Romeo und Julia: Die tragische Geschichte hinter ICD10-GM-2015: I46.0

Julia liebt Romeo, der aus Verona verbannt wurde. Ihre Eltern wollen jedoch, dass sie den Grafen Paris heiratet. Verzweifelt bittet sie den Mönch Lorenzo um Rat, findet er keine Lösung, droht sie ihm, sich mit einem Messer zu töten. Lorenzo erschrickt daraufhin und schlägt ihr folgenden Plan vor: Er gibt Julia ein Gift, das sie für 42 Stunden scheintot macht. Ihre Eltern werden glauben sie sei tot und werden sie bestatten, Lorenzos Mitbruder Markus wird in der Zwischenzeit Romeo benachrichtigen, der sie dann aus der Familiengruft befreien wird. Gemeinsam werden sie dann aus Verona fliehen. Julia willigt in den Plan ein.

Soweit die dramatische Rahmenhandlung, nun zu den Details, die für den Kardiologen interessant sind. Geben wir Bruder Lorenzo das Wort:

Wohl denn! Geh heim, sei fröhlich, will’ge drein,
Dich zu vermählen: morgen ist es Mittwoch;
Sieh, wie du morgen Nacht allein magst ruhn;
Laß nicht die Amm’ in deiner Kammer schlafen.
Nimm dieses Fläschchen dann mit dir zu Bett,
Und trink den Kräutergeist, den es verwahrt.
Dann rinnt alsbald ein kalter matter Schauer
Durch deine Adern, und bemeistert sich
Der Lebensgeister; den gewohnten Gang
Hemmt jeder Puls und hört zu schlagen auf.
Kein Odem, keine Wärme zeugt von Leben;
Der Lippen und der Wangen Rosen schwinden
Zu bleicher Asche; deiner Augen Vorhang
Fällt, wie wenn Tod des Lebens Tag verschließt.
Ein jedes Glied, gelenker Kraft beraubt,
Soll steif und starr und kalt wie Tod erscheinen.
Als solch ein Ebenbild des dürren Todes
Sollst du verharren zweiundvierzig Stunden,
Und dann erwachen wie von süßem Schlaf.

(4. Akt, 1. Szene, Nach der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel)

Der Kräutergeist macht Julia für 42 Stunden klinisch tot. Wenn wir bedenken, dass die Geschichte 1596 also im Elisabethanischen Zeitalter spielt, dann sind an Lorenzos Ausführungen zwei Dinge bemerkenswert: der physiologische Wirkmechanismus und die kardioplegische Lösung.

Der physiologische Wirkmechanismus

Schauen wir uns einige Textstellen aus Lorenzos Erläuterung genauer an, um den Wirkmechanismus zu verstehen.

  • Dann rinnt alsbald ein kalter matter Schauer
    Durch deine Adern, und bemeistert sich
    Der Lebensgeister;

Dein Blut und deine Nerven werden kalt, dadurch wirst Du betäubt und gelähmt. Im Elisabethanischen Zeitalter dachten die Menschen, die Nerven wären Kanäle, durch die ein sehr feines flüchtiges Fluidum fließt. Für Shakespears Zeitgenossen war dieses Fluidum die Ursache von Empfindlichkeit und Beweglichkeit. Sie nannten es Lebensgeister. Sie glaubten die Abwesenheit der Lebensgeister, sei die Ursache für die Bewegungslosigkeit und Kälte toter Körper. Der neuzeitliche Philosoph Descartes war da anderer Meinung: Die Lebensgeister fliehen, wenn man stirbt, weil die Wärme entschwindet und die Organe, die dem Körper die Bewegung ermöglichen, sich auflösen. Damit gab Descartes dem Körper eine neue Bedeutung, die ihn nicht mehr zum bloßen Anhängsel der alles steuernden Seele macht. Vielmehr denkt er den Körper als Automat, d. h. als eine Maschine, die sich aus sich selbst bewegt.

Die Idee der Lebensgeister geht auf das Pneuma der antiken griechischen Philosophie zurück: Das Pneuma ist die materielle Lebenskraft, die für alle physiologischen Vorgänge verantwortlich ist. Zusammen mit dem Blut bewegte es sich durch die Adern. Manche antiken Ärzte glaubten, dass das Pneuma im Gehirn sitzt, andere im Herzen. Aristoteles unterschied zwei Arten von Pneuma: Erstens Pneuma zur Erhaltung der Körpertemperatur, das von außen eingeatmet wurde. Zweitens angeborenes, aus dem Blut verdunstetes Pneuma im Herzen. Straton von Lampsakos nahm an, die Absonderung von Pneuma bewirke Schlaf. Nach Erasistratos gab es ein Lebenspneuma im Herzen und ein psychisches Pneuma im Gehirn. Erasistratos vermutete Blut in den Venen, Pneuma in den Arterien und psychisches Pneuma in den Nerven.

  • den gewohnten Gang
    Hemmt jeder Puls und hört zu schlagen auf.

Dein Herz hört auf zu schlagen.

  • Kein Odem, keine Wärme zeugt von Leben;

Deine Lunge atmet nicht mehr, der ganze Körper wird kalt.

  • Der Lippen und der Wangen Rosen schwinden
    Zu bleicher Asche

Deine Lippen und Wangen erblassen, weil kein Blut mehr fließt.

  • deiner Augen Vorhang
    Fällt, wie wenn Tod des Lebens Tag verschließt.

Du verlierst das Bewusstsein.

  • Ein jedes Glied, gelenker Kraft beraubt,
    Soll steif und starr und kalt wie Tod erscheinen.

Deine Skelettmuskulatur ersteift und wird kalt.

Lorenzos Kräutergeist kühlt das Blut und die Nerven und stoppt damit den Herzschlag. Der Herzstillstand verhindert die Atmung und unterbricht den Blutkreislauf. Lorenzos Konzept ist ein induzierter klinischer Tod durch Unterkühlung mit Wiederbelebung. Seine Beschreibung der klinischen Symptome ähnelt stark der modernen Beschreibung der klinischen Symptome bei einer fortschreitenden Unterkühlung des Körpers (Hypothermie). Diese verläuft in drei Phasen:

Phase I (bei Rektaltemperatur von 37-34°C): erhöhte Kälteabwehr durch Hautgefäßkontraktion, Steigerung des Sauerstoffverbrauchs, der Herzfrequenz, des Blutdrucks u. der Wärmeproduktion (Kältezittern)

Phase II (34-27°C): fortschreitende Schmerzunempfindlichkeit, Puls- u. Atemverlangsamung, Muskelstarre, Reflexabschwächung, Absinken des Energiestoffwechsels; ab ca. 32°C Bewusstlosigkeit, Zusammenbruch der Wärmeregulation

Phase III (27-22°C): allmähliches Erlöschen aller autonomen Körperfunktionen bis zum Kältetod (bis 18°C evtl. abwendbar).

Ich vermute, dass Lorenzo, wie viele Mönche damals, Naturforscher war und durch seine Beobachtungen von Tieren zu seinem Plan inspiriert wurde. Ich denke da an die Winterstarre von wechselwarmen Tieren wie Fischen, Fröschen, Eidechsen, Schildkröten und Insekten. Wenn es sehr kalt wird, erstarren ihre Körper und sie wachen erst wieder auf, wenn es Frühling und draußen wärmer wird. Sie einfach aufzuwecken, ist bei diesen Tieren nicht möglich. Der Stoffwechsel wird stark verlangsamt. Es erfolgt weder Muskelkontraktion noch Nahrungsaufnahme. Die Tiere sind während der Winterstarre völlig bewegungsunfähig.

Bei einem weiteren Rückgang der Temperatur auf für das Tier tödliche Werte (Letalwerte), tritt der Kältetod ein. Um ihm zu entgehen, suchen sich Tiere, die in Winterstarre fallen, möglichst frostgeschützte Plätze zur Überwinterung auf. Frösche vergraben sich im Winter entweder im Schlamm oder suchen kleine Mäusegänge, um in Winterstarre zu fallen. Dort gefriert es nur selten. Insekten verstecken sich im Holz und in kleinen Ritzen. Sie haben eine Art Frostschutzmittel in ihrem Körper: Selbst wenn draußen Minustemperaturen sind, friert ihre Körperflüssigkeit nicht ein, sondern bleibt flüssig.

Im Auftrag der European Space Agency (ESA) untersuchen Wissenschaftler an der Universität Verona die Möglichkeiten, Menschen durch eine chemische Substanz in eine Art künstliche Winterstarre zu versetzen. Die Forschungsarbeit dient der Vorbereitung bemannter ESA-Missionen zum Mars ab 2030.

Julias Scheintod (4. Akt, 5. Szene) Jean Pierre Simon (1750-1810) fertigte diese Gravur 1792 nach einem Gemälde von John Opie (1761–1807) an.

Die kardioplegische Lösung

Eine kardioplegische Lösung ist eine Flüssigkeit, die der Arzt benutzt um bei seinem Patienten einen Herzstillstand auszulösen.

Lorenzo benutzte als kardioplegische Lösung Kräutergeist.

Kräutergeist: Eine handvoll Kräuter mit Korn oder Wodka bedeckt reift im Glas ca. vier Wochen in der Sonne. Die Kräuter müssen immer mit Flüssigkeit bedeckt sein und oben im Glas muss ca. 1/3 Luft bestehen bleiben. Nach dem Aufguss mit Kandiszucker und Alkohol kann man es direkt trinken oder zur Geschmacksabrundung 12 bis 15 Jahre warten.

Die kardioplegische Lösung enthält also pflanzliche Wirkstoffe, die in Alkohol gelöst sind.

Welche Pflanzen hätte Lorenzo für die Herstellung der kardioplegischen Lösung nutzen können?

Setzen wir das damalige Wissen der Pflanzenheilkunde voraus, kommen Weidenrinde und Eisenhut dafür in Betracht: Weidenrinde enthält Salicin, das die Körpertemperatur senkt, indem es die Produktion von Prostaglandin E2 hemmt, einem Gewebshormon, das die Zellen im Hypothalamus (der Teil des Gehirns, der die Körpertemperatur reguliert) anregt und dadurch die Körpertemperatur erhöht. Eisenhut enthält Aconitin, das die Inaktivierung des spannungsabhängigen Natriumkanals verlangsamt und dadurch den Einstrom von Natriumionen während des Aktionspotenzials verlängert. Das führt später zum diastolischen Herzstillstand. Lorenzo hatte wahrscheinlich die Idee, dass ein hoch dosiertes Gift irreversibel tötet und ein minderdosiertes Gift reversibel tötet.

Heute werden kardioplegische Lösungen vor der Anwendung oft auf 4 °C gekühlt und dann in den Herzmuskel oder in die Herzkranzgefäße (Koronarperfusion) injiziert. In Deutschland entwickelte Bretschneider 1975 eine natrium- und calciumarme Lösung, die einen reversiblen mechanischen und elektrischen Herzstillstand durch Inaktivierung des Natriumeinstroms bewirkt als biologischen Puffer verwendete er Histidin/Histidin-HCL.

Wenn Kardiologen heute am offenen Herz operieren oder ein Herz verpflanzen, verwenden sie kardioplegische Lösungen. Die Blutzufuhr erfolgt in der Zwischenzeit durch die Herz-Lungen-Maschine. Das Blut wird dabei eventuell gekühlt (hypotherme Koronarperfusion). Die verminderte Durchblutung des Herzmuskels kann bei 32 °C 40 Minuten toleriert werden. Wenn der Herzmuskel auf 15–20°C gekühlt wird, kann das Herz bei der hypothermen Koronarperfusion 120 Minuten stillstehen. Die von Lorenzo anvisierten 42 Stunden bleiben also auch im 21. Jahrhundert eine Zukunftsvision.

Bei der so genannten PHCA-Technik (Englisch Profound Hypothermia and Circulatory Arrest, “Starke Unterkühlung und Kreislaufstillstand”) wird das Herz gestoppt und der ganze Körper auf unter 18 °C abgekühlt, sodass die Lebensprozesse stark verlangsamt werden. PHCA wird manchmal eingesetzt, wenn Neurochirurgen sehr schnell Aneurysmen im Gehirn entfernen müssen. Das Abklemmen der Aneurysmen mit Clips ist die herkömmliche Methode. Dieses Clipping ist nur in einer offenen Hirnoperation möglich. Nach der Öffnung des knöchernen Schädels muss das Gehirn angehoben werden und der Clip wird durch ein Dutzend feiner Gefäße gefädelt, um das Aneurysma zu erreichen und abzuklemmen. Ein Ausrutscher reicht, um eine katastrophale Blutung auszulösen. Daher unterbricht der Arzt den Kreislauf, um Blutungen zu vermeiden, während das Aneurysma geklammert wird, und die niedrige Temperatur verhindert die Hirnschäden, die sonst durch den Sauerstoffmangel verursacht würden. Die Erfolgsquote ist recht hoch, und die Patienten überleben in der Regel ohne Gedächtnisverlust, obwohl ihr Gehirn während des Eingriffs sozusagen abgeschaltet war.

Was bedeutet der Code ICD10-GM-2015: I46.0?

ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnose­klassifikationssystem der Medizin. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. In Deutschland sind Vertragsärzte verpflichtet Diagnosen nach ICD-10 German Modification (GM) zu verschlüsseln. Verbindlich für die Verschlüsselung in Deutschland ist die vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) herausgegebene ICD-10-GM Version 2015. Kapitel IX I00-I99 des ICD-GM-2015 kodiert Krankheiten des Kreislaufsystems. I46.0 steht für Herzstillstand mit erfolgreicher Wiederbelebung.

“There is pleasure in recognizing old things from a new viewpoint.”

Richard Feynman

Weiterführende Literatur

Erster Mensch von Ärzten in künstlichen Scheintod versetzt und wiederbelebt

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Joe Dramiga ist Neurogenetiker und hat Biologie an der Universität Köln und am King’s College London studiert. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Genexpression in einem Mausmodell für die Frontotemporale Demenz. Die Frontotemporale Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns, die sowohl Ähnlichkeit mit Alzheimer als auch mit Parkinson hat. Kontakt: jdramiga [at] googlemail [dot] com

3 Kommentare

  1. Pingback:[SciLogs] Romeo und Julia: Die tragische Geschichte hinter ICD10-GM-2015: I46.0

  2. Joe Dramiga schrieb (7. November 2015):
    > Romeo und Julia: Die tragische Geschichte […]
    > […] dass die Geschichte 1596 also im Elisabethanischen Zeitalter spielt

    Man beachte allerdings, dass Luigi da Porto, als Urheber der Namen der beiden titelgebenden Gestalten, seine Novelle wohl in der Regierungszeit Bartolomeo della Scalas als Podestà (Gouverneur) von Verona (1301–1304) spielen ließ
    (siehe auch “House of Capulet/Cappelletti“, „House of Montague/Montecchi”).

    Wenn auch das Interesse von Kardiologen an gewissen Details der Geschichte davon kaum berührt sein dürfte,
    kann das (assistierte) Wikifizieren von Texten deren Verständlichkeit und Glaubwürdigkeit doch dramatisch erhöhen.

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