Keine Angst vor neuen Deutungsversuchen

BLOG: Die Natur der Naturwissenschaft

Ansichten eines Physikers
Die Natur der Naturwissenschaft

Die Erfolge der Naturwissenschaften werden heute allgemein anerkannt, zu deutlich zeigen sie sich im täglichen Leben, und auch in unseren Denkvorstellungen und Erwartungen haben sie tiefe Spuren hinterlassen.  Aber es wird auch immer wieder von den Grenzen der Methode der Naturwissenschaften geredet, davon, dass es "für den Menschen mehr gibt, als was man messen und wägen" kann, und es wird davor gewarnt, auch die heiligsten Gefühle durch rationale Erklärungsversuche "banalisieren" zu wollen.  Die moderne  Hirnforschung steht heute im Zentrum dieser Diskussion, insbesondere ihre Arbeitshypothese, dass unser Bewusstsein und damit unsere geistige Tätigkeit auf den Eigenschaften der Neuronen und ihrem Zusammenspiel in unserem Gehirn beruht, somit eine emergente Fähigkeit eines sehr komplexen Organs ist.  Bewusstsein und die Fähigkeit zu geistiger Tätigkeit ergeben sich nach dieser Vorstellung, wenn das Gehirn eines Lebewesens im Zuge der Evolution eine gewisse Komplexität erreicht. Die Paläoanthropologie zeigt verblüffend, auf wie viel verschieden hohen Stufen geistige Fähigkeiten in höher entwickelten Tieren schon vorhanden sind. Das Phänomen der Emergenz kennt man bei verschiedensten komplexen Systemen, die aus sehr vielen Konstituenten aufgebaut sind, sei es in der Physik der Gase und Flüssigkeiten oder in der Spieltheorie, die das Zusammenspiel von Agenten mit bestimmten Handlungsstrategien in Gesellschaften analysiert.

Diese Hypothese der Hirnforscher über die natürliche Herkunft des Geistes überrascht kaum einen Naturwissenschaftler, stößt aber auf heftigste Kritik bei manchen Philosophen und bei vielen Theologen. Sie vermissen bei all diesen Bemühungen, den Menschen allein als Wesen der Natur zu betrachten und damit unser Erleben und Fühlen neurobiologisch verstehen zu wollen, die angemessene Achtung vor etwas, was nach ihrer Meinung unverzichtbar zum Menschen gehört:  Die subjektive Seite der Erfahrung von Wirklichkeit, sei es im Gefühl der Freiheit oder eines freien Willens, sei es in Anerkennung von Werten oder in der Erkenntnis eines Sinns des Lebens in Form einer Religion. Man könne nie wissenschaftlich objektiv beschreiben, "wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein". Alles auf Stoffwechselvorgänge im Gehirn zurück zu führen, würde somit das "Menschliche" abschaffen. Eine Gesellschaft ohne Moral, Verantwortungsgefühl und Kooperation würde entstehen.

Ich  unterstelle keinem Hirnforscher, dass er sein eigenes Erleben und Gefühl für unwichtig hält und sein Leben für eine Illusion. Und dass die Frage, wie die Erste-Person-Perspektive und diejenige einer "dritten Person" zusammenhängen, höchst interessant ist, aber noch in keiner Weise geklärt, wird wohl auch von keinem bestritten. Auch kann man wohl nicht behaupten, dass all die Hirnforscher und die anderen Naturalisten schlechtere Menschen sind, dass es z.B. in der Gemeinschaft dieser moralisch drunter und drüber gehen würde.
Dass es mit der Autonomie in Bezug auf unsere Gefühle nicht so weit her ist, weiß jeder. Man "fällt in Liebe", man spürt, ob "die Chemie stimmt". Aber unsere Gefühle sind nicht nur "ein Spiel von jedem Hauch der Lüfte", sondern sie können auch bewusst von außen gesteuert werden. Man braucht ja nur ein Glas Wein zu trinken, und schon sieht die Welt ganz anders aus; es gibt Stimmungsaufheller und Medikamente gegen Depressionen. Auch diese künstlich erzeugten Gefühle nehmen wir an und zählen sie zu unserem Leben. Kennen wir nicht aus der Literatur und Oper genügend Beispiele, in der ein "Fläschchen" mit einer Droge "sehrende Liebe " oder  "Vergessen" erzeugt und die Handlung entscheidend voran bringt. Kein Mensch stört sich an der  biochemischen Erzeugung einer Liebe im "Tristan"; man gewinnt im 2. Akt wahrlich nicht den Eindruck, Richard Wagner wollte den Einfluss von Chemikalien auf Hirnprozesse darstellen. 
 
Ein Blick in die Geschichte

Andererseits, die Warnung vor Früchten vom Baum der Erkenntnis ist ja schon so alt wie die Geschichte der Menschen und immer prophezeit man, dass mit dem Neuen ein Verlust einher gehen wird, sei es an Mitmenschlichkeit, an rechtem Glauben, an einem friedlichen Zusammenleben in der Gesellschaft oder gar an Menschlichkeit überhaupt.  Man braucht dazu nicht nur an den Sündenfall im Paradies oder andere Mythen erinnern. Auch in der Renaissance, als Descartes begann, die Lehren des Aristoteles in Zweifel zu ziehen und als Galilei zu einer eigenen Meinung über die Auslegung bestimmter Stellen der Heiligen Schrift  kam, gab es Warnungen und Verbote derer, die die Deutungshoheit beanspruchten.  Um nicht immer Stimmen aus der katholischen Kirche zu zitieren, hier mal ein Zitat von einem reformierten Theologen, Gijsbert  Voetius, einem Gegenspieler von Descartes in Utrecht (zitiert nach F. Cohen: Die zweite Erschaffung der Welt". ):  "Wenn einmal das Wesen und das Dasein ihrer substantiellen Formen beraubt sind, dann ist der menschliche Geist in seiner Zügellosigkeit  [..] auf eine abschüssige Bahn geraten, und nichts hält ihn dann noch davon ab zu behaupten, dass es keine Seele gibt, […], keine Fleischwerdung Christi, keine Erbsünde, keine Wunder, […], kein Wirken von Dämonen im Körper des Menschen und in seinem Geist. "
Aus  der jüngeren Vergangenheit ist der Kampf der römischen Kirche gegen den "Modernismus" im frühen 20. Jahrhundert  zu nennen, der dazu führte, dass ab 1910 alle Kleriker einen so genannten Antimodernisteneid schwören mussten.  In diesem war u.a. zu bekennen, dass Gott mit Sicherheit erkannt und bewiesen werden kann, oder auch, dass Wunder und Prophezeiungen äußere Beweismittel sind.  Die Darwinsche Theorie wurde in diesem Modernismus-Streit vehement bekämpft.  Auch hier war die Sorge um die Relativierung kirchlicher Glaubensinhalte groß, und immer ist es die moralische Keule, die da geschwungen wird, immer wird vor einem  Zusammenbruch der Ordnung und des mitmenschlichen Zusammenlebens gewarnt.  
Natürlich ist das Erkennen von neuen Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten eine Sache, eine andere deren Interpretation und Konsequenz für das Weltbild. Dabei kann es auch Irrtümer und Übertreibungen geben: So glaubte man nach den großen Erfolgen der Newtonschen Mechanik, die ganze Welt bestünde aus Körpern und deren Wirkung auf einander durch Kräfte. Diese Einstellung zur Wissenschaft über die materielle Welt wurde später als Mechanisierung des Weltbildes oder als mechanizistische Weltanschauung bezeichnet .  Sie erwies sich bald als falsch, als man die elektrischen und magnetischen Effekte genauer untersuchte und verstehen lernte. So ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass die heutigen Interpretationen der Erkenntnisse der Hirnforschung in 20 oder 50 Jahren als nicht angemessen –  in welchem Sinne auch immer  –  angesehen werden. Das Wesentliche und Gleichbleibende an der Naturwissenschaft ist ja ihre Methode, Einordnungen der Ergebnisse in größere Zusammenhänge können sich wandeln, entwickeln sich stets weiter.

Folgen der Erkenntnis

Aber muss man dabei um das "Menschliche" fürchten? Schauen wir uns doch einmal an, was jeweils passiert ist nach den Warnungen, man braucht da gar nicht ins Detail zu gehen. Das Interessante ist: Viele befürchtete Entwicklungen sind in der Tat eingetreten, aber –  das war gar nicht schlimm, im Gegenteil, man ist dabei klüger geworden:  
In der Ansprache von Johannes Paul II an die päpstliche Akademie der Wissenschaften am 31.10.1992, in der erklärt wird, wie die Kirche das "Schmerzliche Missverständnis im Fall Galilei" überwunden  habe, lautet das so: "Die Mehrheit der Theologen vermochte nicht formell zwischen der Heiligen Schrift und ihrer Deutung zu unterscheiden, und das ließ sie eine Frage der wissenschaftlichen Forschung unberechtigterweise auf die Ebene der Glaubenslehre übertragen" und etwas weiter wird auf eine Enzyklika von Papst Leo XIII. hingewiesen, in der von zwei Wahrheiten geredet wird, die sich unmöglich widersprechen können, so dass ein Widerspruch nur auf einem Irrtum in der Deutung der heiligen Worte beruhen könne.
Papst Johannes XXIII hat 1962 im Vatikanischem Konzil das Aggiornamento, die Anpassung an die moderne Welt gefordert.  Der  Modernismus-Streit war somit längst entschieden, als 1967 endlich der Antimodernismus-Eid abgeschafft wurde. Die historisch-kritische Exegese in Bibelauslegung und Dogmengeschichte ist heute allgemein anerkannt und die Evolutionstheorie ist seit 1996 auch für die Kirche mehr als nur eine Hypothese unter anderen. Zwar ist ein einheitliches, alles beherrschendes Weltbild nicht mehr möglich, jeder legt sich seine Religion selbst irgendwie zurecht oder er legt sie sogar beiseite, aber dem Zusammenleben tut es keinen Abbruch, die Toleranz ist gestiegen.

Keine Angst

Natürlich haben sich auch unsere moralischen Einstellungen geändert. Wenn man sich heute daran erinnert, was vor fünfzig Jahren noch Sitte und Anstand erforderten, dann sieht man, wie schnell sich die Ansichten wandeln. Aber, ist dadurch "das Menschliche" auf der Strecke geblieben?  Unser säkularer demokratischer Rechtstaat funktioniert doch recht gut, auf jeden Fall besser als all die anderen Staatsformen, die man aus unserer Geschichte oder heute aus anderen Ländern kennt. Und er ist menschlicher, der Einzelne kann sich besser entfalten, hat mehr Möglichkeiten und mehr Rechte. Von einer Idealvorstellung ist die Wirklichkeit immer noch weit entfernt, aber was kann man erwarten? Maßstab für eine Deutung der Erkenntnisse, wenn sie das Menschenbild berühren, kann ja nur, sein, wie sich diese Deutung sich für das Zusammenleben auswirkt. Darüber muss rational unter Berücksichtigung allen verfügbaren Wissens diskutiert und nach den Regeln eines Rechtsstaat entschieden werden. Unsere demokratische Gesellschaft hat schon oft gezeigt, dass sie sich die Entscheidung in solchen Fragen nicht leicht macht.
Liebe und Verliebtheit, Treue, Freundschaft  und Verlässlichkeit, Hilfsbereitschaft und soziales Engagement wird es immer geben, einfach, weil das Leben lehrt, dass es gut tut und langfristig zu einem glücklicheren Leben führt. 

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Veröffentlicht von

Josef Honerkamp war mehr als 30 Jahre als Professor für Theoretische Physik tätig, zunächst an der Universität Bonn, dann viele Jahre an der Universität Freiburg. Er hat er auf den Gebieten Quantenfeldtheorie, Statistische Mechanik und Stochastische Dynamische Systeme gearbeitet und ist Autor mehrerer Lehr- und Sachbücher. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2006 möchte er sich noch mehr dem interdisziplinären Gespräch widmen. Er interessiert sich insbesondere für das jeweilige Selbstverständnis einer Wissenschaft, für ihre Methoden sowie für ihre grundsätzlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen und kann berichten, zu welchen Ansichten ein Physiker angesichts der Entwicklung seines Faches gelangt. Insgesamt versteht er sich heute als Physiker und "wirklich freier Schriftsteller".

20 Kommentare

  1. Beispiel Liebe

    Bei der hormongesteuerten Liebe kann man schon gut erklären, wie sie als Wechselwirkung verschiedener Hormone entsteht (z.B. Testosteron, Dopamin, Oxytocin) – und vergeht: Als Ergebnis von Adaption (Gewöhnung).
    Aber gerade weil man sie biologisch erklären kann, weiß man jetzt auch, was man tun muss, um eine Partnerschaft/Liebe langfristig zu erhalten: in der Zeit, in welcher noch die hormongesteuerten Gefühle am intensivsten sind, muss man es schaffen, zusätzlich z.B. ein Grundgerüst an gemeinsamen Zielen, Plänen Werten, von gegenseitiger Wertschätzung und dazu einen Freundeskreis aufzubauen.

    So wurde die Liebe als Gefühl zwar rational ´entzaubert´, aber im Gegenzug erhält man wertvolle Anregungen, wie man sie langfristig erhalten kann.

  2. Von der Ratio zum Zauber

    Wissenschaft ermöglicht Technik und diese schafft Wohlstand. Im Wohlstand aber entscheiden sich nur noch wenige für die Wissenschaft und noch weniger für die Technik. Statt dessn kommen dann die Wunschberufe zum Zug und der Nachwuchs wird Pyschologe, Soziolge, Anwalt, Schriftsteller, Schauspieler oder Finanzjongleur.
    Warum? Weil das Rationale, das Wissenschaft und Technik durchdringt, die Menschen nicht wirklich bewegt. Der Mensch gibt sich lieber Illusionen und Träumen hin und sieht sich als Erfinder und Kreativer aber eben nicht auf die harte Tour, die seriöse Wissenschaft erfordert.

    Wissenschaft und Technik gebiert also auch Hollywood und ermöglicht die Realisation des Nicht-Rationalen, weil sie den dazu nötigen Wohlstand schafft.

  3. @Martin Holzherr

    Ja, so ist es oft. Deshalb versuchen wir ja auch, etwas dagegen zu halten, indem wir von den harten Wissenschaften erzählen und zeigen, dass sich die Mühe in jeder Hinsicht lohnt.

  4. Negativbeispiel

    Den erlebten Inhalt unseres Arbeitsgedächtnisses bezeichnen wir als bewusstes Erleben oder Bewusstsein.
    Bei den sogenannten ´Nahtod-Erlebnissen´ wird das Gehirn sogar live ´selbstbeobachtbar´, weil auf Grund der erinnerten Inhalte und deren Ablaufstruktur erkennbar wird, wie das Gehirn arbeitet. (Kurzfassung, siehe: http://www.spektrumverlag.de/artikel/1058259) D.h. man könnte analysieren, wie das Gehirn arbeitet, wie ein Gedanke entsteht, wie Bewusstsein entsteht – und was das ist.
    Aber leider hat die Gehirnforschung dieses Thema seit über 35 Jahren ignoriert und der Esoterik überlassen.

    Was sind die Folgen:
    Wir werden immer älter und jetzt zeigt sich, dass im hohen Alter Gehirnerkrankungen auftreten und die Lebensqualität beeinflussen. Wenn die Forschung die grundlegenden Funktionen des Gehirns nicht ausreichend genug versteht, kann man keine optimalen Heilungsmethoden entwickeln.

    Werden grundlegende Arbeitsweisen des Gehirns nicht bzw. falsch verstanden, so liefert auch die Gehirnforschung falsche Ergebnisse (weil die Grundannahmen falsch sind). Dies bedeutet, dass viele Forschungsarbeiten lediglich eine Verschwendung von Forschungszeit und von Forschungsgeldern sind – bzw. unnötige Tierquälerei (wenn Versuchstiere benutzt werden). Ein bekanntes Beispiel hierzu ist das Thema ´Spiegelneuronen´.

  5. Übertrumpft Erkenntnis Erfahrung und Erleben?

    Wissen bedeutet Macht und verändert die Welt. Dieser Glaube begründet sowohl den Fortschrittsglauben als auch die Ängste Anstand, Moral und Sitte gingen verloren, wenn wir nur noch auf die Stimme der Vernunft hörten.

    Beispiele gibt es viele und zwar auch dafür, dass die Macht des Wissens oft überschätzt wird.:
    – Freud’s Psychoanalyse geht davon aus, dass der Erkenntisgewinn, den der Patient erhält, seine Heilung bewirkt
    – Die Wissen um die Folgen des Klimawandels sollen zur Umstellung der gesamten Weltwirtschaft führen
    – Das Wissen, das die Fruchtbarkeit mit dem Alter abnimmt sollte eigentlich dazu führen, dass Mütter ihre Kinder in den 20ern gebären und nicht erst wenn es schon fast zu spät ist

    Umgekehrt befürchtet man eine Relativierung der alten Werte und der emotinalen Seite durch Erkenntisgewinn.
    Hier muss man meiner Ansicht nach unterscheiden zwischen blossen Konventionen oder kulturellen Umständen, die zu einem bestimmten Verhalten, einem bestimmten Wertesystem und zu Regeln im zwischenmenschlichen Zusammenleben führen und zwischen biologisch tiefer verankerten Antrieben.
    Leider gibt es da keine klare Trennlinie. Relativ tief im Menschen verankert ist beispielsweise das Streben nach Selbstbestimmung. Wenige wollen sich einfach in ihr Schicksal fügen, die meisten wollen ihr Leben selbst gestalten. Das bedeutet aber auch Verantwortung für die eigenen Entscheidungen tragen. Wissenschaftlich verbrämte (?) Aussagen, es gebe gar keine Entscheidungsfreiheit können deshalb problematisch sein, greifen sie doch in grundlegende Annahmen unserer Lebesngestaltung ein. Bei solchen scheinbaren Widersprüchen muss man zuerst den biologisch verankerten Antrieben vertrauen und auch fragen, ob die sich wissenschaftlich gebende Aussage eine unmittelbare Konsequenz haben für das tägliche Leben haben kann oder haben soll.

  6. die dritte kopernik. Revolution:

    Eine weitere Frucht vom Baum der Erkenntnis ist gerade herunter geplumpst, nachdem sie schon lange verdächtig über der Sichtlinie herumbaumelte:

    Wir sind gar nicht der Homo Sapiens, mit dessen evolutionärer, kognitiver Aufwärtsbewegung wir uns bisher identifizierten. Seit ca. 20.000 Jahren entwickelt sich das menschliche Gehirn zurück, inzwischen hat es schon den halben Weg zum Homo Erectus zurückgelegt. Wäre der menschliche Körper im gleichen Maße geschrumpft, so würde die heutige durchschnittliche Körpergröße ca. 1,40 bis 1,50 m betragen. Mit anderen Worten: In den letzten ca. 20.000 Jahren hat das Großhirn ein Volumen um ca. einen Tennisball eingebüßt. Neben zahlreichen anderen möglichen Schlüssen, die man daraus ziehen kann (z.B. sind heutige Hochschüler somit unter dem HomSap-Niveau) muß somit auch das Selbstverständnis unserer sozialen, kognitiven, sprachlichen Fähigkeiten neu durchdacht werden, denn statt des Produktes einigermaßen homogener Entwicklungen haben wir es mit vermutlich sehr unterschiedlich regredierten, sich an so eine Regression teilweise adaptierten und durch bei solchen Schrumpfungsprozessen zu erwartenden Absonderlichkeiten zu tun. (link). Auch Historiker und Sozialwissenschaftler müssen die Langzeitwirkungen von mentalen Abbauprozessen in Bevölkerungen untersuchen (hier eine Studie).

    Die Forscher sind dem obigen Bericht zufolge noch etwas erschüttert und verwirrt, somit sei mir gestattet, den vielen (aber alle in eine wenig erfreuliche Richtung gehenden) Erklärungsansätzen noch einen weiteren Hinzuzufügen: Der genannte Zeitrahmen stimm erstaunlich gut mit Murray Gell-Mann’s Abschätzungen über die Entwicklung moderner, komplexer Sprachen überein (pdf). Vielleicht sind unsere Vorfahren in ähnliche affektive Fallen getappt wie diese Autorin? Oder wie es der bekannte Neuroforscher Ramachandran bei Vögeln beschrieb: “A newborn gull chick begs for food from its mother by pecking at a red spot on its mother’s beak,” he explains. “The mother then
    regurgitates food into the chick’s mouth. You can just hold a beak without the mother and the chick will still peck at it. But here’s the best part,” he says, gearing up for the denouement like a motorised bunny. “Put three red stripes onto a stick and the chick goes crazy, completely berserk, and totally ignores the real beak.” Dann wäre Sprache das für den Homo Sapiens gewesen, was diese drei roten Farbstreifen für die Vogelküken sind…

    Und noch eine Fortsetzung: Alle reden über AI, ohne zu bemerken, dass wir die AI-mäßige Simulation für den Homo Sapiens gewesen sein könnten. Simulierte Intelligenz in runtergesparten Schaltkreisen – das sind wir!

    Aber nein – das kann doch nicht sei, oder? Werfen wir einen Blick auf unsere höchsten Repräsentanten, die Gipfen unserer Zivilisation (ja, da ist er doch!)und beruhigen uns. Nein, das kann doch nicht sein, was diese Paläoanthropologen schreiben. Und so entwickeln wir uns fröhlich weiter (link) …

  7. Ein mutiges Thema

    Im Editorial zum neuen Heft schrieb Herr Körkel: „Erneut steht unser Weltbild vor einem Wandel.“ Eigentlich müsste es so sein – ist es aber nicht.
    Der Papst hat 1992 Galilei und Kopernikus gewürdigt und rehabilitiert – spät, aber er hat. Wenn es um G. Bruno geht ist man sich mit der Rehabilitierung nicht einig – dazu habe ich zwei entgegengesetzte Antworten erhalten.
    In einem Beitrag AH 7/8 03 S. 28 wird G. Bruno von 1584 in seiner Weitsicht zitiert: „Die unzähligen Welten im Universum sind nicht schlechter und nicht weniger bewohnt als unsere Erde.“ Mit dieser Meinung könnte der Universalgelehrte heute (noch) keine Professur erhalten. Dazu auch mein Kommentar in: http://www.kosmologs.de/…l-und-ins-all-geschickt

    „Sitte und Anstand vor 50 Jahren…“; Wissenschaftler – z. B. Prof. A. Wegener – Außenseiter, Quereinsteiger… sobald sie sich mit Themen „aus dem Fenster lehnen“ werden sie beschimpft, beleidigt, ausgelacht, totgeschwiegen… – da hat sich bis heute noch nicht viel geändert, wie mir immer wieder mal „bewiesen“ wurde.

  8. Vom Subjekt zum Objekt: Demütig das Verdikt der Wissenschaft annehmen?

    Auf das eigene geschulte Urteil vertrauen anstatt den Richtspruch der alten Autoritäten anzunehmen – das war die Aufklärung. Zugleich war es ein Abschied vom kollektiven Geist des Mittelalters und eine Befreiung des Individuums – das ist der Mythos unter uns Europäern, mindestens ist es nur ein Teil der Wahrheit.
    Die Verbreitung des rationalen Weltbilds, das wenn immer möglich die Wissenschaft zu Rate zieht, verdanken wir wohl nicht genialen Einzelgängern, sondern vielmehr dem grossen virtuellen Auditorium von Forschern allüberall, die alles was ihnen zu Ohren und vor die Augen kommt, kritisch überprüfen. Das Wesentliche und Gleichbleibende an der Naturwissenschaft ist ja ihre Methode und an dieser Methode muss sich auch der grösste Geist messen lassen.

    Zuende gedacht bedeutet es aber auch, dass wir uns vor dieser Methode verbeugen. Schliesslich Dinge akzeptieren, die uns wider den Instinkt und das Gefühl gehen, nur weil diese Dinge und Erkenntisse die höheren Weihen der Wissenschaftlichkeit erhalten haben. Denn die Wissenschaft macht auch vor dem Menschen nicht halt, der zum Objekt unter Objekten wird.

    Andererseits gibt es immer noch genug Menschen die nicht nur immun gegen die meisten Erkenntisse sind, sondern sogar irrational bleiben und für die Erfindungen wie der Diktionär – die Wikipedia – immerhin einen Leitfaden geben, der verhindert, dass sie im Irrationalen abstürzen.

    Der Siegeszug der Wissenschaft und des rationalen Weltbilds, der auch unsere von Technik bestimmte moderne Alltagswelt hervorgebracht hat ist letzlich der Siegeszug einer bestimmten Kultur – einer Kultur, die zuerst von Wissenschaftlern angenommen wurde und dann immer mehr um sich griff.

    Wie T. in ihrem Kommentar die dritte kopernik. Revolution deutlich gemacht hat, bedeutet die Annahme der Methode durch unsere Gesellschaft und eine Alltagswelt, die von unseren eigenen Erfindungen und Entdeckungen durchdrungen ist, nicht etwa, dass wir alle intelligenter geworden sind. Es bedeutet nur, dass wir uns neu orientiert haben.

    Aussergewöhnliche Leistungen auf dem Gebiet der Ideen, der Kommunikation, Organisation und der Kontinuität zeigten auch die Menschen, die Stonehenge geschaffen haben oder die Jäger, die sich schon vor zehntausenden von Jahren raffinierte Fallen ausgedacht haben. Doch das waren alles solitäre Leistungen. Der menschliche Geist konnte dannzumal und bis in die jüngste Vergangenheit von zutiefst irrationalen Ideen in Knechtschaft genommen werden. Das rationale Weltbild wirkt da wie eine Teufelsaustreibung und es ist gut das es nicht an einzelne Menschen gebunden ist, denn der Teufel kam oft in der Gestalt des mit höheren Weihen versehenen geistigen und seelischen Führers.

    Doch die Annahme der Methode, der Aufbau der Wissensgesellschaft hat bestimmt auch ihren Preis. Kürzlich las ich, dass Lesen Hirnareale umfunktioniert, die bei Analphabeten einem anderen Zweck dienen. Was uns alles verlorgengeht durch unsere neue Wissensorientierung, das wissen wir wohl gar nicht – oder wir wissen es noch nicht.

  9. @ T. die dritte kopernik. Revolution – Tennisball

    Das mit dem Tennisball war wohl nicht zu Ende gedacht, denn das Tennisball-Gehirnvolumen wäre um 100 ccm mehr als etwa in http://www.biokurs.de/skripten/13/bs13-40.htm genannt: „Das Gehirnvolumen des heutigen Menschen beträgt ca. 1345 ccm, bei den Cro-Magnon-Menschen fand man bis zu 1590 ccm.“ Andere Quelle Hs: 1400 ccm.
    Die Reduzierung des Gehirnvolumens ist auch darauf zurückzuführen, dass das menschliche Gehirn, um „…innerhalb der Schädelgrenzen zu bleiben; …bildet die Lage aus grauer Substanz tiefe Falten und Furchen aus.“ – schreib Prof. Dawkins. Kein anderes Lebewesen hat so ein tief strukturiertes Gehirn! Ein kleinerer Schädel ist günstiger bei der Geburt. Dem gegenüber steht der Schädel der Nin Puabi (jüngere Schwester von Gilgamesch), den Sir Woolley 1928 in Ur u. a. in einem unbeschädigtem Grab ausgegraben hat – um 250 ccm mehr – liegt jetzt in London.

  10. @T

    Die Größe des Gehirns sagt kaum was über die Leistungsfähigkeit aus.
    Es gibt eine Frau (wenn ich mich richtig erinnere), der wurde als Kind etwa die Hälfte des Gehirns herausoperiert und sie kann ganz normal leben.

    Wir haben bei der Geburt ein kleines Gehirn, weil die Nerven-Leitungen noch nicht mit Myelin ummantelt sind. Dies erleichtert die Geburt. Allerdings sind die Nervensignale relativ langsam unterwegs. Durch den Myelinmantel steigt die Geschwindigkeit der Signalweitergabe um ca. das zwanzigfache. Beim Erwachsenen besteht das Gehirn dann zu ca. 2/3 aus Myelinfett.

  11. @krichard: Myelin

    “Beim Erwachsenen besteht das Gehirn dann zu ca. 2/3 aus Myelinfett.” Das kommt mir spontan etwas sehr viel vor. Ich habe neben der Erinnerung an meine Sektionskurse gerade nur Kahles Neuroanatomie und das Internet zur Hand und finde dort keine Aufklärung. Können Sie mir sagen, woher Sie diese Zahl haben.

  12. @Bolt

    Die Weiterleitung von Nervenimpulsen erhöht sich von 3 m/s (ohne Myelin) auf ca. 110 m/s (mit Myelin).
    Das Gehirn eines Erwachsenen besteht zu ca. 60 % aus dem isolierenden Myelinfett.
    Möglicherweise stammt diese Info aus ´Spektrum der Wissenschaft 10/2008 Die unterschätzte weiße Hirnmasse´ – aber leider konnte ich den Artikel nicht mehr nachlesen, da ich ihn bereits weggeworfen habe.

  13. @ KRichard

    Der Film lief erst vor Kurzem. Einige Jahre liegt ein anderer Fall zurück: Einem Jungen Mann wurde aus Versehen aus der Nähe etwa eine Gehirnhälfte weggeschossen. Sein neuer Lebensaufbau wurde geschildert.
    Für die Leistungsfähigkeit des Gehirns sind die Zahl und Tiefe der Falten und Furchen verantwortlich.

    Die geschichtliche Überlieferungen – aus Archäologie und sprachwissenschaftlichen Übersetzungen besonders aus dem mesopotamischen Raum – belegen, dass es Leute mit größeren Schädel auf der Erde gab, wo die Menschen das teilweise versucht haben nachzugestalten. Diese Leute bezeichneten sich den Menschen gegenüber als Götter. Sie kamen vom Nibiru und hatten normal ein wesentlich längeres Leben, waren evolutionär weiter entwickelt. Dazu gehörte auch Nin Puabi (Google Puabi) als Enkelin von Inanna/Ischtar und jüngere Schwester König Gilgameschs. Aus welchen Gründen auch immer – sie hatte nur ein kurzes Leben.

  14. @Bolt, Myelin

    Jetzt habe ich doch noch eine Quelle gefunden:
    Geist&Gehirn, DVD-Nr.3, von Prof. Dr.Dr. Spitzer, ISBN 978-3-8302-8508-3
    Im Kapitel 12 Gehirnentwicklung findet sich die Info: Gehirnvolumen Neugeborene ca. 350 ccm, beim Erwachsenen ca. 1350 ccm, 60 % Fett (Myelinisierung)

  15. @krichard

    Danke für die Info, krichard. Ich konnte jetzt auch weiter recherchieren (Gray’s Anatomy) und finde Ihre Hauptaussage bestätigt: “At birth the volume of the brain is approximately 25% of its volume in adult life. The growth can be accounted for partly by increase in the size of nerve cell somata, the profusion and dimensions of their dendritic trees, axons and the collaterals and by growth of the neuroglial cells and cerebral blood vessels, but it is the acquisition of myelin sheaths by the axons which is principally responsible for it.” Das wußte ich nicht und danke Ihnen für den Hinweis!

  16. Sehr kluger Beitrag…

    …vielen Dank! Die oft irrationale Furcht vor den Naturwissenschaften habe ich in den letzten Tagen wieder erleben dürfen. Nach der Rowthorn-Studie empörten sich da wieder gestandene Geisteswissenschaftler, dass man Religion keineswegs als Produkt der Evolution erforschen dürfe. Denn das sei a) trivial, b) gefährlich und c) reduktionistisch. Dass schon Charles Darwin (seines Zeichens Theologe) dazu Hypothesen formuliert hatte, steigerte die Wut vor allem einiger älterer Kollegen noch. Seufz…

  17. BBC über “Angriffe auf die Wissenschaft:

    Hier eine interessante BBC-Dokumentation, in der der Nobelpreisträger und Präsident der Royal Society untersucht, wie, warum und von wem Wissenschaft aufs Korn genommen wird.

  18. Astrologie als Wiss. anerkannt:

    Heute ruft ein Physikblog wieder in Erinnerung, dass im wissenschaftsstarken Indien die Astrologie als der “normalen” Wissenschaft gleichwertig betrachtet wird. (link). Das wiederum erinnert an den schönen Essay Ramanujan’s (dem bekannten Dichter, dessen Vater internatinal anerkannter Astronomieprofessor – und Astrologe zugleich – war) (link 1, link 2, Essaylink, studentische Zusammenfassung). Viel Spaß beim Lesen!

  19. ein neuer F. Dyson Artikel:

    Über Wissenschafts(miss)verständnisse: “The public has a distorted view of science, because children are taught in school that science is a collection of firmly established truths. In fact, science is not a collection of truths. It is a continuing exploration of mysteries.” (link)

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