• Von Dierk Haasis
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Keine Apologie für Becky Sharp

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Ist sie oder ist sie nicht böse und hinterhältig? William Makepeace Thackeray lässt in seinem Roman Vanity Fair keine einzige Figur heil davon kommen. Sowohl innerhalb der Handlung wie auch im Auge des Rezepienten verlieren alle – Geld und Stellung, teilweise das Leben in der Handlung. Beim Leser Sympathien.

Der allwissende – aber fehlbare! – Erzähler den Thackeray in seiner eigenen Person aufbaut,

What more has the Manager of the Performance to say?—To acknowledge the kindness with which it has been received in all the principal towns of England through which the Show has passed, and where it has been most favourably noticed by the respected conductors of the public Press, and by the Nobility and Gentry. He is proud to think that his Puppets have given satisfaction to the very best company in this empire. The famous little Becky Puppet has been pronounced to be uncommonly flexible in the joints, and lively on the wire; the Amelia Doll, though it has had a smaller circle of admirers, has yet been carved and dressed with the greatest care by the artist; the Dobbin Figure, though apparently clumsy, yet dances in a very amusing and natural manner; the Little Boys’ Dance has been liked by some; and please to remark the richly dressed figure of the Wicked Nobleman, on which no expense has been spared, and which Old Nick will fetch away at the end of this singular performance.

And with this, and a profound bow to his patrons, the Manager retires, and the curtain rises.1

macht selbst vor den Kindern im Buch nicht halt, der Sohn Amelias – das tugendhafte Gegenbild zur sozialen Aufsteigerin Rebecca Sharp [später Crawley] – stellt sich als verzogenes, eigensüchtiges Blag dar, das seine Wünsche auf Luxusbesitz über das Wohlbefinden der Familie. Selbstverständlich ist er damit das perfekte Abbild der Gesellschaft um ihn herum. Denn das ist die Vanity, die Eitelkeit, um die es Thackeray geht: Geld, Besitz und [erkaufter] Stand.

Zu Beginn des Romans ist Amelia Sedley Tochter eines erfolgreichen Börsianers, versprochen dem Sohn eines mindestens ebenso erfolgreichen Kaufmanns. Als ihres Vaters Investitionen sich durch historische Ereignisse verflüchtigen, wird er samt Familie von jenem befreundeten Kaufmann, dem Sedley zu Wohlstand verhalf, abserviert. Wer kein Geld hat, ist nichts. Ausser natürlich ein Schwindler, Halunke und Gauner.

Ihre beste Freundin Rebecca ‘Becky’ Sharp stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Das wird ihr immer wieder vorgehalten – Vater war “nur” Kunstmaler, die Mutter eine Tänzerin an der Oper. Obwohl sie mit Abstand die klügste, in gewisser Weise auch fleissigste Figur ihres Umfelds ist, wird sie immer nur an ihrer Herkunft gemessen, genau gesagt am fehlenden Wohlstand ihrer Eltern.

Dabei sind es zuerst jene, die selbst nicht höher auf der sozialen Leiter stehen, die Angestellten reicher Bürger und Adliger, die Becky geradezu instinktiv ablehnen. Die Besitzerin der Schule für junge Mädchen, die Amelia und Becky gemeinsam verlassen, ist ungebildeter als Becky, sieht sich aber weit über ihr stehend. Die Reichen brauchen alle länger, um Becky zu verabscheuen.

Über weite Strecken ist gar nicht klar, was Becky eigentlich getan hat, um die Verachtung zu verdienen. Zwar sagt uns der Erzähler in aus der Handlung gelösten Bemerkungen, wie schlimm sie sich verhält, aber zeigt es nie. Was er uns zeigt, ist eine junge Frau, die sich aus eigener Kraft in der Gesellschaft hocharbeiten möchte.

Becky ist immer höflich und zuvorkommend. Ihr Plan, die gesellschaftliche Leiter nach oben zu steigen, beginnt mit der Auswahl eines geeigneten Ehemannes. Der, den sie letztendlich heiratet – Offizier der englischen Armee, Sohn eines mässig wohlhabenden, exzentrischen Landadligen, mit Aussicht auf eine grössere Erbschaft –, ist ein Hallodri, ein Spieler. ein Mann, der nie etwas anständiges lernen musste, er würde ja erben und muss nicht arbeiten. Bis die Erbschaft ausfällt.

Von nun an nutzt Mrs Crawley [née Sharp] das wunderbare Kreditsystem der Zeit, in dem jene mit viel Geld nur mit ihrem guten Ruf zahlen. Alle paar Monate wird es nötig, Geld zu borgen oder Gläubigern eine Stundung abzuringen. Scheck ist in der Post. Einziger Unterschied zu anderen, die dasselbe tun: Becky hat gar nicht die Absicht zu zahlen. Das wird in der grossen Auseinandersetzung am Höhepunkt ihres Aufstiegs deutlich. Das Geld, das sie von anderen bekam, findet sich weitgehend unangetastet in ihrer geheimen Kasse.

Die Ereignisse rund um die Entdeckung der Barschaft durch ihren Mann sind die ersten, die Becky wirklich schlecht aussehen lassen. Heirat nach ökonomischen Kriterien war damals üblich, wird am Beispiel Amelias auch gezeigt. Beckys Versuche, ihren Mann mit seiner Familie zu versöhnen, die ihn nach der Hochzeit verstossen hat, sind selbst dann nicht böse, wenn man ihr Selbstsucht bzgl. der entgangenen Erbschaft unterstellt.

Doch Thackeray dreht selbst den grossen Bruch, der dem Leser mehrere Kapitel klar erscheint, um und gibt eine Erklärung, die Beckys Handlungsweise in einem guten Licht zeigt. Ihrer eigenen Aussage nach, hielt sie das Geld vor ihrem Mann versteckt, damit er es nicht verspielt. Ist das nur eine Ausrede oder die Wahrheit?

Zwei Dinge sprechen hier für Mrs Crawley. Zum einen hat sie das Geld auch nicht angerührt. Ausserdem stellt sich die Erläuterung, weshalb sie sich mit dem angesehenen, vermögenden und vor allem einflussreichen Lord Steyne traf, als korrekt heraus. Beide erzählen unabhängig voneinander dieselbe Geschichte, weshalb sie sich trafen.

Thackeray gab seiner Satire den Untertitel A novel without a hero – und genau das ist der Roman. Es gibt keine Helden, keine Heldinnen, aber auch keine Bösen. Bestenfalls findet sich in Becky eine sehr moderne, gebrochene Heldin. Eine Frau, die gesellschaftliche Konventionen, denen sie nicht entspricht, nutzt, um in eben dieser Gesellschaft voranzukommen. eine self-made Frau, die an den Normen scheitert. Vorzuwerfen ist ihr, dass sie nicht schicksalergeben ist.

Die Suche nach einer Heldin oder einem Bösewicht in Vanity Fair ist müssig, weder Thackeray, der Autor, noch Thackeray, der Erzähler gehen so krude vor, eine künstliche Dichotomie herzustellen, aus der wir Leser eine einfache Moral ableiten dürfen. Noch einmal: Keine Figur im Roman kommt besonders gut weg. Es gibt aber auch keine Figur, die nicht etwas Sympatisches hätte.

In einer der schärfsten und lustigsten Passagen des Romans zeigt Thackeray den Hurrapatriotismus von Zivilisten, die nach Napoleon Bonapartes Flucht von Elba gen Belgien ziehen, um dort mit der Armee zu sein. Kaum deutet sich an, dass Napoleons Truppen im Frühsommer 1815 wieder erfolgreich sein werden, fliehen die Salon-Strategen und Sofa-Soldaten chaotisch wieder nach England. Während viele Soldaten, u.a. auch Amelias Ehemann, auf dem Schlachtfeld bleiben. Für immer.

Mag er sich noch so lustig machen über die Versuche der Figuren, mehr zu scheinen als sie sind, Thackeray unterscheidet sehr wohl zwischen echter und falscher Menschlichkeit.


Falls Leser/innen schulpflichtige Kinder haben und den Roman im Unterricht durchnehmen, ersparen Sie ihnen viel Ärger, wenn Sie die 2004er Filmversion von Mira Nair mit Reese Witherspoon meiden. Die Interpretation Beckys als Opfer ist denn doch ein wenig weit hergeholt. Ausserdem wurden weite Teil des Buches so weit zusammengestrichen oder ganz weg gelassen, dass die Handlung keinerlei Sinn mehr ergibt.


Lohnenswert ist hingegen die Lektüre eines Aufsatzes von Zelma Catalan [das zweite Kapitel ihres Buches The Politics of Irony in Thackeray’s Mature Fiction2

Notes:
1. William Makepeace Thackeray, Vanity Fair, 1848. Aus dem Vorwort ‘Before the Curtain’.
2. 3. Auflage, 2009 bei Britannica and St. Kliment Ohridski University Press of Sofia, Bulgaria

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?