Zeit und Veränderung

BLOG: Das Sabbatical

Abenteuer Auszeit
Das Sabbatical

P1020618In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so viel frei verfügbare Zeit gehabt. Langweilig ist das keineswegs. Es gibt immer etwas zu tun, zu lernen oder zu bedenken. Dabei dehnt sich die Zeit. Sie wird intensiv und schwer. Ablenkung ist nicht so leicht zu finden, ich bin auf mich selbst zurückgeworfen – im Angenehmen und im Unangenehmen.

Knapp vier Monate bin ich hier in meinem Sabbatical und ich spüre, wie sich die Unruhe von Veränderungen breit macht und dass die fundamentaler sein werden als eine Auszeit in Peru. Ich will wesentlicher werden. Mehr wertschätzen, was ist, weniger in meinen Wünschen und Vorstellungen leben, sondern unbeschwerter im Jetzt. Aber das fällt ungeheuer schwer und ist vielleicht der größte Ballast, die schwierigste Aufgabe, die ich mitgebracht habe. Die Stille in mir selbst zu finden. Abschiednehmen vom Getriebenen und den Fragen: Was wird sein? In ein paar Monaten oder wieder zurück in Deutschland? Als wer werde ich zurückkommen und wie?

“Ab 50 Jahren gehört eine Frau sich selbst”, sagt eine Peruanerin und nimmt mich an meinem Geburtstag in den Arm. Ich blicke sie an, die dreifache Mutter, deren Mann im Strafvollzug arbeitet und alle paar Jahre im Land herum versetzt wird. Drei Kinder hat sie großgezogen und immer gearbeitet, zwei Jahre gehen noch ins Land, bis sie mir zum halben Jahrhundert nachfolgt und sie freut sich drauf.

Peruaner haben nicht viel Vertrauen in den Staat, noch weniger in die Behörden und die Polizei. Deshalb setzen sie auf Familie und Freunde. Das müssen sie auch, weil das Sozialsystem so löchrig ist, dass alleine jeder in der Gefahr schwebt, hindurch zu fallen. Es ist ein aufstrebendes Land, das seine Armut bekämpft. Aber es ist auch ein armes Land, in dem die sozialen Konflikte brutal aufbrechen. Wenn es, wie derzeit in Arequipa, darum geht, ob eine Kupfermine massiv expandieren kann (Tia Maria im Valle Tambo), und die Bauern um die Verseuchung ihres fruchtbaren Tales in der Nähe von Mollendo fürchten, dann werden die Schulen, Geschäfte und Krankenhäuser in dieser Region geschlossen und es gibt Tote.

Die Erkenntnis, dass man Geld nicht essen kann, ist vor allem in der Mittelschicht, die mehr und mehr dem Konsumrausch anheim fällt, nicht sonderlich verbreitet. Wer hier wandert und die Natur genießt, kann nur Tourist sein. Die Quechua und Aymara sind, wenn sie in den Städten leben, einfach nur froh, dass sie in der “Zivilisation” gelandet sind und nicht mehr riesige Entfernungen zu Fuß zurücklegen müssen. Dabei bietet diese Landschaft doch wahrlich meditative Augenblicke, die auch meiner von den vielen Veränderungen verunsicherten Seele Balsam geben.

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Und so ist Rainer Maria Rilke mit seinem wunderbaren Gedicht “In die Antwort hineinleben” derzeit mein Gefährte. “Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann”, so schreibt er. Und weiter: “Reifen wie ein Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte”.

“Mann muss Geduld haben, gegen das Ungelöste im Herzen und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben”, schenkt er uns an Weisheit und endet: “Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antwort hinein”. So will ich es halten.

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Ich bin von Natur aus neugierig, will Menschen und ihre Beweggründe verstehen und ich liebe gute Geschichten über alles: Das macht mich zur Journalistin. Ich möchte aber den Dingen auch auf den Grund gehen und verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält: Das erklärt meine Faszination für Wissenschaft und Forschung. Nach dem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft habe ich als Zeitungsredakteurin für viele Jahre das Schreiben zum Beruf gemacht. Später kamen dann noch Ausbildungen zur zertifizierten Mediatorin und zum Coach hinzu, die mich in meiner Auffassung bestärkt haben, dass das Menschliche und das Allzumenschliche ihre Faszination für mich wohl ein Leben lang nicht verlieren werden. Das Organisieren habe ich als Büroleiterin einer Europaabgeordneten gelernt, bevor ich im Juli 2012 als Referentin des Chefredakteurs bei Spektrum der Wissenschaft begonnen habe. Von dieser Tätigkeit bin ich nun erst einmal ab 1. Januar 2015 für ein Sabbatical beurlaubt. Und ganz gespannt, was das „Abenteuer Auszeit“ für mich bereithalten wird.

3 Kommentare

  1. Jemand hat mal geschrieben:

    Reifen heißt,
    mich zu entscheiden zwischen
    Aushalten und Fliehen,
    zwischen Festhalten und Loslassen,
    und zu lernen
    wann was passend ist.

    Nur so werde ich mich
    weder verausgaben
    noch unterfordern.
    So bleibe ich wach
    in Anspannung und Entspannung

  2. Ach, Du Liebe….! Du wirst wachsen und wachsen – und eines Tages auch in die Antworten hinein! Wenn ich fromm wäre, würde ich jetzt noch das Kirchenlied “Befiehl Du Deine Wege” draufsetzen (“Ihn, ihn laß tun und walten, er ist ein weiser Fürst. Und wird sich so verhalten, daß Du Dich wundern wirst (!), wenn er, wie ihm gebühret, mit wundersamem Rat, das Werk hinausgeführet, daß Dich bekümmert hat.”) Aber das lasse ich jetzt besser. Fromm-Sein ist ja ein bißchen out. 😉

  3. “… ich habe mich sooft gefragt, ob nicht gerade die Tage,
    da wir gezwungen sind, müßig zu sein,
    diejenigen sind, die wir in tiefer Tätigkeit verbringen?
    Ob nicht unser Handeln selbst, wenn es später kommt,
    nur der letzte Nachklang einer großen Bewegung ist,
    die in untätigen Tagen in uns geschieht?
    Jedenfalls ist es sehr wichtig, mit Vertrauen müßig zu sein,
    mit Hingabe, womöglich mit Freude.” (Rainer Maria Rilke) 😉

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