Warum können wir Gesetzmäßigkeiten in der Natur mathematisch fassen?

BLOG: Die Natur der Naturwissenschaft

Ansichten eines Physikers
Die Natur der Naturwissenschaft

Nach Vorträgen über Themen der Physik werde ich mitunter gefragt, wieso es denn eigentlich komme, dass man die Natur mit Hilfe der Mathematik so weitgehend beschreiben kann und damit fähig ist, Phänomene und Prozesse in der unbelebten Natur so verlässlich vorherzusagen. Kann man eigentlich verstehen, warum "das Buch der Natur" in mathematischer Sprache geschrieben ist?

Es gab eine Zeit, da hatte ich keine Antwort darauf. Es war für mich ein Rätsel. Ich gehöre ja noch zu der Generation, die mit dem Höhlengleichnis von Platon aufgewachsen ist und damit die Ideenlehre Platons früh in sich aufgesogen hat. Die Mathematik gehörte für mich zu dem Reich der Ideen, und zwar der reinsten Ideen, deren Zeitlosigkeit und Allgemeingültigkeit besonders einleuchtend war. Das, was mich dabei allerdings wunderte, war, warum Theologen sich nicht damit beschäftigten. Wieso passte diese Welt der Ideen nun so gut auf die Natur, die uns doch im wesentlich in Form von Materie begegnete?

Es hatten ja schon viele darüber nachgedacht, und es gab auch genügend Antworten. "Gott hat den Menschen das Licht der Vernunft gegeben", heißt es im Christentum, der Buddhismus formuliert es etwas anders: "Bewusstsein und unbelebte Welt sind perfekt auf einander abgestimmt". Solche ad-hoc Erklärungen schienen mir aber nicht befriedigend, auf solche Weise kann man ja schließlich alles erklären.

Die evolutionäre Erkenntnistheorie

Erst als ich auf die evolutionäre Erkenntnistheorie stieß, schien mir das Problem eine einfache und überzeugende Lösung zu finden. Wir denken und betreiben Wissenschaft mit unserem Gehirn und dieses ist wie alle anderen Organe unseres Körpers auch ein Produkt der Evolution. Das Denkorgan der Spezies, die zum heutigen Menschen führte, hat sich, wie der Philosoph und Physiker Ernst Mach schon im Jahre 1893 schrieb, so entwickelt, dass „die Gedanken […] in ähnlicher Weise der Umbildung und Anpassung unterliegen, wie dies Darwin für die Organismen annimmt“ und auch Ludwig Boltzmann sah schon 1897 das menschliche Gehirn als „Organ zur Herstellung der Weltbilder, welches sich wegen der großen Nützlichkeit dieser Weltbilder für die Erhaltung der Art entsprechend der Darwinschen Theorie beim Menschen gerade so zur Vollkommenheit herausbildete, wie bei der Giraffe der Hals, beim Storch der Schnabel zu ungewöhnlicher Länge“. In den Werken von Konrad Lorenz und Gerhard Vollmer seit 1973 wurden solche Gedanken zu einer "Naturgeschichte menschlichen Erkennens" und einer "Evolutionären Erkenntnistheorie" weiter ausgeführt.

Unser Gehirn ist also auch ein Teil der Natur, ist "natürlich" entstanden und unser Erkenntnisvermögen hat eine Geschichte. Unsere Vorfahren können nur jene gewesen sein, die fähig waren, die Phänomene der Natur zumindest so zu interpretieren, dass ihre Art sich erhalten und ausreichend fortpflanzen konnte. Abstraktes Denken wie die Fähigkeit zu zählen, überhaupt etwas quantitativ zu fassen, um in die Zukunft planen zu können – das war sicher nützlich für das Überleben. Auch in geschichtlicher Zeit sehen wir die Prinzipien der Evolution wirken, nun aber auf kultureller Ebene. Die heutige Dominanz der westlichen Welt ist im wesentlichen eine Folge der Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik seit der Renaissance.

Der Mensch muss als während seiner Entwicklung immer besser gelernt haben, Strukturen der Welt zu deuten und zu nutzen. So ist eine Strukturwissenschaft, die Mathematik, entstanden, mit Gedanken über Strukturen und Zusammenhängen zwischen diesen. Die Mathematik ist somit keine Sammlung von Ideen aus einem eigenen Reich. Der Satz des Pythagoras existierte nicht, bevor ihn nicht ein Mensch formulierte. Was schon existierte, war eine entsprechende Struktur in der Welt, die später den Menschen Anlass gab, solche Zusammenhänge zu formulieren. Die Frage, ob mathematische Sätze entdeckt oder erfunden werden, führt in die Irre, unterstellt sie doch, dass unsere Sprache ein treffendes Wort bereit hält für diesen Vorgang der "Spiegelung" der Strukturen in unserem Gehirn und deren Verarbeitung. Man könnte höchstens sagen: Entdeckt wird eine Struktur in der Welt, erfunden wird ein Zusammenhang zwischen Denkinhalten bzw. Modellen dieser Strukturen wie z.B. Dreieck, Seiten eines solchen, usw. Dabei ist oft das, was wir Intuition nennen, im Spiel; aber diese ist ja auch nur ein Produkt unseres Vorwissens und alltäglicher Erfahrung. In dem Blogartikel "The Romance of Mathematics" in "Mind at Work" hat Elmar Diederichs dieses sehr schön dargelegt, und er ist auf anderem Wege zu dieser naturalistischen Position in Bezug auf die Mathematik gekommen.

Klassische Physik als Physik unserer Alltagswelt

Nun können wir heute die Dinge dieser Welt gemäß ihrer Größe grob in drei Kategorien einteilen. Wir kennen Welt der kleinsten Dimensionen, also die Welt der Atome und deren Bausteine, dann die Welt der größten Dimensionen, d.h. die Welt der Galaxien und anderer kosmischer Erscheinungen und schließlich die Welt der mittleren Dimensionen: das ist die Welt, in der wir Menschen zu Hause sind und in der wir unseren Alltag leben.

Der frühe Mensch musste sich nur in der Welt der mittleren Dimension bewähren und so lernte er auch nur die Strukturen dieser Welt kennen und nutzen. Seine Fähigkeit zur Anschauung, – d.h. Dinge der Welt zu Denkinhalten zu machen, ohne sie direkt zu sehen, – entwickelte sich an den Dingen dieser Welt der mittleren Dimension. Und mit dieser Fähigkeit zur Abstraktion, also von den Dingen selbst absehen zu können, wuchs auch das Vermögen, Beziehungen zwischen solchen Denkinhalten zu formulieren. Natürlich zahlt es sich aus, wenn diese Beziehungen dann auch den Strukturen der Welt entsprechen. So konnten die frühen Hochkulturen, in denen man Ackerbau und Viehzucht betrieb, erst entstehen, als man die periodischen Überschwemmungen der Flüsse erfolgreich zu nutzen lernte.

Die "neue Wissenschaft" von Galilei und Newton, in der das Experiment zur Entdeckung von Strukturen der Welt und die Mathematik zur Beschreibung der Ergebnisse der Beobachtungen genutzt wird, musste sich zunächst in dieser Welt der mittleren Dimension bewähren. Mehr als das erste Jahrhundert der Physik ist dem Studium der Bewegung, dem den Menschen am nächsten liegenden Phänomen, gewidmet, ein ganzes Jahrhundert danach den elektrischen und magnetischen Phänomenen und auch der Frage, was denn eigentlich "Wärme" ist und wie man sie nutzen kann. Auch hier gibt es eine Art kultureller Evolution, mehrere Theorien entstanden jeweils, die besten überlebten. Ende des 19. Jahrhundert war die Welt der mittleren Dimension weitgehend erforscht. Dass man erfolgreich war in der Abbildung der Strukturen dieser Welt in mathematische Modelle, das zeigt sich in den technischen Geräten, in denen man sich diese Erkenntnisse zunutze machte: Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Telefon, elektrische Beleuchtung, Funk, Radio.

Mathematik als verbleibender Führer im Unvorstellbaren

Als man aber Anfang des 20. Jahrhunderts begann, die Welt der kleinsten wie der größten Dimensionen zu entdecken und auch hier versuchte, Theorien zu formulieren, die die Phänomene richtig beschreiben und auch quantitativ richtig vorhersagen können, musste man feststellen, dass die Fähigkeit zur Anschauung nicht mehr ausreichte. Man musste den Begriff eines Quants einführen, das einem Objekt der Welt entsprechen soll, was mit keinem Ding der Welt, das ein Mensch jemals "anschauen" konnte, vergleichbar ist. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes "unvorstellbar". Im Lichte der Evolution unserer Anschauung überrascht das eigentlich nicht. Dennoch gibt es immer noch viele Versuche, dieser Konsequenz aus dem Wege zu gehen und die Quantenmechanik entsprechend abzuändern. Das sind m. E. alles untaugliche Versuche; ich finde es natürlich, dass unsere Anschauung uns jenseits der Welt der mittleren Dimension verlassen kann. Die Quantenphysik hat sich bisher in allen physikalischen Situationen bewährt und es gibt keinen Anlass, eine Mutation dieser so erfolgreichen Theorie zu entwickeln.

Das spannende aber ist nun, dass uns zwar unsere Anschauung verlässt, aber nicht unsere Fähigkeit, mathematische Zusammenhänge in dieser unanschaulichen Welt zu formulieren; und wir sind dabei auch erfolgreich, d.h. die Folgerungen aus diesen Zusammenhängen können bestätigt werden.

Hier scheint sich nun ein neues, viel schwierigeres Problem aufzutun. Wieso können wir mit Hilfe der Mathematik auch Strukturen der Welt der kleinsten Dimensionen zu unseren Denkinhalten machen, obwohl unser Denkorgan im Rahmen der Evolution nicht durch solche Strukturen geprägt worden sein kann?

Nun, der erste Gedanke ist, dass die Strukturen dieser Welt sich nicht um unsere Einteilung in mittlere, kleinste und größte Dimensionen schert. Wäre es anders, würde man ja annehmen, dass der Mensch den Maßstab in der gesamten Welt vorgibt. Bei allem, was man inzwischen über die Evolution und die Welt kennt, wäre eine solche Vorstellung absurd. Also müssen wohl die Strukturen der Quantenwelt denen der Alltagswelt mindestens so weit entsprechen, dass wir es schaffen konnten, eine Quantentheorie zu entwerfen, die bisher alle bekannten Phänomene gut beschreibt. Die Menge der von uns denkbaren Strukturen und die Menge des Anschaulichen muss sich ja nicht decken.

Diese Antwort hatte ich auch im Epilog meines Buchs "Die Entdeckung des Unvorstellbaren" (Spektrum Akademie-Verlag 2010) nach einer ausführlichen Geschichte physikalischer Begriffe und Theorien gegeben. Aber kann man damit diese Frage als beantwortet ansehen? Ich bezweifle es jetzt.

Wie weit kommen wir mit der Mathematik?

Wird man weiterhin immer für neu entdeckte Strukturen und Phänomene der Welt entsprechende mathematische Strukturen finden können? Bisher war es zwar so: Als man die Quantenmechanik entwickelte, war die Mathematik, die man dazu benötigte, längst bekannt, und auch die nicht-Euklidische Geometrie kannte man schon, als Einstein diese für die Allgemeine Relativitätstheorie bemühen musste. Und Mathematiker haben solch einen Gefallen an Zusammenhängen innerhalb und zwischen Strukturen gefunden, dass sie auch unabhängig von Anforderungen des Alltags immer neue erfinden und studieren. Aber auch sie sind Kinder der Evolution.

Ist unser Denkorgan wirklich für alles in der Welt vorbereitet? Kann es sein, dass wir etwas in der Welt beobachten, zu dem wir aber keinen Zugang haben, weil alles, was unser Denkorgan durch die Evolution an Fähigkeiten entwickelt hat, dazu nicht ausreicht? Oder ist es gerade "anders herum": Können wir vielleicht nur das beobachten, was wir mit unseren Mitteln, und sei es mit einem noch zu entwickelnden mathematischen Gebiet, irgendwann verstehen können? Die evolutionäre Sicht auf unser Erkenntnisvermögen führt also auf einen Verdacht, der nicht neu ist, aber hier eine konkrete Basis hat. Gerhard Vollmer formuliert das in seinem Werk: "Evolutionäre Erkenntnistheorie" so: Der Erkenntnisapparat, der zunächst nur überlebens-adäquat zu sein hat, macht es zwar möglich, wissenschaftliche Erkenntnis zu gewinnen (und zu begründen!); es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass er zum Erkennen der gesamten Welt ideal taugt."

Nun muss aber man nicht gleich frohlocken, weil Naturwissenschaftler endlich zugeben, dass es auch Grenzen für ihre Methode gibt. Solche Grenzen wären, wenn man sie jemals erkennen könnte, weit jenseits der Front, an der (noch) gegen den Naturalismus gekämpft wird. Und Hinweise auf allzu simple Lösungen, wie sie seit Menschengedenken immer wieder gegeben werden, werden der Größe des Problems nicht gerecht.

Die Frage steht im Raum und kann höchstens zu größerer Vorsicht und Toleranz führen. In 50 Jahren wird man sicher anders über diese Frage denken. Vielleicht geht es den Menschen dann so, wie häufig, nachdem sie schließlich in einer wichtigen Frage weiter gekommen sind: Nachher ist es doch ganz anders.

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Veröffentlicht von

Josef Honerkamp war mehr als 30 Jahre als Professor für Theoretische Physik tätig, zunächst an der Universität Bonn, dann viele Jahre an der Universität Freiburg. Er hat er auf den Gebieten Quantenfeldtheorie, Statistische Mechanik und Stochastische Dynamische Systeme gearbeitet und ist Autor mehrerer Lehr- und Sachbücher. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2006 möchte er sich noch mehr dem interdisziplinären Gespräch widmen. Er interessiert sich insbesondere für das jeweilige Selbstverständnis einer Wissenschaft, für ihre Methoden sowie für ihre grundsätzlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen und kann berichten, zu welchen Ansichten ein Physiker angesichts der Entwicklung seines Faches gelangt. Insgesamt versteht er sich heute als Physiker und "wirklich freier Schriftsteller".

45 Kommentare

  1. Eine Verständnisfrage

    “Kann es sein, dass wir etwas in der Welt beobachten, zu dem wir aber keinen Zugang haben, weil alles, was unser Denkorgan durch die Evolution an Fähigkeiten entwickelt hat, dazu nicht ausreicht?”

    Ich verstehe diesen Satz nicht. Sollte ich hier lesen: “keinen _mathematischen_ Zugang haben”? Denn wenn wir es beobachten, dann haben wir doch – beobachtend eben, weil es unsere Sinne berührt – schon einen Zugang zu dem “Etwas”.

  2. @Grenze der Naturwissenschaft?

    Ich glaube ja eher – so wie ihr Blog hier heißt, dass eine Natur der Naturwissenschaft im Zusammenhang mit Erkenntnissen und Methoden ein riesiges Feld an Erkenntnis und des Handelns erstmal aufreisst – und es zu einer ganz riesigen schönen Naturwissenschaft kommt. Wenn man weiß, dass das exakte Quantisieren und Rechnen etwas ist, dass evolutionär betrachtet sich folgerichtig ausgebildet hat, man aber sozusagen die Grenzen immer mitdenkt, dann handelt man – zum Beispiel als Mathematker jetzt so, dass man zum Beispiel “Formeln” oder “Gleichungen” oder Zahlen als kleine “Motoren” betrachtet, die aber auch immer einem Verschleiß unterliegen. Oder man kann “Formeln” auch als kleine Lebewesen betrachten, sozusagen informelle Fließgleichgewichte, (immer mit Entropie) wie kleine Bakterien, die eine begrenzte Zeit für eine bestimmte Aufgabe nötig sind, und im Stoffwechselprozess Energie/Information im Sinne einer informationellen Fermentierung Gedanken in Technik umwandeln. Als eine Art Verdauungsprozess.

    Aber eben prinzipiell ist auch hier nichts unsterblich und auch nicht absolut unveränderlich. Also eigentlich muss man sich nur daran gewöhnen, dass Mathematik eine Art Biologie auf der Informationsseite darstellt. So etwas ähnliches hat ja Goedel schon gemacht – und es ist in der Mengenlehre, die ja so eine Art Taxonomie der Information darstellt, schon irgendwie angelegt.
    Zugleich kann man sich aber auch vorstellen, dass eine solche als Biologie betrachtete Mathematik auch “gehegt” also eingegenzt werden muss, damit sie nicht wuchert – damit diese Mathematik nicht zu einer “Belästigung” wird und einen Erkenntnisprozess überwuchert oder sogar regelrecht auffrisst. So könnte man die ehemals sogenannte “metaphysische” Seite der Mathematik selbst als lebend betrachten – eben nur als andere Seite der Temperatur oder als Infotop, Infosphäre

  3. Abstraktion als biologische Notwendigkeit

    Mathematik treiben bedeutet abstrahieren. Abstrahieren im Sinne von Verallgemeinern und Vereinfachen ist aber schon für existierende Lebensformen ein Überlebensvorteil, bedeutet es doch, dass eine höhere Komplexität mit weniger Hardware auskommt: Es braucht kürzere Abschnitte auf der DNA um einen allgemeinen, aber ungewöhnlich flexiblen Apparat zu codieren als für eine Sammlung von spezialisierten Mechanismen.

    Abstraktion und Universalität hat also eine biologische Basis, ist aber auch das, was Physiker bei der Erforschung des Universums erleben: Je mehr man mit umso weniger Annahmen erklären kann umso besser. Es müsste tatsächlich nicht so sein. Denkbar ist auch ein geschwätziges Universum mit Umschweifen und unnötigen Komplizierungen. Doch irgendwie passen wir gut in das von uns erforschte Universum. Wir selbst sind fast so komplex wie das Universum, aber die Komplexität löst sich auf als Zusammenwirken von einfachen Grundkräften.

  4. @Dank und Fragen

    Herzlichen Dank für den interessanten Beitrag, das ist wirklich ein Gebiet in dem die evolutionäre Erkentnisstheorie hilft die Lage zu erhellen. Es bleiben allerdings einige Fragen.
    1. Wie unterscheidet sich denn eigentlich, außer der Zugangsmethode, Ihr “Reich der Strukturen” vom “Reich der Ideen” Platons? Die Strukturen selbst lassen sich ja nicht leicht naturalisieren, ohne dass man in einen Nominalismus gerät, der sicher nicht Ihr Ziel ist. Ich jedenfalls sehe keinen bedeutenden Unterschied. Und das mag vieleicht der Grund sein, warum heute die meisten Philosophen, selbst in der analytischen Philosophie (nicht zu sprechen von den Mathematikern) immer noch Platonisten sind. Oder habe ich Sie missverstanden?

    2. “Nun muss aber man nicht gleich frohlocken, weil Naturwissenschaftler endlich zugeben, dass es auch Grenzen für ihre Methode gibt”
    Ist denn die Suche nach den Strukturen selbst, die die Mathematiker betreien, wirklich eine naturwissenschaftliche Methode?

  5. Wie es die math. Physiker selbst erleben:

    Anfang dieses Jahres schrieb ich nach einigem Austausch hier auf, wie ein paar führende Leute aus der Schnittmenge von Mathematik und Physik über das Thema denken (evt. sind einige links nicht mehr aktuell, hab i.M. keine Zeit das zu überprüfen). Das darauf folgende feedback anderer führender math./th. Physiker erlaubt, zu sagen, dass die dort formulierten Sichtweisen ziemlich genau den common sense in solchen Kreisen treffen. Wie in der Darstellung hoffentlich klar wird, hat weder der dort artikulierte “Platonismus”, noch vermutlich dessen ursprünglichen Formen die oft damit assoziierten ontologischen Annahmen. Eine interessante Variante hat kürzlich Voevodsky formuliert, dessen Vorschlag einfach ist, Mathematik genauso zu verwenden wie Physiker Feynmanintegrale usw.: Da die Natur nun mal sowieso existiert, sind Konsistenzfragen überflüssig, Konsistenzpostulate physikalischer Theorien (QFT) sekundär und evt. sowieso nicht klärbar. Statt dessen solle man lieber gute Ideen aus der Physik wie neue “platonische Ideen” aufgreifen und schauen, wie sie sich in welchen Kontexten auf interessante Weise verwenden lassen. Ein gutes Beispiel wäre Quantenkohomologie und Mirror Symmetry. (s.a. hier)

    Voevodsky’s Vortrag dramatisiert Inkonsistenzthemen innerhalb der Mathematik durch unterbetonen des Unterschiedes zwischen “Wahrheit” und “Beweisbarkeit” (ausserdem ist Gentzens Argumentation m.E. völlig ok), was einem Mißfallen kann, aber sein abschliessendes Programm sieht dann wieder sehr wie eine Formalisierung der Art und Weise, wie man sowieso Mathematik macht, aus.

    “Evolutionäre Erkenntnisth.” hört sich für mich wenig glaubhaft an. Dazu weiß man einfach viel zu wenig über die Eigenart der Entw. menschl. Denkfähigkeiten, beispielsweise scheinen die Piraha ja bestens ohne numerische Fähigkeiten auszukommen.

  6. Ja, T., ihr verlinkter Blogpost zeigt den Platonismus, den ich kenne. Ich kenne auch keinen anderen? Oder meinten Sie Spekulationen zur Seelenwanderung und Alleinheitsgedanken? Auf das wollte ich sicherlich nicht hinaus. Aber wenn Manin in dem von Ihnen zitierten Interview sagt, es gäbe keine rationalen Begründungen für den Platonismus, nur intuitive und das schöne Gleichniss vom Schloss aufführt, das man erst entdeckt und dann versucht zu verstehen, dann ist das ganz klarer Platonismus, ontologische Annahmen hin oder her. Und Ihre Verweise auf Florensky und Illarion stellen dann auch eine gewisse Kontinuität zu Plato wieder her.

  7. Animal symbolicum

    „Der Mensch muss als während seiner Entwicklung immer besser gelernt haben, Strukturen der Welt zu deuten und zu nutzen. So ist eine Strukturwissenschaft, die Mathematik, entstanden, mit Gedanken über Strukturen und Zusammenhängen zwischen diesen.“

    Lieber Josef Honerkamp,
    zwischen den beiden Sätzen liegt eine wichtige „Phase“, die von Ihnen übersprungen wird: Der Gebrauch von Symbolen zur Kommunikation, die Entwicklung von Sprache und den damit verbundenen Möglichkeiten des Denkens mußten erst in Gang kommen, bevor der Chromagnon-Mensch mit dem Zählen die Grundlage für unsere Rechenkunst erfand.
    Symbole sind einfache Figuren, die für komplexe Begriffe stehen, das heißt: sie stehen zu diesen komplexen Begriffen in einer „pars pro toto“ Beziehung, so wie ein Name zu der damit benannten Person in einer „pars pro toto“-Beziehung steht.
    Auf diese „pars pro toto“-Beziehungen waren die Menschen schon beim „Spurenlesen“ von Fußabdrücken angewiesen. Sprache und Rechenkunst sind nicht ohne die Fähigkeit des Symbolgebrauchs vorstellbar, aber eine neurophysiologische, naturalistische Erklärung für dieses Phänomen ist noch nicht in die Diskussion der Kognitionsforschung aufgenommen worden.

  8. Mehrere Antworten

    @Helmut Wicht
    Ja; vielleicht sollte ich besser formulieren: “Kann es sein, dass wir etwas in der Welt entdecken, das wir grundsätzlich nicht verstehen können, weil alles …..

    @Tim Boson
    Das mit den “Motoren” und “Bakterien” gefällt mir irgendwie, aber verstehen tue ich es nicht.

    @Martin Holzherr
    Ich stimme Ihnen zu; ich vermute nur, dass wir in einem “geschwätzigen” und “umschweifigen” Universum nicht (oder noch nicht) existieren könnten.

    @N. Hagthorpe
    viele Dank für die anregenden Fragen:
    zu 1. Platon hat seinen Ideen eigenständige zeitlose Existenz zugestanden, unsere gedanklichen Konstruktionen, die durch Betrachtung der Welt angeregt werden, sind Produkte unseres (vergänglichen) Denkorgans. Ich meine schon, dass “alle Allgemeinbegriffe gedankliche Abstraktionen sind, die als Bezeichnungen von Menschen gebildet werden.” (siehe Wikipedia-Artikel über Universalienproblem , Das Grundproblem), insofern bin ich schon Nominalist. Für einen Naturwissenschaftler aber, der sich auch noch viel mit der Evolution aus einander gesetzt hat, ist ein radikaler Naturalismus nahe liegend. Unser Bewusstsein und unsere Fähigkeit, mathematische Strukturen zu denken, sind eben im Laufe der Evolution entstanden. “Der Geist ist nicht vom Himmel gefallen. ” Aber ich glaube, es lohnt sich weiter darüber nachzudenken.
    zu 2. Nein, Mathematiker prüfen ihre Aussagen nicht durch Experimente sondern durch Logik. Sie halten sich nur im Reich der gedanklichen Strukturen auf. Dennoch ist ihr “Leben in diesem Reich” geprägt von der Herkunft ihres Denkorgans.

    @T.
    Ich weiß, dass die meisten Mathematiker und auch math. Physiker Platonisten sind (Penrose et.al.) ; ich kann mir das aber nur dadurch erklären, dass sie noch nicht so häufig erfahren haben, dass Vieles in der menschlichen Natur erst durch die Tatsache der Evolution plausibel wird.
    Auch wurde neulich in der FAZ ein Buch von Mario Livio zu diesem Thema besprochen. Rezensent und Autor haben nicht einen einzigen Bezug zur Evolution hergestellt; diese Vorstellung, dass unsere biologische Herkunft unbedeutend für unsere heutige Art zu denken ist, ist 150 Jahre nach Darwin unverständlich. Dabei hält das Bildungsbürgertum geschichtliche Kenntnisse sonst so hoch: Man muss doch wissen, “wo man her kommt”.

    @Steffen Rehm
    Da sprechen Sie ein interessantes Thema an: Wie ist der Gebrauch von Symbolen zur Kommunikation, die Entwicklung von Sprache entstanden? Was wissen denn unsere Paläoanthropologen darüber? Da müsste es doch anregende interdisziplinäre Arbeiten geben.

  9. Sehr guter Text!

    Vor ein paar Monaten habe ich mich an “A Comprehensible Universe” von Coyne und Heller versucht, fand es aber nur bis zu einem gewissen Grad überzeugend. Kennen Sie es? Einige Aspekte dürften Sie interessieren, wobei ich Ihre Texte hier ich als zugänglicher empfinde. Auch ist hier eine stärkere Reflektions- und Erkenntnisdynamik erkennbar. Auf Ihr Buch freue ich mich daher schon!

  10. @Herr Honerkamp

    Ich glaube, noch immer unterliegen wir dem Missverständnis, es gäbe “Strukturen” die wir erkennen. Da war schon Eckardt von Hochheim viel genauer: Erkennen i s t die Struktur der Welt. Nur unterstellt das Wort “Struktur” eben etwas vorgegebenes Festes – eben wie einen Pfad oder Pfade, die wir allmahlich abschreiten…aber das kommt einfach noch aus der – ich sage mal – postrukturalisierten Denkweise, die nicht gut greift. Wenn man statt Struktur Wahrscheinlichkeit, Bewegung, Entropie einsetzt, dann wird – jedenfalls für mich – klar, was Sache ist: Die Zeit selbst, also die Entropie sorgt für Bewegung und Wahrscheinlichkeit. Darin handeln wir – und unser handeln ist grundsätzlich so organisiert, dass es in einem Fließgleichgewicht zwischen “Versuch” und “Irrtum” ich könnte auch sagen “trial” and “error” sich erst stabilisert. Jeder einzelne Moment stabilisiert seine Gegenwart in dieser Schwingng. Das “GEGEN” wird “gewartet” Und das geht nur in der Zeit.
    Genau das macht eine mathematische Gleichung auch mit dem Gleichheitszeichen. Sie “gegen – wartet eine Funktion zwischen zwei Polen. Deshalb hatte ich Formeln mit Lebewesen gleichgesetzt. Oder als Info-Organismen. (die immr auch in der Temperatur agieren)

  11. @Josef Honerkamp

    “unsere gedanklichen Konstruktionen, die durch Betrachtung der Welt angeregt werden, sind Produkte unseres (vergänglichen) Denkorgans”

    Jetzt bin ich etwas verwirrt. So ist es eine klare nominalistische Position, aber Sie gehen ja einen Schritt weiter in Richtung Realismus, denn Sie sagen, wenn ich es richtig verstanden habe in etwa “Mathematiker bilden ihre Sätze allein mit evolutionär entstandenen Strukturen des Denkens. Diese Denkstrukturen aber haben sich im Laufe der Evolution weit genug an reale Strukturen der Welt angepasst, dass wir der Mathematik einen Realitätsgehalt zusprechen können”. Bin ich korrekt? Wenn ja, geht es mir eben um diese “Strukturen der Welt”. Klar, sie müssen nicht immaterielle Substanzen sein, auch nicht unbedingt unveränderlich, und klar, dass Sie als strikter Naturalist nicht geneigt sind in metaphysische Spekulationen abzudriften. Aber wenn Sie schreiben “Der Satz des Pythagoras existierte nicht, bevor ihn nicht ein Mensch formulierte. Was schon existierte, war eine entsprechende Struktur in der Welt, die später den Menschen Anlass gab, solche Zusammenhänge zu formulieren” sind diese Strukturen der Welt in Ihrer Betrachtung insoweit unabhängig, also auch platonistisch, als dass wir sagen können: “Obwohl wir keinen direkten Zugriff auf die Strukturen in der Welt haben, sind unsere eigenen Denkstrukturen doch so weit adaptiv gereift, als dass wir mit großer Wahrscheinlichkeit sagen können, dass ‘2+2=4’ nicht bloß adaptiv, nicht bloß pragmatisch erfolgreich, nicht bloß subjektiv, sondern WIRKLICH RICHTIG ist”. Das wäre ein schwacher, aber deutlicher Paltonismus, wie, wie ich denke, ihn auch viele Mathematiker vertreten. Man muss dazu auch keine “immaterielle Substanz der Idee ‘2’” annehmen.
    Wie gesagt, ich finde Ihren Ansatz sehr sympatisch, aber es bleibt für mich ein blinder Fleck, der vielleicht nicht so leicht naturalistisch geschlossen werden kann.

    “Ich weiß, dass die meisten Mathematiker und auch math. Physiker Platonisten sind (Penrose et.al.) ; ich kann mir das aber nur dadurch erklären, dass sie noch nicht so häufig erfahren haben, dass Vieles in der menschlichen Natur erst durch die Tatsache der Evolution plausibel wird”
    Ich sehe hier kein Problem. Man kann den mathematischen Platonismus genauso gut in Einklang mit der evol. Erkentnisstheorie vertreten, wie man auch den moralischen Realismus vertreten kann, obwohl man weiß, dass die eigenen Denkstrukturen adaptiv entstanden sind und keine “klare Sicht” erlauben. Nicht anders ist es in Mathematik.
    Und, so weit ich es verstanden habe, liegt der Erfolg des heutigen Platonismus in der Mathematik schlicht daran, weil sich jede Position, die beweisen will, Mathematik sei zumindest teilweise adaptiv, oder teilweise fehlerhaft, oder teilweise relativistisch, zu leicht in mathematische Probleme verstrickt (hier kann T. bestimmt mehr erzählen). Ich habe es auf jeden Fall erlebt, dass naturalistische Erklärungsansätze von Mathematikern von Grund auf mit starken mathematischen Argumenten kritisiert und dann auch einfach übergangen wurden. Ich denke nicht, dass sich bis Heute in diesem Problem viel getan hat, aber m.E. ist weder der Platonismus ein Problem für die evol. Erkentnisstheorie, noch die evol. Erkentnisstheorie ein Problem für den Platonismus. Ihr Beitrag auf jeden Fall scheint mir eher ein Schritt ZU der Versöhnung der beiden Pole zu sein, als von ihr weg.

  12. @Blume

    Da gibt es einen interessanten Teilaspekt der Wiss.-geschichte, auf den ich erst kürzlich aufmerksam wurde: Eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des frühmodernen Wiss.-verständnisses spielten Überbleibsel einer im 13. Jhdt. zerstörten eigenständigen Kulturentwicklung in Südfrankreich. Hier ein alter Artikel von Simone Weil dazu, Zbigniew Herbert’s kürzlich erschienener Essayband enthält ebenfalls einen sehr interessanten Artikel dazu, leider war davon nichts im web zu finden. Einige math. Physiker wiesen mich auch noch auf diesen Roman, dessen Geschichtsbild ihre eigenen Vorstellungen gut wiedergebe.

  13. zu Livios Buch:

    Laut FAZ-Besprechung nimmt er die Knotentheorie als Beispiel. Die ist tatsächlich ausserordentlich interessant. Hier DER Knotentheoretiker. Als ich mir vor langer Zeit das mal anschaute, war der Bezug zu Quantengruppen, math. Physik und Zahlentheorie noch unbekannt, aber mir fiel sofort auf, dass sich der Ideen- und Methodenreichtum dieses großteils elementaren Gebietes allenfalls mit dem der Zahlentheorie vergleichen läßt. “Knoten” und deren Varianten (z.B. “Zöpfe”) sind elementare Grundstrukturen, die schon immer, aber unartikuliert, im Hintergrund der Vorstellungen früherer Mathematiker auftraten. Z.B. hatte Hermann Weyl die Stabilität von Solitonen (oder wie man die Dinger damals nannte) daduch erklärt, dass sich in ihnen Energieflüsse “verknotet” hätten, bei Gauß kamen sie irgendwo vor, seit den frühen 60’er Jahren betrachtet man Primzahlen als Knoten (die Idee hatte Barry Mazur).

  14. Sprache, Kommunikation usw.

    Murray Gell-Mann verfolgt zur Sprachgeschichte ein sehr interessantes Projekt, hier eine Beschreibung. Interessant ist, dass sich die bekannten Sprachfamilien nur auf ca. 20.000 Jahre zurückverfolgen lassen, was Gell-Mann zu der Vermutung führt, dass es damals entweder einen sehr drastischen Bottleneck gab, oder dass (hält er für zu verrückt um wahr zu sein … aber was würde Bohr dazu wohl sagen?) Sprachen uns vertrauter Komplexität vielleicht erst damals entstanden sind. Die angeblichen Besonderheiten des Piraha könnten (wenn sie sich als zutreffend herausstellen) einen Hinweis auf niederkomplexe Sprachvorläufer liefern.

    Bei Themen wie ‘Sprache und Kommunikation’ usw. wird häufig vergessen, dass Paläoanthropologen sich zwar klar über die Sprachentstehung erst beim modernen Menschen äußern (Knochenkanäle für den Lautapparat steuernde Nerven waren bei älteren Hominiden zu klein), aber alle anderen Kriterien für die Überlegenheit des Homo Sapiens bereits beim Homo Erektus erfüllt sehen (z.B. Feuer, Siedlungen, Unabh. von spez. ök. Millieus, Technologie, die zu erlernen uns mehrere Wochen Anleitung abverlangt, etc.). Hier hatte ich das mal zusammengefasst (teils veraltet, teils inzw. stärker von Daten unterstützt, Paläoanthr. fanden’s grundsätzlich ok).

    Überhaupt halte ich es für sinnvoll, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen:
    Z.B. stimmt es zwar, dass die Gehirngröße von Hominiden im Verlauf der Geschichte zugenommen hat, aber ist schon lange vorbei! Seit ca. 20.000 Jahren (interessanterweise also seitdem wir über das Instrumentarium moderner Sprachen verfügen) gibt es einen durchgehenden Trend zur Hirnschrumpfung. Man könnte also sagen, dass die Wiss. etwas zu spät erfunden wurde, wir befinden uns schon auf dem absteigenden Ast der Entw.

    Anderes Bsp.: Die “natürliche” Populationsgröße der Menschheit, an die wir und unsere Sozialkompetenzen adaptiert sind, beträgt ca. 20.000 – 40.000 Menschen weltweit. Bis vor kurzem gab es auch nur so viele von uns. Das erklärt zum einen, wieso Menschen u. Kommunikation so eine große Aufmerksamkeit und Neugierde auslösen (s. Big Brother), zum anderen, warum wir mit unserer Umgebung (zu der seit neuestem ja vor allem Menschen u. Komm. gehören) so hemmungslos instrumentell umzugehen geneigt sind. Insbesondere dürfte der imaginierte Personenkreis in Mythen und Geschichten bis vor kurzem die Anzahl der tatsächlich erreichbaren realen Personen übertroffen haben. MaW, im Paläolithikum hatte jeder sein facebook und wikipedia im Kopf, der Austausch zwischen Gruppen dürfte sich mit der Weise, wie im Internet Daten abgeglichen, aktualisiert und zwischengespeichert werden, vergleichen lassen.

  15. nochmal zu “Platonismus”

    Ich denke, es gibt da erhebliche Abweichungen dessen, was nman jetzt üblicherweise darunter versteht, und der “Originalversion”. Z.B. was das Verständnis von “Abstraktionsprozessen” und “abstr. Begriffen” betrifft. Ein Physiker hat mal eine Kurzgeschichte geschrieben, in der er darstellte wie wohl eine ähnliche Regression von gegenw. Physik ausschauen würde, wie sie verm. große Teile der antiken gr. Philosophie erfuhren: “Der durch Neugierde getriebene Drang Wissen zu schaffen, wird substituiert auf einen mönchischen Anbetungskult vergangener Koryphäen wie Heisenberg, Dirac oder Leibniz.”.

    Unter Mathematikern habe ich “Platonismus” noch nie diskutiert gefunden. Diskutiert wird allenfalls, welche Konzepte und Theorien (Mathematik ist ja keine einheitliches Gebilde) als “platonisch” erlebt werden. Letzteres meint dann einfach eine besondere Qualität der sich darin ausdrückenden Einsichten, z.B. die Klassenkörpertheorie. “Platonismus” dürfte wohl seine deutlichsten Vertreter unter Physikern finden, denn “platonische” Überlegungen gehören zu deren Alltagsdenken und haben sich als enorm erfolgreich herausgestellt, z.B. der Maxwell’sche Verschiebungsstrom, ohne den es keine E.-Dynamik gäbe. Es ist einfach der enorme, oft wiederholte Erfolg “platonischer” Ideen. Diese Erfahrungen führten in den letzten paar Jahrzehnten dazu, erst in der Physik, dann auch in der Mathematik, Konsistenzfragen hintan zu stellen. Zum einen weil man etwa in der Physik mit Feynmanintegralen usw. als überzeugende und konkret handhabbare Ideen prima zurechtkommt, obwohl trotz ca. 60-jähriger intensiver Suche immer noch kein widerspruchsfreies, nichttriviales Modell der QFT gefunden wurde (hab aber letztes Jahr ds letzte mal nachgefragt). Ich glaube auch nicht, das irgendwer so etwas noch ernsthaft zu finden erwartet. Zum anderen haben sich Konsistenzthemen in der Mathematik als erstaunlich irrelevant erwiesen, Gödel’s Sätze rauben da keinem den Schlaf. Insbesondere gingen in den späten 50er Jahren Bourbaki und Grothendieck dazu über, bewußt verm. inkonsistente, Hilfskonstruktionen zu verwenden. Beides veranlasst, auch in der Mathematik Konsistenzfragen pragmatischer anzugehen. Dies ist nun sowohl sehr bodenständig (man interessiert sich vor allem an dem was “funktioniert”), als auch sehr “platonisch”, denn die Aufmerksamkeit richtet sich viel stärker als früher an interessanten, überzeugenden Ideen als Denkinstrumentarium. Insgesamt findet also eine verstärkte Rückbindung von “Wissenschaft” an die spezifisch menschl. Kultur statt, sie wird nicht mehr (was sowieso Unsinn war) als der Kultur, kulturellen Errungenschaften und kulturellen Werten extern betrachtet.

  16. Das Höhlengleichnis und die Theologen

    Zum Höhlengleichnis Platons schreiben Sie: „Das, was mich dabei allerdings wunderte, war, warum Theologen sich nicht damit beschäftigten. Wieso passte diese Welt der Ideen nun so gut auf die Natur, die uns doch im wesentlich[en] in Form von Materie begegnete?“
    Nun, das geht doch auch mich an. Ich erinnere mich tatsächlich nicht an eine sehr intensive Beschäftigung. Es wurde schon auch zur Kenntnis genommen. Aber, mag sein, auch eher noch auf dem kirchlichen Gymnasium Anfang der 60er-Jahre.
    Ich habe es jetzt nicht neu nachgelesen. Mir hängt daran als Erinnerung eben nicht die Aussage unserer Lehrer, dass „diese Welt der Ideen nun so gut auf die Natur“ passt. Sondern die eher davon wegführende Aussage: die uns umgebende und uns eindrücklich erscheinende Natur ist nicht die letzte Wahrheit; die finden wir erst jenseits der Natur – davor eben nur Schattenspiel an der Wand. Bzw. die finden wir nicht, sondern können sie nur jenseits der Natur glauben, sie muss uns offenbart werden.

    Das hatte – schreibe ich jetzt nicht wegen Ihnen sondern wegen anderer geneigter und abgeneigter Mitleser – durchaus einen Sinn, der sich mal im Kirchenkampf des Dritten Reiches gegen die „Deutschen Christen“ bewährt hatte: Ihr findet die Wahrheit nicht in der „Stimme des Blutes“ ff. Offenbarung bestätigt nicht das, was ihr euch als „natürliches Recht“ zurechtlegt, sondern durchkreuzt es. War ja insofern auch richtig. Aber uns vorpolitischen Schülern und Studenten wurde das nur als notwendiges Credo erklärt, nicht besonders gut vermittelt. Kam dann schon noch…

    Zunächst war mit dem Höhlengleichnis für uns also Metaphysik verbunden – verstanden im etwas abgeflachten Sinn: jenseits der Physis; nicht Nachdenken über die Physis. Da ich eigentlich nie so richtig ein „Kandidat des Jenseits“ werden wollte (und ich eigentlich schon immer diese Art der Erkenntnistheorie für einen Holzweg der Theologie halte), wurde mir das so verstandene Höhlengleichnis auch nicht so besonders wichtig. Ich denke aber, dass es einigen der zeitgleich mit mir ausgebildeten Theologen, die im traditionellen Sinn in Diesseits und Jenseits denken, durchaus im beschriebenen Sinn noch im Denkgepäck mit drin ist. Oft wohl als nicht weiter zu problematisierende Denkvoraussetzung.

  17. Platonismus, Math, etc.

    @Josef Honerkamp:

    Ich weiß, dass die meisten Mathematiker und auch math. Physiker Platonisten sind (Penrose et.al.) ; ich kann mir das aber nur dadurch erklären, dass sie noch nicht so häufig erfahren haben, dass Vieles in der menschlichen Natur erst durch die Tatsache der Evolution plausibel wird.

    Mit Ihrer Erklärung liegen Sie wohl ungefähr richtig. Die meisten Mathematiker plagen sich nicht sonderlich mit philosophischen Skrupeln herum, u.a. auch deswegen, weil diese Aspekte für die Praxis der Forschung in den allermeisten Teildisziplinen belanglos sind.

    Wenn man sie gezielt dazu befragt, dann werden die meisten Mathematiker gewiss bestätigen, dass in der Mathematik eher etwas gefunden und nicht etwa erfunden wird. Das ist aber primär Ausdruck des subjektiven Erlebens, wie man in der Mathematik zu Einsichten und Resultaten gelangt. Und das hat viel mehr mit Psychologie als mit Philosophie zu tun.

    Unter Mathematikern ist es i.a. auch unstrittig, in welchem Sinne etwa die Existenz der Objekte mathematischer Betrachtung zu verstehen ist. In ‘Road to Reality’ betont Penrose den platonischen Charakter dieser mathematischen Realität sehr gezielt und auffällig. Das dient ihm hier aber insbesondere auch zur unmissverständlichen Unterscheidung von einem physikalischen Realitätsbegriff, und es sind nicht unbedingt die Mathematiker, denen dieser Unterschied verdeutlicht werden muss.

    Tatsächlich haben die Philosphen ja eine beträchtliche Vielfalt von Typen des Platonismus spezifiziert. Saunders Mac Lane hat das aus der Sicht des Mathematikers einmal genauer analysiert (Mathematics: Form and Function, Springer, 1986) und gelangt zu dem Schluss

    In short, save for mythology, all the variants of Platonism shatter on the actual practice of Mathematics.

    Mac Lane widmet sich in dem zitierten Werk im weiteren auch der hier thematisierten “unreasonable effectiveness of mathematics”, und seine Sicht der Dinge ist mit der Ihren durchaus kompatibel.

  18. Zum Thema

    Warum können wir Gesetzmäßigkeiten in der Natur mathematisch fassen?
    Auf diese Eingangsfrage hin möchte ich noch eine Lanze für die Fraktale Geometrie brechen.
    Deren nichtlinearen Algorithmen modellieren die Formen der Natur, machen ihre Variationen mit Hilfe des Computers anschaulich begreifbar, sie sind ein mathematischer Schlüssel zum Verständnis der lebendigen Welt.

  19. Platonismus

    @Michael Blume
    Bin gespannt auf Ihren Kommentar zu meinem Buch.
    @N.Hagthorpe und T.
    Vielen Dank für die Anregungen. Mit einem solchen abgespeckten “Platonismus” kann ich auch leben, ich denke auch oft noch “platonisch” aus reinem Gefühl und aus Gewohnheit. Dennoch gehe ich nicht von irgendeiner irgendwie ewigen Existenz in einer “geistigen” Welt aus, wie es z.B. Penrose tut. Es kommt mir nur darauf an, dass man unser Denkorgan nicht statisch und geschichtslos sieht. Sogar unser Gehirn in unserem jetzigen Zustand ist ganz anders als das, als wir ein Kind waren – so wie sich unsere Gesichter wandeln, wandeln sich auch unsere Denkorgane. Umso mehr gilt das, wenn man sich die Entwicklung der Menschheit vor Augen stellt. Und das scheinen viele in der rein mathematischen Szene überhaupt nicht zu sehen.
    Aber schwacher Platonismus wie auch immer – das ist gar nicht mein Problem. Die extreme Tragfähigkeit dieser mathematischen Methode ist das Problem – bis in die Gebiete, die in unserer biologischen Vergangenheit gar nicht erfahren werden konnten. Man könnte argumentieren, dass dieser Erklärungsnotstand ein Indiz dafür ist, dass die Evolution in diesem Zusammenhang doch keine so große Rolle spielt. Das nehme ich aber nicht an. Dass unsere biologische Herkunft auch unser Denken prägt, scheint mir zu evident zu sein und aus der Geschichte der Physik kennt man analoge Situationen: Die Erklärung der Wärme durch die Bewegung der Moleküle konnte z.B. auch lange nicht die Wärmestrahlung erklären (die später als elektromagnetische Strahlung erkannt werden konnte).
    @T.
    Welche “platonischen” Überlegungen hat es bei der Postulierung des Maxwellschen Verschiebungsstrom gegeben? Meinen Sie mit dem Erfolg “platonischer” Ideen das, was wir in Mathematik und Physik “Schönheit” und “Eleganz” nennen? Das interpretiere ich als ein Gefühl bei besonders guter Passung zwischen Strukturen “da draußen” und unseren Denkmöglichkeiten.
    @Aichele
    Sie machen mich auf eine Ungenauigkeit in meinem Text aufmerksam: das “damit” in “warum Theologen sich nicht damit beschäftigten” sollte sich auf die Mathematik beziehen und nicht auf das Höhlengleichnis.

  20. @Rehm

    Danke für die Erinnerung an die Ausgangsfrage! Wie schon erwähnt, halte ich die Frage insofern für müßig, als daß die Verwendbarkeit von Mathematik zum Beschreiben und Erklären von Natur eben auch ein Beobachtungsdatum darstellt und somit zwangsläufig uberraschend und allenfalls ein Ausgangspunk weiterer Untersuchungen ist. Ob und wie sich diese Beobachtung selbst weiter thematisieren läßt, läßt sich erst im Nachhinein sagen. Genauso wie in der Geschichte der Astronomie: Da gab es eine Menge Beobachtungen, wie Anzahl der Planeten, Rücklaufpkte von Planetenbahnen, dass selbige in einer Ebene um die Sonne kreisen usw. Welche dieser und anderer Einzeldaten man als irreduzible Fakten, welche als erklärungsbedürftigen Ausdruck allgemeiner Gesetzte betrachtet, ist variabel. Erst ab einem bestimmten Wiss.-Niveau lassen sich Fragen in produktiver Weise formulieren und thematisieren (z.B. dimensionalität, flachheit, homogenität usw. des Raumes in der Astronomie). Zur Frage nach der Mathematisierbarkeit sind mir z.Z. keine produktiven Varianten und Formúlierungen bekannt.

    zu “Fraktalen”: Diese Vorstellung von Mathematisierbarkeit entspricht ungefähr den Niveau der Babylonier, hinkt der Enbtwicklung der Vorstellungen von Wissenschaft um ca. 1500 Jahre, der Gegenwart um ca. 4000 Jahre hinterher. Das kollidiert zwar nicht mit dem Gebrauch “neuer” Medien, schliesslich gab’s damals ja auch schon Lehm-mailboxen usw., ist aber ein wenig regressiv. Wissenschaft ist wirklich etwas anderes als die damalige Numerologie! Wenn Ihnen jemand empfiehlt, eine Warze durch das Aufkleben eines Heiligenbildchens zu behandeln, wäre derjenige immerhin schon auf mittelalterlichem Niveau, also ca. 2000 Jahre fortgeschrittener als Fraktalbeschwörungen(zweifellos durch unreflektierten Konsum von Populärwiss. Texten entstandenen). Ein Physiker ist kein Wahrsagepriester und Formeln sind längst keine Zaubersprüche mehr. Ich würde Ihnen vorschlagen sich mal etwas moderneres, z.B. Galilei’s Discorsi oder Huygens Texte anzuschauen.

  21. @Josef Honerkamp

    “Schönheit” und “Eleganz”? – Genau. Wobei Ästhetik natürlich eine sehr komplexe Sache ist, ähnlich wie Musikalität usw.: Einige haben von vornherein ein gutes intuitives Urteilsvermögen dafür, andere können es wenigstens erlernen (oder einigermaßen gut imitieren), anderen fehlt es so komplett, dass sie noch nicht mal dessen Existenz bemerken. Daß man sich daran so häufig orientiert liegt allerdings nur an dem bisherigen Erfolg, das kann sich also durchaus ändern. Viel liegt auch einfach an dem geringen Umfang bisheriger Kenntnisse, der sich in zahlreichen nachträglich bemerkten Redundanzen zeigt. Das betrifft auch die Mathematik, wie hier ein Kollege des Nachbarbloggers Gunter Dueck darstellt.

  22. Physikneid

    Ich möchte nur eine kleine Anregung für sie und interessierte Blogleser geben.
    Andrew Lo (Ökonom am MIT) und Mark Mueller(Physiker) sind der Frage
    nachgegangen, warum Physiker mit Hilfe der Mathematik Naturgesetze finden können
    und die Versuche der Ökonomen “ökonomische Gesetze” zu finden regelmässig fehlschlagen.
    Ihre Grundthese lautet (meine Interpretation): Physiker sind Rosinenpicker. Sie haben sich den Teil unserer Realität ausgesucht,
    der am leichtesten mathematisch modellierbar ist.
    Das gemeinsame Paper von Lo und Mueller (“Warning: Physics Envy May be Hazardous to Your Wealth”)
    ist hier abrufbar: http://web.mit.edu/alo/www/
    In einem amüsanten Video stellt Lo die Hauptthesen des Papers vor: http://mitworld.mit.edu/video/794/
    Ihren Blog finde ich toll, weiter so.

  23. @JMP

    Hier eine hübsche Überlegung dazu. Interessant finde ich auch den Hinweis am Schluß dieses Artikels, in dem der Verfasser (laut Nachfrage völlig ernst gemeint) die Erstellung auch nur adäquater Buchhaltungsverfahren für ein noch nicht angegangenes Forschungsprogramm vom Kaliber Feynman’s Quantenfeldtheorie hält. Vieles, was bei der vergangenen Finanzmarktkrise als Kulmulation individueller Nachlässigkeiten und Mängel erschien, könnte laut Verfasser einfach eine Nebenwirkung fehlender Buchhaltungsverfahren gewesen sein, genauso wie vor der Erfindung der doppelten Buchführung.

  24. Passendes aus heutiger “Zeit”

    Nachtrag zu “Erstellung auch nur adäquater Buchhaltungsverfahren für ein noch nicht angegangenes Forschungsprogramm”:

    Zeit heute:
    “Steinbrück konstatiert, ‘die Abweichungen zwischen nominalen Geschäften auf den Finanzmärkten und der realen Wertschöpfung’ machten deutlich, ‘dass es sich bei der gegenwärtigen Krise auch um eine Krise in den Köpfen handelt'”

  25. The unreasonable effectiveness of language

    Wenn man die Mathematik (oder präziser: den mathematischen Formalismus) als Sprache ansieht, wie es seitens der Anwender typischerweise geschieht, dann ist es doch naheliegend, die Perspektive einmal zu erweitern und die Titelfrage zu verallgemeinern:

    Warum können wir die Welt sprachlich fassen?

    Es kann also auch nicht sehr verwundern, dass sich mindestens ein Philosoph finden lässt, der die ursprüngliche Fragestellung bereits diesem Gesichtspunkt betrachtet hat, z.B.
    http://www.ias.ac.in/currsci/feb102005/415.pdf

    Auf diese Weise wird die Angelegenheit in den Bereich der Sprachphilosophie im weitesten Sinne gerückt und, wie ich meine, allein hierdurch schon demystifiziert. Dass Sprache und alles, was damit zusammenhängt, einem Prozess evolutionärer Anpassung unterworfen ist, das liegt auf der Hand (zumindest für alle diejenigen, die nicht gerade an irgendeiner Form von “Intelligent Design” leiden).

  26. @Crys

    “Mathematik als Sprache”: Den Ansatz hatten Hegel (und später bei der Analysis Marx) versucht. Schliesslich nochmal Bertrand Russel, dessen Doktorarbeit in einem brillianten Sprachfeuerwerk nachwies, dass “Raum” in der Physik zwingend eine konstante Krümmung haben müsse – als Einstein wenige Monate danach seine Relativitätstheorie veröffentlichte, gelobte Russel “sowas nie wieder” zu tun, schrieb eine der besten pop.-wiss. Erläuterungen von Einsten’s Theorien und erarbeitete sich eine beachtliche math. Kompetenz um stets auf dem Laufenden zu sein….

  27. Sprache

    Chrys fragt:

    „Warum können wir die Welt sprachlich fassen?“

    Meine Meinung: Aus dem praktischen Grund der Übersichtlichkeit komprimieren wir riesengroße, komplexe Gegenstände der Wahrnehmung und des Denkens in extrem kurze Wortgestalten. Zum Beispiel eine Strichliste mit einer unüberschaubaren Menge von Strichen wird durch ein kurzes Zahlwort augenblicklich präzise fassbar.
    So verkürzt das Wort „zweitausendvierhundertachtundzwanzig“ eine riesige nicht bestimmbare Strichmenge auf zehn Silben bzw. sechsunddreißig Buchstaben, womit innerhalb von zwei Sekunden eine exakte Vorstellung der Mengengröße zum Ausdruck gebracht werden kann.

    Sechsunddreißig Buchstaben sind den Mathematikern immer noch zu viel Aufwand und deshalb schreiben sie nur Ziffern an Stelle der zehn Grundzahlwörter und erreichen eine weitere Kürzung im Dezimalsystem, so daß das sechsunddreißig Buchstaben lange Zahlwort durch vier Ziffern 2428 ersetzt werden kann, ein Neuntel der Buchstabenmenge, schön übersichtlich.

    Ähnliche Kürzungen gibt es auch in der allgemeinen Sprache bei sehr langen Wörtern oder Wortkomplexen, zum Beispiel = z.B., HIV. SPD, ARD, Kfz,
    schon die alten Römer benutzten viele Abkürzungen für längere Wörter.
    Sprache komprimiert demnach die Welt in kleine Häppchen, die unser Verstand schlucken kann, und die Mathematik treibt diese Verkürzung auf die Spitze, das ist ihr Erfolgsgeheimnis.

    Eine weitergehende Frage wäre, wie diese komprimierende Fähigkeit der Sprache im physiologischen Ablauf der Gehirntätigkeit vorstellbar ist.
    S.R.

  28. halbmast geflaggt

    Eine traurige Nachricht: Der von mir hoch verehrte Mathematiker Benoid Mandelbrot ist am 14.10.10 im Alter von 85 Jahren gestorben. Ihm hätte ich noch einen Nobelpreis gegönnt, den es für Mathematik aber nicht gibt.
    Hier ein Zoom durch die Mandelbrot-Menge mit Mozarts Requiem im Hintergrund.
    S.R.

    http://vids.myspace.com/…-487f-be2c-cbbd50b054e8

  29. “komprimierende Fähigkeit”

    Hier ein link + weitere links zu den sehr interessanten Überlegungen eines berühmten Mathematikers am IHES, der auch viel zu math. Biologie gemacht hat. Hier ein auch zum Thema passender Artikel eines anderen, sehr bekannten Mathem.

    Zu Fraktalen: Hübsch, aber nur am Rand zur Mathematik gehörend. Waren übrigens schon den alten Griechen bekannt, die ebenfalls ein der gegenw. Populärwiss. ähnliches Theater drum herum machten (aber ein viel produktiveres, der Vergleich lehrt viel).

  30. @T

    Hallo T, (komprimierter Theodor?)
    diese links ersetzen für mich keine Argumente, ich kann damit nicht viel anfangen, was willst DU damit sagen?
    Die Griechen hatten noch keine imaginär-komplexen Zahlen, keine nichtlinearen Gleichungen und vor allem keine Computer. Deine gewagten Behauptungen müßtest Du besser belegen, um glaubwürdig zu sein.
    Am Rand der Mathematik, da magst Du Recht haben, aber für die Freunde der Fraktalen Geometrie sind gerade die Ränder, die Grenzen, seit B.Mandelbrots Entdeckungen ein bevorzugtes Gebiet, voller Überraschungen.
    Benoid Mandelbrots Name wird im Mandelbrot-set noch viele Generationen überleben.

  31. Ist die Mathematik eine Sprache?

    Die Auffassung, dass die Mathematik quasi als ein Teilgebiet der Linguistik anzusehen ist, findet ja durchaus ihre Befürworter. Ein Zitat:

    The basis of all human culture is language, and mathematics is a special kind of linguistic activity.

    (Das stammt von Yuri Manin, weshalb es erstaunlich ist, dass Mr. T. es hier noch nicht verlinkt hat 😉

    Es lassen sich aber auch Argumente dafür finden, in der Mathematik mehr als nur eine spezialisierte Sprache zu erblicken. Als Beispiel, mathematische Betätigung umfasst u.a. auch numerische Rechenoperationen. Rechnerische und sprachliche Aktivitäten sind im menschlichen Gehirn aber offenbar recht unterschiedlich implementiert, vgl.
    http://www.scientificamerican.com/…without-words

  32. Ist Musik auch eine Sprache?

    Chrys schreibt:
    „Rechnerische und sprachliche Aktivitäten sind im menschlichen Gehirn aber offenbar recht unterschiedlich implementiert,“

    Kann ich nicht bestätigen, diese Fähigkeiten liegen im Cortex dicht beisammen,
    meist überwiegend in der linken Hirnhälfte. Bei Schäden im parietalen Cortex kommt es oft zum gemeinamen Ausfall von Sprache, der Fähigkeit des Lesens, Schreibens und des Rechnens (Aphasie, Alexie, Agraphie, Akalkulie), und das Wiederholen von Melodien und geklopften Rhythmen geht nicht (Amusie).

    Ja, ohne Cortex sind wir arm dran.

    Ich schätze, Josef Honerkamp hat nichts dagegen, daß wir neben der Mathematik auch die Musik als eine spezifische menschliche Sprachform in die Linguistik integrieren. Dann geht das sprachliche Spektrum von der strengen Logik der (internationalen!) Mathematik bis zur (internationalen!) Sprache der Gefühle, die wir in der Musik hören. Gemeinsam ist allen Sprachformen eine spezielle schriftliche Form, ein spezifischer Rhythmus, eine rhythmisch artikulierte Form und darin für Subjekte erkennbar das Phänomen „Sinn“.

  33. @Chrys, Steffen Rehm

    Hallo, links kommuniziere ich nur, wenn ich den Eindruck habe, sie würden etwas interessantes zum Thema beinhalten. (Der zur NZZ kürzlich war eine Ausnahme, die ich mir nicht verkneifen konnte, denn zu Blanqui/”Nemo”/Verne hatte ich mal einen Austausch mit fr. Historikern und der Verne-Gesellschaft, die die Idee gut fanden und anboten, die für Deutsche nicht so offenen hist. Archive zugänglich zu machen)

    Die Idee fraktaler Strukturen war den Griechen tatsächlich schon früh gut bekannt, statt Bildchen darüber zu machen, aber versucht, als allg. Grundprinzip zu verwenden.

    Als vor ein paar Jahrzehnten ein Physiker u. Philosoph in einer short story versuchte, sich einen der spätantiken Philosophie analogen intellektuellen Zerfall unserer gegenwärtigen Wissenschaftsweltbilder auszumalen, kam er der neueren Apfelmänncheneuphorie erschreckend nahe.

    Zu Sprache etc.: Es ist ja gar nicht klar, was “Sprache” sein soll. Was man allerdings weiss,ist dass, was wir als menschl. Sprache bezeichnen, seit ca. (Gell-Mann fragt, ob überhaupt erst seit…) 20.000 Jahren existiert, die Wissenschaft, Mathematik usw. aber erst seit ca. 2.500 Jahren. Das, sowie die Beobachtung intelligenter, motivierter, hoch sprachkompetenter Menschen, die, sobald man als Physiker oder Mathematiker das Gefühl hat, “nun wird das Hirn angeschaltet”, nichts mehr auf die Reihe kriegen, verweist auf einen fundamentalen Unterschied zw. “Sprache” und “Denken”. Lars Gustafsson hat mal in einer Geschichte schön dargestellt, wie für ihn der Mensch ein symbiotisches Lebewesen sei, aus Biologie und Sprache bestehend. Ich würde das auf “Biologie, Sprache, Denken” erweitern.

  34. Nach wie vor steht aber die Frage im Raum

    Nach wie vor steht aber die Frage im Raum, ob Zählen und Er-Zählen; das Verbinden, das Verknüpfen; oder jede Form von resonanter Konstruktion, Strukturbildung oder Struktur-Empfindung sei es als Rhythmik, Rechnung, Geometrie oder Zeichensprache – ein Temperaturprozess vorangegangen sein muss, von einem Temperaturprozess begleitet wird und einen Temperaturprozess weiter irreversibel entropisch ausstreut. Die Antwort lautet absolut zweifellos und deutlich: Ja. Hier gibt es noch nicht mal die Spur eines Zweifels oder den Ansatz eines “Abers”
    Deshalb muss das Verhältnis von Mathematik und Sprache zur Thermodynamik beschrieben werden. Und hier gilt immer: Jedes Setzen eines Zeichens, jede Wahrnehmung von Zeichen in einem fließgleichgewicht-stabilisierten kognitiven Apparat oder in einem Gehirn, hat ganz prinzipiell immer einen Zeitverzug gegenüber seines eigenen energetischen Ernährungsstatus` und es sitzt immer im blinden Fleck gegenüber einer Wärmestreung, die nicht zur Rechnung, zur Wahrnehmung oder zur cognitiven Verknüpfung herangezogen werden kann, sprich: die als ungenutzter Anteil von Energie dabei entropisch abgestrahlt wird.
    Vor dem Hintergrund der Thermodynamik sind Mathematik, Sprache und Musik das Selbe. Im Hören, Im Lesen, Rechnen oder Schreiben hinken alle cognitiven Betätigungen ihrem eigenen Temperaturprozess zeitlich immer hinterher. Weil jeder Hörer, Leser, oder Rechner oder Schreiber immer schon thermodynamisch ernährt worden ist, noch bevor er überhaupt weiß, dass er in diesem Moment hören, lesen, schreiben oder rechnen wird.
    Und diese Tatsache ist einzig und allein kosmologisch entscheidend. Der Rest ist Ausdifferenzierung. Von einer Blume oder einem Delphin oder einer Planetenumlaufbahn entscheiden wir uns nur graduell.
    Und das wusste schon Arnold Sommerfeld.

    Auch die fraktale Geometrie hinkt dem entropischen Temperaturprozess zeitlich hinterher

  35. Das Problem bei den Primzahlen ist der Mathematiker.

    Wenn jemand “Eins” zählt, sagt er damit lediglich: “Ich” Es ist also eine Identifikation. Und das sind dann aber schon Zwei. Nämlich “Eins” und “Ich”

    Ein Mathematiker muss aber von Berufs wegen so tun, als sei er selbt gar nicht da. Also fängt er nicht mit “Zwei” zu zählen an sondern mit “Eins” – was zwar technologisch praktikabel ist, aber kosmologischer Unfug. Unterschlagung.

    Und deshalb gibt es auch die Primzahlen. Sie sind..genau so wie die Quanten eine Real-Halluzination oder ein Scheinproblem.

    Die Primzahlen spiegeln diesen Anfangsbetrug dann bloss immer wieder.

    Weil das Setzen der “Eins” immer schon eine Pseudo-Diskretion ist, die so tut, als gäbe es echte Diskretionen, also zum Beispiel eine echte Diskretion zwischen Zahl und Mathematiker. Die Primzahlen spiegeln nicht anderes wieder als die Abwesenheit des Mathemtikers, also des Zählers, und das gilt so ziemlich für alle arithmetischen Spiele, die mit Primzahlen gespielt werden können.
    So viel zum Thema Denken.

  36. @Thilo

    Danke für den lustigen link! Zu “Sprache und Zahlen” wäre es natürlich auch interessant, zu wissen, ob die Berichte über das Piraha zutreffen. Interessant ist auch, wie sehr sich die alten Griechen mit dem Zahlbegriff abgeplagt hatten, es fiel denen offenbar sehr schwer, zwischen ihm und rhetorischen Figuren oder Bildern zu unterscheiden. Ebenso seltsam sind überlieferte, noch ältere Rechenverfahren.

    Zu ihrem interessanten blog fallen mir gerade noch ein link ein:
    Voevodski’s anderer Vortrag. Wie schon woanders bemerkt, halte ich seine Idee für ein Nebenprodukt des seit längerem von russ. Mathematikern (Manin, Drinfeld,Kontsevich,Voevodski,…) praktizierten Umgangs mit der Physik.

    Dass der Spektrum Verlag nun so eine Art “Tea Party Bewegung” in der Wissenschaftspublizistik betreibt, wie Sie kritisieren, ist natürlich auch sehr bedenklich. Ist Murdoch am Spektrum Verlag beteiligt? Oder die Bertelsmann, Oetker etc.?

  37. J. Baez’ “The art of math: pictorial branch of mathematics helps physicists”

    “Here’s a gentle introduction to the work my students have been doing on categorification and physics:
    • Sophie Hebden, The art of math: a pictorial branch of mathematics could help physicists draw new conclusions about quantum gravity and the nature of time.
    It was put out by the Foundational Questions Institute, or FQXi. This is an organization that funds innovative research on hard questions like:
    what is the nature of time?,
    what is ultimately possible in physics?”
    http://golem.ph.utexas.edu/…rt_of_math.html#more

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