Literaturwissenschaft ist doch kein Wunschkonzert

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Literaturwissenschaftler gelten oft als Schwätzer. Schon in der Schule werden jene, die in Deutsch oder Englisch etwas zu sagen haben, gerne schief angesehen. Das ist verständlich, gibt es doch anders als in den Naturwissenschaften keine klaren Kriterien, was richtig und was falsch ist. Literarische Texte leben von der Interaktion zwischen Autor und Leser – mit allen Widrigkeiten, die sich daraus ergeben.

Solange der Schöpfer eines Werkes lebt, kann er sich tatsächlich mit seinen Lesern unterhalten, kann Fragen beantworten, kann seinen Roman, seine Kurzgeschichte oder sein Lied interpretieren. Er sollte es nicht, aber er kann es. Schwierig wird das bei toten Dichtern. Shakespeare kann uns nicht über seine Einstellung zum Judentum aufklären; wir müssen mit seinen Theaterstücken vorlieb nehmen. Ob diese wiederum seine Ansichten widerspiegeln oder die seiner Figuren, ist alles andere als klar.

Interpretationsspielräume

Selbstverständlich haben Wörter unterschiedliche Bedeutungen, abhängig vom Zusammenhang, in dem sie stehen, sei es ein historischer, gesellschaftlicher oder ästhetischer. Wir dürfen nie den Text selbst aus den Augen verlieren! Was dort steht, ist die einzige Gemeinsamkeit, die wir haben, seien wir Komparatisten, Ästhetizisten, Pragmatiker, Marxisten, Feministen oder Ausübende einer von Dutzenden anderer Theorien. Einzige Ausnahme sind Dekonstruktivisten – für die ist es völlig egal, was auf der Seite steht, denn es ergibt sowieso keinen Sinn.

Interpretieren nun verschiedene Menschen einen Text, ist es unvermeidbar, dass jeder andere Dinge in den Mittelpunkt stellt. Was die eine klar sieht, übersieht der andere, bis er drauf gestoßen wird.

Hier spielt die Musik

Vor ein paar Tagen sagte mir jemand, der folgende Song sei sexistisch:

Natürlich! Wünschen und hoffen soll die Frau, damit aus ihrem Leben was wird – wenn der Mann der Träume sie endlich freit. Klingt oberflächlich nach einem klassischen Sehnsuchtsschlager. Und jetzt hören wir mal etwas genauer hin und achten nicht nur auf Titel und Refrainzeile. Der Einfachheit halber hier der Text zum Nachschlagen:

Wishin’, and hopin’, and thinkin’, and prayin’,
Planning and dreamin’ each night of his charms.
That won’t get you into his arms

So if your’re looking for love you can share
All you gotta to is hold him, and kiss him, and love him,
And show him that you care.

Show him that you care just for him.
Do the things that he likes to do.
Wear your hair just for him, ’cause,
You won’t get him, thinkin’ and a prayin’,
Wishin’ and hopin’.

‘Cause wishin’, and hopin’, and thinkin’, and prayin’,
Planning and dreamin’ his kisses will start.
That won’t get you into his heart!

So if you’re thinking how great true love is
All you gotta to is hold him, and kiss him, and squeeze him, and love him.
Yeah, just do it!
And after you do, you will be his.

You gotta show him that you care just for him.
Do the things that he likes to do.
Wear your hair just for him, ’cause,
You won’t get him, thinkin’ and a prayin’,
Wishin’ and a hopin’.

‘Cause wishin’, and hopin’, and thinkin’, and prayin’,
Planning and dreamin’ his kisses will start.
That won’t get you into his heart!

So if you’re thinking how great true love is!

All you gotta to is hold him, and kiss him, and squeeze him, and love him.
Yeah, just do it!
And after you do, you will be his.*

Ein wenig Zeilenschinderei

Ich habe einige Zeilen herausgehoben, jene nämlich, die mir sofort ins Ohr fallen. 1963 singt eine Frau also davon, aktiv zu werden, selbst was zu tun, eben nicht in alter Girl-Pop-Manier rumzusitzen und zu warten. Sie gibt auch eine deutliche Bedingung dafür aus: if you’re thinking how great true love is! Es wird nicht vorausgesetzt, dass Frauen an nichts Anderes denken, als an die wahre Liebe, aber falls jener dort die große Liebe ist, lass sie nicht an dir vorbei gehen. Greif dir den Kerl, zeig ihm, was du von ihm hältst, er muss merken, was du für ihn bist.

Und dann gibt es die Zeile Show him that you care just for him. Hier wie in den konkreten Anweisungen, wie der Kerl denn zu überzeugen sei, ist sicherlich Spielraum für Interpretation. Sind es typische Topoi von Liebesliedern? Soll hier doch die Unterordnung der Frau unter den Mann gepredigt werden? Ich tendiere zur ersten Variante, schließe die zweite aber nicht aus, da sie direkt aus dem Text belegbar ist.

Hier wird’s deutsch

Eine interessante Entdeckung habe ich noch gemacht, auch Dusty Springfield hat den deutschen Markt mit einer eigenen Version desselben Songs beehrt. Ich weiß nicht, ob sie den deutschen Text verstanden hat … oder ob Hal David ahnte, was aus seinem frühfeministischen Poem wurde:

Zum Vergleich auch hier die Lyrics:

Warten und hoffen
Und hoffen und warten
Sehnen und Träumen  
Tag aus und Tag ein
Denn einmal ist jeder allein

Das Glück ist überall  
Weit und nah
Darum muss du immer
Warten und hoffen und träumen  
Auf einmal ist es da

Und fragst du den Wind und das Meer
Sag mir wann, wann kommt er
Dann sagt der Wind und das Meer, oooohhh

Du muss warten, warten und auch hoffen
Hoffen und auch träumen

Nur warten und hoffen
Und hoffen und warten
Sehnen und Träumen  
Tag aus und Tag ein
Dann bist du bald nicht mehr allein

Dann wird die Zukunft schön  
Jahr aus, Jahr ein*

Ganz offensichtlich war die deutsche Gesellschaft Anfang-Mitte der 1960er noch lange nicht so weit, so emanzipiert, wie die britische oder die amerikanische.

 

 

*Lyrics von http://www.metrolyrics.com/, slightly cleaned up

  • Veröffentlicht in: Musik

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

5 Kommentare

  1. You will be his

    Und nachdem die moderne Frau aktiv geworden ist, gehört sie ihm. Klingt mir nicht besonders anti-sexistisch.
    Ich gebe dir aber recht, es ist eine Anweisung dafür, wie man eben nicht nur wünscht und hofft.

  2. “Yeah just do it”: Lost in Translation

    Der Vergleich der englischsprachigen mit der übersetzten deutschen Version ist tatsächlich frappierend: Egal wie man die Aussage in Bezug auf das Geschlechterverhältnis interpretiert, die deutsche Version hat mit dem Original sehr wenig zu tun. Der deutsche Schlüsselsatz – der auf den alles hinausläuft – ist doch: Warten und hoffen und träumen Auf einmal ist es da während der Schlüsselsatz im Original wohl dieser ist: Yeah, just do it!

    Es geht auch um etwas ganz anderes in der deutschen Version: Es geht um das Glück, darum nicht mehr allein zu sein. Es ist also nicht nur eine entsexualisierte sondern sogar eine entpersonalisierte Aussage ganz im Gegensatz zum Original, wo es darum geht, sich nicht nur das Glück, sondern sogar den zukünftigen Liebhaber und Mann einfach zu nehmen.

  3. Gutgemeinte (?) Zensur

    Die deutsche Übersetzung kann durchaus als Zensur aufgefasst werden – und in gewissen Punkten in Übereinstimmung mit der Zensur in der DDR, liest man doch zur Musik der DDR etwas, was wohl auch in den Hinterköpfen vieler bundesdeutscher Erziehungsberechtigter und Volkserzieher vorzufinden war:


    Westliche Tänze wie Boogie-Woogie und Rock ’n’ Roll wurden in den 1950er Jahren noch als barbarisierendes Gift des Amerikanismus angesehen, der die Gehirne der Werktätigen zu betäuben drohe, der die niedrigsten geilsten Instinkte wecke

    Die deutsche Übersetzung verkehrt die ursprüngliche Aussage von wishin&hopi in ihr Gegenteil und verrät damit auch wie man sich das deutsche Mädel wünschte – verträumt, zurückhaltend, passiv, wartend. Das war wohl das Ideal sowohl im Westen als auch im Osten.

  4. Nachgefragt

    Ich kann mir nicht helfen, aber mir kommt auch das englische Original etwas unheimlich vor, unheimlich un-emanzipiert. Vielleicht verstehe ich die englischen Nuancen zu wenig. Doch so wie ich’s verstehe, scheint mir der Song darauf zu zielen:
    Ja, die Frau möge selber was unternehmen. Doch was? Alles ausschließlich ihm zu Gefallen. Alles nur für ihn, alle Sorge nur um ihn … Selbst die Haare nicht für sich, nur für ihn.
    Ob das das Wahre ist? Oder habe ich’s total falsch verstanden?
    Na, ein bisschen spät diese meine Reaktion. Aber wenn sonst niemand diese Frage stellt – möchte ich die Frage gestellt haben.

  5. @Hermann Aichele

    Ganz falsch liegen Sie da nicht – es handelt sich halt um ein Liebeslied in romantisch-idealistischer Tradition. Da ist dieses ganze ‘dem anderen gehören’ ein Standardmotiv, mal so wie hier, mal ‘und er gehört dir’. Es findet sich beides. Wir finden das ganze unabhängig vom Geschlecht des Interpreten bzw. der Erzählerfigur.*

    Mein liebstes Beispiel – aus anderen Gründen allerdings – ist ‘I Will Follow Him’, das bereits in der weiblichen Fassung nicht nur aus feministischer Sicht sehr problematisch ist. Noch übler wird es allerdings, wenn es von Männern nur minimal geändert [‘I Will Follow Her’] vorgebracht wird.

    *Übrigens ist das der Grund, weswegen ich die ‘true love’-Zeile auch herausgehoben habe. Das ist ein Konditionalsatz, der es der Frau offen lässt, ob sie sich überhaupt so verhalten möchte.