Die Relevanz des Wissens*

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

In der Vor-Internet-Zeit wurde Wissen auf Papier gesammelt und veröffentlicht, ein teures Unterfangen. Selbst wirklich umfassende Lexika wie die Encyclopaedia Britannica, die mit zwei alphabetischen Indexbänden und einem Propaedia genannten Wissensbereichindex immerhin auf 32 große Bände kommt, mussten entscheiden, was wirklich wichtig ist. Einbändige Konversationslexika waren natürlich noch weiter eingeschränkt.

Der Computer erleichterte die Arbeit der Lexikographen, er machte sie günstiger, viel günstiger. Fehler werden schneller korrigiert, neue Informationen zeitnah hinzugefügt, Daten können jederzeit abgerufen werden. Auch wenn Speicherplatz praktisch unendlich ist, braucht er viel weniger Raum und kostet vergleichsweise nichts. Die gedruckte Encyclopaedia Britannica benötigt bei mir einen eigenen kleinen Schrank, 40 cm x 78 cm x 100 cm, und die in ihr enthaltenen Daten stammen aus dem Jahr 1994. Glücklicherweise war noch ein wenig Platz im Schrank, so dass Jahresbände, die Ereignisse bis 2003 abdecken, auch noch knapp rein passten. Gekostet hat mich das ganze damals mehrere 1000 DM.

Neben meinem Schreibtisch liegt eine unscheinbare DVD-Hülle mit einer Scheibe drin, die EB 2009; Kostenpunkt € 45. Da sich sowohl die Kostenstruktur als auch Einnahmen und Konkurrenzsituation für den Verlag verändert haben, gibt es selbst die gedruckte Enzyklopädie heute für etwa € 500 – immer noch zehnmal soviel wie die DVD kostet.

Die enzyklopädische Idee

Nun geht es bei Enzyklopädien nicht in erster Linie um Kosten, sondern darum, das Wissen der Welt zusammenzufügen und einfach zugänglich zu machen. Eine Idee der Aufklärung, als Rationalität Gottglaube ablösen sollte. Denker wie Diderot waren der Ansicht, eine vernünftige Erklärung der Welt und ihrer Phänomene setzte voraus, Zugang zu allen Fakten zu haben. Er schuf die erste Sammlung ‘allgemeinen Wissens’ – die Enzyklopädie.

Was gehört in eine Enzyklopädie?

Kurze Antwort: Alles. Sofern es korrekt ist. Etwas feuilletonistischer: Das gesammelte Wissen der Welt. Wenn der Platz begrenzt ist, muss eine Redaktion aus Experten entscheiden, dieses ist wichtig, jenes nicht, dieses wird nicht aufgenommen, jenes braucht viel Raum. Die dabei benutzten Kriterien müssen transparent und nachvollziehbar sein, sie müssen immer wieder Überprüft und gegebenenfalls geändert werden.

Selbstverständlich darf langfristig nichts Falsches im Lexikon stehen. Alleine daraus ergeben sich genügend Streitpunkte. Der Ansatz der Wikipedia – die keinerlei Platzproblem hat! – hilft hier enorm weiter. Zwar kann jeder minderbegabte Ideologe seinen halbgaren und lächerlichen Blödsinn in die Enzyklopädie reinschreiben, aber verewigt wird er nur im Diskussionsfaden. Wir leben im Innern einer Kugel? Die Erde ist eine Scheibe? Der Holocaust hat nicht stattgefunden? Barack Obama ist gar kein geborener Amerikaner? Elvis lebt und arbeitet als Brötchenwender bei einem Wend’s in Ohio? John Lennon wurde in Wirklichkeit von Außerirdischen entführt? Das alles hält sich nur bei fringe lunatics lange, nicht in der Wikipedia.

Wen interessiert’s

In einer Diskussion wurde ich einmal gefragt, ob das Geburtsjahr der Schwester in die Wikipedia gehört. Kommt drauf an. Wenn Persönlichkeitsrechte verletzt werden, dann nicht. Natürlich gibt es Grenzfälle bei Personen des öffentlichen Lebens, aber diese werden meist vor Gericht geklärt. Unerheblich ist, ob die Daten der Schwester – soweit geltendes Recht eingehalten wird – relevant erscheinen. Ein Datum ist von Belang, wenn irgendjemand sich dafür interessiert. Es spielt keine Rolle, ob ich oder Administratoren oder mein Nachbar Schwesterlein als wichtig ansehen.

Woher wissen wir denn jetzt schon, ob ein Fakt nicht nächste Woche für viele Nutzer zu einer wichtigen Information wird? Daten werden erst durch Verknüpfung mit anderen Daten relevant, sie werden dadurch zu Informationen. ‘Gras’ ist ein Datum ohne Relevanz, erst wenn ich das kombiniere mit einem anderen Datum, z.B. ‘grün’ wird es eine Information.

Ich wurde auch gefragt, ob jede Straßenlampe in der Wikipedia verzeichnet sein soll, und ich bleibe dabei: Ja. Auch hier gilt, wenn es jemand schreibt, und die Daten sind überprüfbar korrekt, gibt es keinen nachvollziehbaren Grund Artikel über einzelne Straßenlampen zu streichen. Dabei ist es völlig egal, ob die Artikel abgerufen werden. Wenn keiner über Straßenlampen lesen will, dann stören die Artikel auch nicht; man könnte soweit gehen zu sagen, da stören selbst Fehler nicht.

Zusammenhänge machen Relevanz

Wikipedia-Artikel sind kein Selbstzweck. Die Enzyklopädie sammelt das Wissen der Welt, stellt es ihren Nutzern zur Erleuchtung. Artikel, die keiner liest, mögen manchem überflüssig erscheinen, aber sie könnten wichtig werden. Artikel, die viel abgerufen werden, haben eine große Chance, recht schnell fehlerfrei zu sein. Die nicht gelesenen bleiben möglicherweise sehr lange fehler- und lückenhaft, was nur zeigt, dass hier kein Interesse vorliegt. Aber deswegen löschen?

Niemand ist gezwungen, die Wikipedia zu nutzen, weder passiv noch aktiv. Wer schreibend und korrigierend mitarbeitet, muss sich auf Dinge konzentrieren, von denen er etwas versteht. Kein aktiver, kein passiver Wikipedia-Nutzer muss sich um Themen kümmern, die ihn nicht interessieren.

Angeblich irrelevante Themen und Artikel schaden nicht. Ich sehe keinen nachvollziehbaren Grund solche Artikel zu löschen, sofern sie geltendem Recht entsprechen. Selbst Fehler oder Lücken sind kein Löschgrund; das Wesen der Wikipedia ist, mit der Zeit Lücken zu füllen, Fehler zu korrigieren.

Zum Vergleich

Die deutsche Wikipedia wird von mir nur selten aufgesucht, da sie regelmäßig weniger Daten aufweist als die englische. Es lohnt sich immer wieder, dem Link in der Spalte links zur englischen Wikipedia zu folgen.

Das ist übrigens kein systematisches Problem, sondern ein statistisches – es gibt ca. 200 Mio, die Deutsch sprechen und schreiben, aber um die 1,8 Mrd., die Englisch können. Also finden sich auch mindestens neunmal mehr Experten.

 

*Dies ist eine Überarbeitete Version eines Artikels, der ursprünglich in meinem anderen Blog es bleibt schwierig erschien.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

3 Kommentare

  1. Relevanz und Qualität

    Was mir bei Wikipedia auffällt ist, dass ihr eine klare Zielgruppe fehlt. Jeder Artikel macht im wesentlichen drei Phasen durch:

    Phase 1) Der Artikel ist trivial und fehlerhaft und eigentlich niemandem nützlich.

    In dieser Phase beginnen Autoren – Interesse vorausgesetzt – das Thema zu vertiefen und die Fehler zu korrigieren und langsam bildet sich als

    Phase 2) ein Lexikoneintrag heraus. In dieser Phase eignet sich der Wikipediaartikel dazu Laien eine Übersicht über das Thema zu geben. Das ist es, was man von einem guten Lexikon erwartet.

    Bei vielen Artikeln hört die Entwicklung hier aber nicht auf. Fachleute und solche, die sich für Fachleute halten, machen sich über den Artikel her und ergänzen ihn mit Formeln, Fachsprache und Spitzfindigkeiten. Damit erreichen wir

    Phase 3) den Enzyklopädieeintrag. Dieser Enthält zwar alles mögliche und unmögliche Wissen zu einem Begriff, er ist aber für Laien gar nicht und für Fachleute nur schwer verständlich.

    Meines Erachtens müsste ein Gesamtwerk eine klare Zielgruppe definieren, für die das Werk geschrieben ist. Die Redaktion der Wikipedia neigt dazu, einzelnen Einträgen die Relevanz abzusprechen und sie zu löschen. Es gibt aber keine starke Tendenz, die Relevanz innerhalb einer Artikels einzuschränken und zu unterscheiden, was Allgemeinwissen und was Fachwissen ist.

    Die Wikipedia hat zweifellos ihre Stärken. Durch ihre Offenheit bringt sie Inhalte ins Netz, die es ohne Wikipedia nicht gäbe. Ich denke aber, dass zusätzlich zur Wikipedia weitere Inhalte nützlich sind, die sich klare Ziele setzen. An was ich dabei denke, dürfte leicht zu erraten sein.

  2. Wenn die Wikipedia das ist, was ich oben angenommen habe, dann sollten die Artikel beide Zielgruppen ansprechen. Das ist ja im Aufbau der Beiträge auch angelegt, wird vielleicht – in der deutschen – nur zu wenig genutzt. Es gibt normalerweise vor dem Inhaltsverzeichnis eine Einführung in das Thema. Das kann mal nur eine Kurzdefinition sein, kann aber auch sehr viel mehr enthalten, quasi der Konversationslexikoneintrag.

    Unterhalb des Inhaltsverzeichnisses bietet das Grundgerüst der WP-Artikel auch reichlich Möglichkeit, ein Thema sinnvoll für verschiedene ZG aufzubereiten.

    Aber du triffst den Nagel auf den Kopf: Statt über Relevanz zu schwafeln, sollten sich die Damen und Herren Großbeiträger/-diskutierer lieber um die verschiedenen Qualitätsebenen kümmern.

  3. Wikipedia von morgen mit “Views”

    Anstatt einem Lexikon eine “Zielgruppe” zu verpassen, müsste es verschiedene Sichten auf das gleiche Lexikon geben und es müsste Extraktoren (spezielle Programme) geben, die unter Anwendung einer Sicht ein bestimmtes Thema und seine Zusammenhänge aus der Wikipedia extrahieren.
    Beispiel: Die Sicht/das Thema “Geschichte der antiken hellenischen Mathematik” würde beispielsweise aus dem Wikipedia-Artikel Pi die Namen von Ptolemäus, Archimedes und einigen anderen extrahieren und nach Querbezügen auch in anderen Wikipedia-Artikeln suchen, die mit antiker Mathematik zu tun haben.
    Würde Pi aber unter der Sicht Computer-Algorithmen untersucht und extrahiert werden, würden entsprechend andere Stellen ausgewertet werden.

    Die Wikipedia geht schon ein bisschen in diese Richtung: Es gibt Themenportale, zum Beispiel das Portal:Mathematik,
    es gibt einheitliche (?) Tabellen, beispielsweise hat der Eintrag für Deutschland eine Tabelle mit den Einträgen (unter anderem) Bruttoinlandprodukt, Einwohnerzahl, Fläche und solche Tabellen gibt es auch für alle anderen Länder.

    Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass man fachbezogene Lexika wie Joachims Quantenwelt zu einem Grossteil aus der Wikipedia extrahieren könnte.
    Viel besser wären die Voraussetzungen dafür, wenn die Wikipedia in der Form eines Semantic Web zur Verfügung stände.