Löws Hosengate: Die Evolution ist schuld

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Wie das? wird sich der erstaunte Leser fragen. Hier die kurze Antwort. Die Anatomie des menschlichen Hodensacks ist zwei besonderen Schritten der Wirbeltier-Evolution geschuldet: dem Landgang und der Entwicklung einer relativ hohen konstanten Körpertemperatur bei den Säugetieren.

Die beiden männlichen Keimdrüsen, in denen die Samenzellen gebildet werden, liegen außerhalb des Körpers in einem Hautbeutel zwischen den Beinen, dem Hodensack (Skrotum). Jeder Hoden1 ist am Samenstrang im Hodensack aufgehängt. Die beiden Hoden hängen allerdings nicht auf gleicher Höhe, damit sie sich bei normalen Bewegungen nicht quetschen.

Ursprünglich lagen die Keimdrüsen beider Geschlechter im Inneren des Körpers, was sie bei den anderen Wirbeltiergruppen – Fischen, Amphibien, Reptilien und Vögeln – noch immer tun. Selbst bei den ursprünglichen Säugetieren, den eierlegenden Kloakentieren2, liegen die Keimdrüsen im Inneren des Körpers. Auch beim Menschen befinden sich die Eierstöcke, die weiblichen Keimdrüsen, im Inneren des Körpers.

Der Hodenabstieg

Die Hoden entstehen in der Bauchhöhle, in Höhe der oberen Lendenwirbel im Bereich der Nierenanlage, wandern aber beim Menschen, Schwein und Hase kurz vor der Geburt, bei Nagetieren erst zur Pubertät, durch den Leistenkanal in den Hodensack. Biologen nennen diesen Vorgang Hodenabstieg (Descensus testis). Bei Hamster und Fledermäusen findet ein saisonaler Hodenabstieg statt: die Hoden liegen nur zur Paarungszeit außerhalb der Bauchhöhle.

Bei Pferden geschieht der Hodenabstieg im Zeitraum von 30 Tagen vor bis 10 Tage nach der Geburt. Kommt es nicht zu einem Hodenabstieg, spricht man von Kryptorchismus. Bei einer Körung werden beide Hoden vermessen. Wichtig für den Züchter und den behandelnden Tierarzt ist vor allem die Frage, wann ein Hengst mit einseitigem oder beidseitigem Hodenhochstand mit großer Wahrscheinlichkeit ein Kryptorchide bleiben wird und kastriert werden muss bzw. von der Zucht ausgeschlossen werden muss.

Es gibt allerdings Säugetiergruppen, bei denen die Hoden generell in der Bauchhöhle verbleiben, die sogenannten Testiconda. Dabei können die Hoden am Ort der Anlage verbleiben, wie bei den Elefanten, oder absteigen, aber dennoch in der Bauchhöhle verweilen.

Der Hodenabstieg ist bei einigen Säugetieren der Tatsache geschuldet, das die Samenzellen nur innerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs lebensfähig bleiben, der einen Wert von ca. 35 °C nicht übersteigen sollte. Da bei uns Menschen die Körpertemperatur dummerweise 37 °C beträgt, behalf sich die Evolution damit, die Hoden kurzerhand aus der Bauchhöhle auszulagern und in einem Hautsack zwischen den Beinen, einem kühleren Ort, anzusiedeln.

Jeder Hoden wird von einer dünnen Haut, der Tunica vaginalis, umgeben: dann folgt das Bindegewebe mit der Faszie. Im Bindegewebe befindet sich eine Muskelschicht, die Tunica dartos. Ihre tonische Kontraktion verursacht die typische Kräuselung der Haut des Hodensacks und unterstützt das Heben der Hoden. Unter dem Bindegewebe liegt eine weitere Muskelschicht, der M. cremaster. Der M. cremaster bewegt die Hoden an den Körper heran oder von ihm weg um die optimale Temperatur einzustellen. Steigen die Umgebungs- oder die Körpertemperatur, entspannt sich der M. Cremaster, und die Hoden bewegen sich vom Körper weg. Eine Abkühlung des Hodensacks, wie etwa beim Sprung ins kalte Wasser, löst den Kremasterreflex aus – die Hoden werden an den Körper herangezogen, um eine Abkühlung der Hoden zu verhindern.

Während des Hodenabstiegs wird die Bauchhöhle ausgeweitet und an der Durchtrittsstelle bleibt eine Öffnung zurück. Sie ist natürlich nicht zu sehen, da sie von Haut bedeckt wird. Durch Gewebe, manchmal sogar eine Darmschlinge, das aus dieser Öffnung austritt, entstehen die sogenannten Leistenbrüche, die äußerst schmerzhaft sein können und bei Männern neunmal häufiger auftreten als bei Frauen.

Im Jahr 1990 entdeckten britische Forscher auf dem Y-Chromosom ein Gen, das für die Entwicklung der Hoden benötigt wird. Sie nannten es SRY, was für „Sex determining region of Y-Gen steht. Bei der Abwesenheit von SRY3 entwickeln sich in den Anlagen für die Geschlechtsorgane Eierstöcke. Die Forscher betonten, dass die An- oder Abwesenheit von SRY nur der Auslöser für die weitere Entwicklung der Geschlechtsorgane ist, deren physiologischen und anatomischen Aspekte komplex sind und an dem viele Gene beteiligt sind.

Die Evolution der menschlichen Hand

Die Hand mit der sich Löw an seinen Hodensack fasste…

begann sich vor etwa 380 Millionen Jahren aus der muskulösen, kräftigen Vorderflosse eines ausgestorbenen Ahnen der heutigen Lungenfische zu entwickeln. Noch später entstanden die Finger. Die Hand von Ichthyostega hatte sieben Finger, die Hand von Acanthostega acht. Diese beiden Vertreter einer Fisch-Amphibien-Übergangsgruppe aus dem Devon, waren die ersten Wirbeltiere, die den Landgang probten,

Als dann manche Wirbeltiergruppen vor 340 Millionen Jahren endgültig an Land gingen, verringerte sich die Anzahl der Finger einer Hand auf fünf. Die Pentadactylie, wie Zoologen diese Fünfstrahligkeit an den Vorder- und Hinterbeinen nennen, gilt als Normalfall unter den Vierfüßern (Tetrapoden).

Die menschliche Hand verfügt über ein umfangreicheres Greifrepertoire als die der Primaten. Die Anthropologin Mary Marzke beschreibt drei wesentliche Griffarten, die es dem Menschen ermöglichen, ganz präzise zu greifen, zu werfen, Gegenstände zu manipulieren und zu bearbeiten:

1. Der seitliche Zangengriff: Die Spitze des Daumens drückt dabei gegen die Seite des Zeigefingers.
2. Der 3-Punkte-Feingriff: Daumen, Zeige- und Mittelfinger umgreifen zum Beispiel einen Tennisball.
3. Der 5-Punkte-Korbgriff: Alle fünf Finger halten den Gegenstand – und der Gegenstand kann gleichzeitig mit allen fünf Fingern bewegt werden.

Marzke entdeckte die anatomischen Merkmale diese drei Griffarten ermöglichen.

1. der längere Daumen
2. das verbreiterte Sattelgelenk des Daumen (es ermöglicht, dass der Daumen mit den anderen vier Fingern zusammen greifen kann)
3. die breitere Flächen der Fingerspitzen
4. Veränderungen der Muskeln an der Daumenbasis
5. etliche kleine Veränderungen in den Handwurzelknochen.

Fußnoten

1. Als Biologe, der Wissenschaftskommunikation ernst nimmt, muss ich die umgangssprachlich oft verwendete Bezeichnung „Eier“ natürlich ablehnen. Hoden sind Organe, Eier sind Eizellen und nur Frauen bilden Eizellen und zwar in den Eierstöcken. Die Haut des Hodensacks findet ihre Entsprechung bei der Frau in den großen Schamlippen.

2. Bei den Kloakentieren münden Harn- und Geschlechtswege zusammen mit dem Enddarm in einen gemeinsamen Ausführgang, die Kloake. Über die Kloake werden sowohl Urin und Kot ausgeschieden als auch der Austausch der Keimzellen und die Ablage der Eier erfolgen. Zur Ordnung der Kloakentiere (Monotremata) gehören die Familien: Ameisenigel (Tachyglossidae), Schnabeltiere (Ornithorhynchidae)

3. In sehr seltenen Fällen (Häufigkeit ca. 1:100.000 bei Frauen) kann das SRY-Gen auf dem Y-Chromosom fehlen oder durch Mutationen inaktiviert sein, wodurch Menschen mit diesem Gendefekt sich zu sterilen XY-Frauen entwickeln, die ein männliches genetisches Geschlecht haben. Diese Frauen haben eine Gebärmutter, Klitoris, Vagina. Während der Pubertät bleibt jedoch die Ausbildung der sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale wie Brustentwicklung, und Menstruation aus. In seltenen Fällen (Häufigkeit ca. 1:10.000 bei Männern) kommt es durch ein Crossing-over zu einer Übertragung des SRY-Gen auf das X-Chromosom. Dadurch entstehen sterile XX-Männer, mit weiblichem genetischen Geschlecht. Sie haben männliche innere und äußere Geschlechtsorgane, jedoch meist kleine Hoden.

Weiterführende Literatur

Entwicklung der Geschlechtsorgane beim Menschen

Factors controlling testis descent

Kleisner K, Ivell R, Flegr J. (2010) The evolutionary history of testicular externalization and the origin of the scrotum. J Biosci., 35(1), 27-37.

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Joe Dramiga ist Neurogenetiker und hat Biologie an der Universität Köln und am King’s College London studiert. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Genexpression in einem Mausmodell für die Frontotemporale Demenz. Die Frontotemporale Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns, die sowohl Ähnlichkeit mit Alzheimer als auch mit Parkinson hat. Kontakt: jdramiga [at] googlemail [dot] com

4 Kommentare

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  2. Guten Tag
    Schleierhaft bleibt mir, warum die Evolution für die Samenzellen diesen Temperaturbereich von 35º überhaupt gewählt hat. Da die Hoden sich im Innern des 37º warmen Körpers entwickeln, hätte die Evolution doch auch für die Samenzellen diesen Temperaturbereich wählen können, wie zum Beispiel bei der Frau, wo die Eierstöcke auch nicht ausserhalb zu liegen kommen. Dieser Hodenabstieg ist doch reichlich kompliziert, und noch niemand hat mir den Sinn für diese 2 Grad Unterschied evolutionsbiologisch erklären können. Ausserhalb des Körpers sind die für die Fortpflanzung der Art wichtigen Hoden auch höchst gefährdet. Evolutionspfusch ?
    Martin Hintermann

    • Evolutionspfusch? Es war jedenfalls nicht Intelligent Design 😉 Noch pflanzt sich das Säugetier Mensch munter weiter fort – trotz einiger biologischer Unzulänglichkeiten. Es gibt allerdings einige andere Säugetiergruppen, die den Hodensack im Laufe der Evolution bereits abgeschafft haben.

      • @Joe,

        nach meiner Einschätzung hat der intelligente Designer Adams Hoden nach außen verlegt, damit Eva ihm wirkungsvoll in dieselben treten konnte.

        Alles hat seinen Sinn…

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