Das Heilige und das Profane

BLOG: Die Natur der Naturwissenschaft

Ansichten eines Physikers
Die Natur der Naturwissenschaft

Ein Leser meines Blogartikels "Über das geschichtliche Erbe Europas" sah sich in der Diskussion unter den Kommentatoren dieses Artikels zu einem Geständnis genötigt:  Er hielte den Kühlschrank für eine ebenso großartige kulturelle Errungenschaft wie Beethovens Siebte Sinfonie.  Diese Aussage ist für viele eine Provokation:  Einen profanen Konsumgegenstand stellt er auf gleiche Stufe mit einem Kulturgut der ganzen Menschheit,  er  vergleicht ohne Scheu einen Gegenstand, den man täglich gedankenlos benutzt, mit einer Sinfonie, der man in feierlichen Momenten andächtig lauscht und die in der säkularen Welt einen Nimbus genießt, die dem Heiligen in einer Religion ähnelt.
Was ist nun der Unterschied, was das Gemeinsame? Und warum empfinden das manche – zu denen ich allerdings nicht gehöre – als eine Provokation?

Das Gemeinsame  ist merkwürdigerweise am einfachsten auszumachen.  Beide, der Kühlschrank wie die Sinfonie, konnten nur entstehen, weil deren Entwickler oder Schöpfer auf den "Schultern von Riesen" d.h. vielen anderen Könnern ihres Faches standen.  Für die Entwicklung eines Kühlschrank musste man erst einmal erkennen, dass Wärme eine Form der Energie ist, und verstehen, was alles passiert, wenn Energie in dieser Form von einem System zum anderen fließt und warum sie fließt.  Man musste den Begriff der Entropie entwickeln, um  thermodynamischen Prozesse auch quantitativ beschreiben zu lernen und man musste schließlich auch dieses Wissen so nutzen können, dass eine solche Maschine effizient funktionieren kann.  Wenn man dafür die Zeit von den ersten moderneren Überlegungen zum Begriff der Wärme von Joseph Black im Jahre  1760 bis zu den ersten in Haushalten brauchbaren Kühlschränken in den USA um 1930 in Betracht zieht, sind das etwa 170 Jahre.  Viele Wissenschaftler, Ingenieure und Tüftler haben mit großer Hingabe auf diesem Gebiet gearbeitet, aus dem sich dann unter anderem  dieses technische Gerät ergab. 

Auch in eine Sinfonie fließt viel Wissen ein, was der Komponist durch seine künstlerische Ausbildung und  Entwicklung in sich aufgesogen hat.  Solch ein Kunstwerk ist  ja nicht ein reiner Ausfluss von Eingebung. Das meiste an einer Komposition ist auch mehr oder weniger harte Arbeit, gestützt auf viel Erfahrung und Kenntnis der Stile und Wendungen in den Werken der Vorgänger.  Der schöpferische Akt zeigt sich darin, wie man dieses Wissen nutzt und wie man es erweitert.  Auch hier ist viel Hingabe im Spiel. Hier weiß und akzeptiert dies sogar jedermann.
Der Aufwand, die geistige Anstrengung, die Abhängigkeit von einer Eingebung, die Notwendigkeit, das bisher Erreichte auf dem Gebiet zu verarbeiten,  das alles ist also ähnlich. Die Herstellung  der beiden  "Kunstwerke", ob Kühlschränk oder Siebte Sinfonie,  ist also eine ähnlich hohe kulturelle Leistung. Insofern hat der oben zitierte Leser mit seinem Geständnis  recht und so meint er es auch wohl. 

Aber warum erscheint uns der Kühlschrank so "profan", die Siebte Sinfonie so "heilig".  Warum haben wir überhaupt so ein Gefühl fürs Heilige, warum kann Mephisto  im "Faust" über den Pfaffen lästern, der gleich sieht, ob "das Ding heilig ist oder profan"? Was gibt uns die Siebte Sinfonie anderes als der Kühlschrank?  Diese Frage ist sicher besser bei einem Evolutions- oder Religionswissenschaftler aufgehoben als bei einem Physiker.  Aber ich will dennoch versuchen, mich an eine mögliche Antwort so weit wie möglich heranzutasten.

Es ist wohl die Wirkung auf uns, die so verschieden ist – beim Kühlschrank einerseits und bei der Siebten Sinfonie andererseits. Diese Wirkung hat nichts mit einer vielleicht unterschiedlichen Wertschätzung der kulturellen Leistungen zu tun, die bei der Entwicklung und Herstellung der jeweiligen "Kunstwerke" nötig waren.  Die Menschen können einen Kühlschrank benutzen und eine Sinfonie genießen, ohne etwas über thermodynamische Prozesse bzw.  Harmonie- und Formenlehre wissen zu müssen. 

Ein Kühlschrank erscheint uns in erster Linie nützlich.  Wir schätzen im Sommer die kühlen Getränke,  und stets die Möglichkeit, Lebensmittel  länger frisch zu halten.  Wenige wissen aber vermutlich, welch eine Erleichterung der Kühlschrank für die Hausfrauen unserer Großelterngeneration war. Der Kühlschrank ist ein Massenprodukt,  zu dem man keine persönliche Beziehung aufbauen kann, wenn man nicht gerade Axel Hacke heißt, der nachts mit seinem alten Kühlschrank Bosch über das Leben an sich philosophieren kann. 

Was die Siebte Sinfonie uns gibt, muss man keinem sagen, der musikalisch ist. Das Lied von Franz Schubert auf das Gedicht von Franz Schober drückt das so aus:  "Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden,  Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,  Hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden, Hast mich in eine bessre Welt entrückt! ", und dieses Entrücken in eine "bessre Welt "  ist fast noch schöner in heiteren Stunden.

Eine Sinfonie ist ein Unikat, trägt die persönliche Handschrift des Komponisten und steht uns damit "menschlich" näher.  Hier liegt eine erste Antwort nahe.  Wir können zu einer Sinfonie eher eine Beziehung aufbauen als zu einem Kühlschrank.  Wenn man sieht und hört, auf wie viele Arten eine Sinfonie von einem Dirigenten interpretiert oder  in Konzertführern erklärt wird, kommt man wohl zum eigentlichen Kern.  Es ist diese Offenheit für Projektionen und Gefühle, die uns anzieht.  Manche finden Trost, andere sprechen gar von Wahrheit – offensichtlich kann eine Sinfonie ähnliche Effekte wie eine Meditation erzielen.  Jedes Kunstwerk, ob in Literatur, Malerei oder Musik, hat diese Eigenschaft des Unbestimmten, und wir schätzen es  um so höher ein, wie stärker  es unsere Gefühle und Fantasie anregt und uns innerlich in Bewegung setzt. So wird ein Klassiker auch von jeder Generation neu entdeckt.

Welchen Sinn diese Vorliebe der Menschen im Lichte der Evolution ergibt, kann ich nicht sagen. Aber wie immer, hat auch diese Fähigkeit des Menschen ihre Schattenseiten. Sie kann ausarten in eine Liebe zu allem Unbestimmten, Mystischen, Geheimnisvollem und zur Verachtung aller Klarheit in Gedanken, Worten und Werken.  So wird dann alles Rationale, alles, was "mit rechten Dingen"  zu geht, banal und profan.  Alles, was so klar daher kommt, dass es keinen Spielraum lässt für eigene Spekulationen, die das Herz wärmen, wird zumindest ignoriert. Und Offenheit wird  zur Willkür. Wieder hat Goethe das in einer Metapher kurz und prägnant ausgedrückt:  Er lässt Mephisto  mit Blick auf Faust  frohlocken:  "Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft,  Lass nur in Blend- und Zauberwerken Dich von dem Lügengeist bestärken, So hab ich Dich schon unbedingt".

Die Wirkung auf uns ist also ganz anders. Die Siebte Sinfonie rührt uns an, kann uns dort, wo wir glauben, dass wir am meisten bei uns selbst sind, beeinflussen.  Sie regt unsere frei flottierbare Fantasie an und bindet sie gleichzeitig. Insofern fordert sie uns als kulturelle Wesen heraus,  kanalisiert aber gleichzeitig unsere Fähigkeit, zwischen Gefühlen und Einsichten Verbindungen herzustellen,  und lenkt sie in eine Richtung, die der Gemeinschaft zum Wohle dient. Sie ist also wichtig, einerseits um unsere Möglichkeiten auszuloten, andererseits  aber um nicht ins Uferlose abzugleiten. 

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Josef Honerkamp war mehr als 30 Jahre als Professor für Theoretische Physik tätig, zunächst an der Universität Bonn, dann viele Jahre an der Universität Freiburg. Er hat er auf den Gebieten Quantenfeldtheorie, Statistische Mechanik und Stochastische Dynamische Systeme gearbeitet und ist Autor mehrerer Lehr- und Sachbücher. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2006 möchte er sich noch mehr dem interdisziplinären Gespräch widmen. Er interessiert sich insbesondere für das jeweilige Selbstverständnis einer Wissenschaft, für ihre Methoden sowie für ihre grundsätzlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen und kann berichten, zu welchen Ansichten ein Physiker angesichts der Entwicklung seines Faches gelangt. Insgesamt versteht er sich heute als Physiker und "wirklich freier Schriftsteller".

5 Kommentare

  1. Ich tippe mal, das ist der Unterschied zwischen Nutzen und Unterhaltung. Der Nutzen gehört eher in den Bereich der Lebensbewältigung also zur Plicht. Die Unterhaltung ist eher ein Luxus und damit positiv belegt. Wer sie sich leisten kann ist offensichtlich fit und ein attraktiver Sexualpartner.

  2. Zugehörigkeit

    Musikalität ist besonders in Form des Gesanges eine Sprachform, welche der Kommunikation dient. Somit ist sie dem menschlichen Wesen zugehörig.
    Das ist ein Unterschied zu Geräten, wie dem Kühlschrank.

  3. Apropos Faust

    Der Augenblick, den er festhalten würde, war letztlich auch der seiner Ingenieurtätigkeit, als er den Hafen Bremens an der Wesermündung vollendete. Für mich als Bremer besonders charmant:

    “Eröffn’ ich Räume vielen Millionen,
    Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.
    Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,
    Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
    Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
    Verweile doch, du bist so schön!
    Es wird die Spur von meinen Erdentagen
    Nicht in Äonen untergehn.”

  4. Nachdenken…

    Darüber habe ich mir ja noch nie Gedanken gemacht… Aber ein sehr interessanter Vergleich…

    Und die Antwort ist einleuchtend!

    Es war wirklich spannend darüber Nachzudenken. Der Artikel ist so gut geschrieben, dass man sich selbst, bevor man sich die Antwort durchlist, Gedanken dazu macht.

    Ob am Ende das gleiche Fazit raus kommt, sei dahingestellt, aber eines ist sicher: Beides ist eine Bereicherung!!!

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