des Ökosystems zu sprechen statt von der Leistung derjenigen, deren Arbeit sich das Feuchtgebiet verdankt – und falls keine Arbeit dafür nötig ist, es sich dann eben nicht um eine Dienstleistung handelt, sondern um die Verfügbarkeit von etwas, das ohne irgendeine Leistung da ist –, müssen wir hier nicht enscheiden. Es ist für unsere Frage unerheblich. Jedenfalls hat dieses Ökosystem unter vielen Wirkungen auch die, daß dem Wasser Schadstoffe entnommen und in der Phytomasse oder im Torf gespeichert werden.

Wer eine Wirkung dieses Ökosystems nutzt, nutzt also, solchen Sprachregelungen zufolge, eine „Ökosystemdienstleistung“. Legt man das Feuchtgebiet trocken, geht von der Fläche, auf der es sich befand, nicht mehr diese Wirkung aus, und auch keine andere Wirkung, die ein Spezifikum eines Feuchtgebiet-Ökosystems ist; es erbringt keine seiner „Dienstleistungen“ mehr.

Der Argumentationstrick liegt darin, daß die „Ökosystemdienstleistungen“ ins Feld geführt werden, um die Notwendigkeit zu zeigen, die Feuchtgebiete in ihrem derzeitigen oder einem früheren, naturnäheren Zustand – „intakt“ wird er meist genannt – zu erhalten. Die Behauptung, daß es bei vollständiger Beseitigung des Feuchtgebiets weder mehr möglich ist, auf der entsprechenden Fläche feuchtgebietsspezifische Vögel zu jagen noch Schilf zu ernten, daß auch keine Schadstoffilterung und keine CO2-Fixierung im Torf mehr stattfindet usw., trifft offensichtlich zu. Man soll aber daraus folgern, es sei wissenschaftlich erwiesen, daß ein Ökosystem, das alle diese „Dienstleistungen“ erbringt, also all die eines „intakten“ Feuchtgebiets-Ökosystems, nötig sei, um eine dieser „Dienstleistungen“, z. B. Schadstoffilterung, zu haben. Gerade bei dieser ist diese „Intaktheit“ aber überhaupt nicht nötig.

 

Man könnte den Begriff des Ökosystems anders definieren als es das Millennium Ecosystem Assessment tut und als es im Naturschutz üblich ist. Es gibt dann nicht auf der einen Fläche „das Ökosystem des Waldes“, auf einer anderen „das Ökosystem des Feuchtgebiets“, sondern ein Ökosystem ist das, was die Leistung der Schadstoffilterung erbringt, ein anderes ist das, welches für die CO2-Fixierung relevant ist, wieder ein anderes ist das, welches für die jagdbaren Tiere relevant ist, wieder ein anderes, welches dafür notwendig ist, daß alle für den Naturschutz wertvollen Arten dort leben können. Ein Ökosystem ist das System, das all die Leistungen erbringt, die für eine bestimmte Zweckerfüllung, welche wiederum mit einem bestimmten Bedürfnis oder Interesse verbunden ist, erforderlich sind. Das Interesse mag das des Menschen oder von bestimmten Menschen sein, es kann auch das „Interesse“ von bestimmten Tieren und Pflanzen sein (die natürlich von Menschen ausgewählt werden).

Aus dem Interesse an Schadstoffilterung ergibt sich ein System, das z. B. eine oder einige starkwüchsige Röhrichtpflanzenarten in großer Individuendichte enthält, aus den Interesse an der Erhaltung einer Population der Rotbauchunke ein erheblich anderes System. Das Vorgehen bei dieser Art von Abgrenzung von Ökosystemen ist nichts grundsätzlich anderes als beim „Feuchtgebiet als Ökosystem“ (als einem bestimmten Gebiet mit allen Organismen, die darin vorkommen), denn auch dieses ist aus einem bestimmten Interesse heraus – welches auch immer das gewesen sein mag – von anderen Gebieten als ein Ökosystem abgegrenzt worden, z. B. von angrenzenden trockeneren Wiesen und Wäldern oder von Gewässern, mit denen man es ja zu einem Ökosystem hätte verbinden können.

Macht man es so, d. h. definiert man das System explizit von einem bestimmten Anspruch her – in der Ökologie macht man es oft so, im Naturschutz aber kaum –, dann läßt sich mit dem Hinweis auf die Schadstoffilterung nicht mehr die Erhaltung des bestehenden Feuchtgebiets begründen, mit dem Hinweis darauf, daß bestimmte Küstenbewohner von der Fischerei leben, nicht die Erhaltung der Korallenriffe, mit dem Hinweis auf die CO2-Speicherung nicht mehr die der Wälder. Allenfalls pragmatisch könnte man unter manchen Umständen z. B. sagen: Es ist billiger oder politisch erfolgversprechender, die Wälder, so wie sie jetzt sind, zu erhalten, als sie in Eukalyptus-Forsten umzuwandeln, die die CO2-Speicherung auch erbringen. Im Prinzip aber ist die argumentative Verbindung von „intakten“ oder „naturnahen“ Ökosystemen und Ökosystemdienstleistungen nicht mehr möglich.

Man müßte statt dessen bei allen natürlichen Wirkungen, an denen ein Interesse besteht und an deren Verursachung Lebewesen beteiligt sind, deren Nutzung es also möglich macht (falls es überhaupt möglich ist, s. o.), von „Ökosystemdienstleistungen“ zu sprechen, fragen, welche Systeme es sind, die für diese Leistungen notwendig sind. Nie sind das die „intakten“ oder „naturnahen“ Ökosysteme, die der Naturschutz erhalten will – es sei denn, er definiert zirkulär gerade von seinen Interessen her, den Interessen an den „naturnahen“ Ökosystemen, die “Leistungen”, von denen aus dieses Ökosystem definiert wird.

 

Hinter der hier kritisierten Argumentation steckt eine bestimmte Auffassung vom Wesen des Ökosystems: Es ist ein Organismus höherer Ordnung (Superorganismus-Theorie). Wenn man eine bestimmte Wirkung eines Organismus haben will, dann braucht man den ganzen Organismus. Um Milch zu bekommen, ist die ganze Kuh nötig, nicht nur das Euter, und anders als durch Kühe kann man Milch, jedenfalls bisher, nicht herstellen. Und eine kleine Wunde am Hals kann die ganze Kuh umbringen. Diese Superorganismus-Theorie war in der Ökologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschend, gilt aber seit mehr als einem halben Jahrhundert als veraltet und als Ausdruck einer konservativen Ideologie. Kaum einer unter denen, die mit Ökosystemdienstleistungen in der hier skizzierten Weise argumentieren, würde sich, direkt darauf angesprochen, als Anhänger dieser Theorie bekennen. Wie man sieht, ist sie aber nach wie vor hochwirksam.

 

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

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