Lesefortschritt

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Vor einigen Tagen machte die statistische Aufbereitung des Leseverhaltens von Kindle-Besitzern die Runde. Nein, nicht des Leseverhaltens, wie Markus Pössel erläutert, sondern des Markierverhaltens.

Der so genannte Hawking-Index wird in den [deutschen] kulturpessimistischen Medien fälschlicherweise als Mass dafür genommen, wie wenig die Menschen lesen – sie kaufen sich die SPIEGEL-Bestsellerliste rauf und runter, um die Werke dann auf dem Kindle versauern zu lassen. In mach Fall mag das sogar stimmen, auch wenn ich nicht so recht sehe, wo der Sinn darin liegt, Thomas Pikettys fette Ökonomieschwarte elektronisch zu haben, wenn man sie nicht liest. Gedruckt im Regal kann man damit angeben.

Viel interessanter finde ich allerdings etwas Anderes, das Markus nur sehr sanft kritisiert. Der Hawking-Index ist weder konzeptionell noch mathematisch besonders herausfordernd.1 Trotzdem gelang es einer angesehenen deutschen Tageszeitung nicht, ihn korrekt darzustellen, geschweige denn zu interpretieren. Einer Tageszeitung mit konservativem Anstrich und angeblich hoher Kompetenz z.B. bei Wirtschaftsthemen oder im gesellschaftspolitischen Bereich.

Beide Themen sind ohne eine gehörige Portion Wissen über Statistik nicht zu analysieren. Als Leser darf, ja muss ich mich oft, darauf verlassen, dass die Autoren mit den Zahlen und Werkzeugen zur Bearbeitung der Zahlen umgehen können. Das ist Kompetenz. Wer das kann, sollte auch den Hawking-Index verstehen – und entsprechend korrekt darüber schreiben.

Bleibt die Frage, ob der FAZ-Artikel bewusst ignoriert oder auf echter Unkenntnis basiert. In beiden Fällen eine erhebliche Erschütterung der Macht, ‘tschuldigung, des Vertrauens in eine Zeitung, hinter der sich angeblich immer ein kluger Kopf versteckt.

 

[Edit 15. Juli 2014, 18:30 Uhr]

Dank an Frank Wappler, der mich auf einen Tippfehler im Namen des französischen Ökonomen aufmerksam macht. Ist jetzt korrigiert.

Notes:
1. Falls Sie Pössels Artikel immer noch nicht gelesen haben, wird es aber Zeit.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

1 Kommentar

  1. Dierk Haasis schrieb (14. July 2014):
    > Falls Sie [Markus] Pössels Artikel immer noch nicht gelesen haben, wird es aber Zeit.

    […]*

    p.s.
    Der Autor der letztens wohl meistverkauften Ökonomieschwarte heißt Thomas Piketty.

    *[Dierk Haasis: Wenn Sie jemanden beschimpfen wollen, tun sie es bitte nicht hier.]