Die Bibliothek – Inbegriff der Schriftkultur

Die sicherlich am deutlichsten wahrnehmbare Infrastruktur, die um das Buch herum entstanden ist, ist die der Speicherung: die Bibliothek. Manche Bibliotheken wurden im 19. Jahrhundert als wahre Kathedralen der Schriftkultur errichtet. Ganz am Anfang waren Bibliotheken jedoch kaum mehr als Archive. Archive haben die Funktion, Texte zu registrieren, abzulegen und für eine bestimmte Nutzung zugänglich zu halten. Schon in der griechischen Antike wurden Schriftrollen in speziellen Räumen in Tempeln gelagert. Mit der Bibliothek von Alexandria und der ersten öffentlichen Bibliothek in Rom ab 39 nach Christus aber hatte sich die Bibliothek nicht nur als ein Archiv für Schriftrollen, sondern als Ort des Wissens im übertragenen Sinne etabliert. Dieses Wissen sollte dann geordnet und durch den Ausbau der Bibliothek systematisch erweitert werden. Im frühen Mittelalter entstanden Bibliotheken als üblicher Bestandteil eines jeden Klosters, auch wenn diese manchmal nur wenige Dutzend Bücher umfassten. Die kostbaren Manuskripte wurden in verschließbaren Schränken oder Kisten aufbewahrt, später standen sie, und das war schon ein großer Fortschritt, auf speziellen Pulten dem Leser zur Verfügung – angekettet. Mit dem Aufkommen des Buchdrucks begannen vor allem die Universitätsbibliotheken als wissenschaftliche Universalbibliotheken zu florieren, aus Prestigegründen bald aber auch fürstliche Bibliotheken. Um sie repräsentativ auszustatten, wurden kaum Kosten und Mühen gescheut, wie man es in der wunderschönen, nach dem verheerenden Brand im Jahr 2004 wiederaufgebauten Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar noch heute sehen kann. Seit dem 19. Jahrhundert entstanden vermehrt öffentliche Bibliotheken, schließlich Nationalbibliotheken mit einem gesetzlichen Sammelauftrag.

Die Nutzbarkeit von kulturellem Wissen hängt nicht unwesentlich davon ab, wie es systematisiert ist, und beim Systematisieren von Büchern in einer Bibliothek hat man ganz konkret die Frage zu beantworten, in welcher Ordnung sie im Regal stehen sollen. Geht man nach Erwerbszeitpunkt vor (wie es in manchen Bibliotheksmagazinen tatsächlich geschieht), nach der alphabetischen Einordnung anhand des Autors oder des Titels, nach Sachbereichen, nach Themen? Moderne Bibliotheken verbinden meistens mehrere Ordnungsprinzipien: nach Sachbereichen und Unterbereichen, darin nach Autoren und durch die Zuordnung von Schlagwörtern zusätzlich auch nach Themengebieten. Kataloge – zunächst in Gestalt von simplen Bücherlisten, später als Karteien, in denen jedem Buch auf einer eigenen Karte bibliothekarische Informationen zugeordnet waren – erschließen den Buchbestand, indem sie den nach Autoren alphabetisch geordneten Büchern Standorte zuweisen. Dies geschieht anhand der Signaturen, in denen die Sachgebietsordnung der Bibliothek durch Zahlen und Buchstabenkürzel kodiert ist. Bibliotheken sind dadurch von Orten der Speicherung von Büchern zu Institutionen des Ordnens und Auffindens von kulturellem Wissen geworden. Sie helfen dem Leser, der etwas Bestimmtes wissen oder lernen möchte, auf dem Weg dorthin unwichtige Lektüre zu vermeiden und sich auf das für ihn Wichtige zu beschränken. Die Verwendung von Katalogsystemen verlagerte zugleich einen Teil des bibliothekarischen Wissens vom Menschen in ein auf Karteikarten beruhendes Informationssystem mit eigener Suchlogik. Noch im 17. und 18. Jahrhundert gehörte dieses Wissen nämlich Einzelnen, die die Bibliothek in ihrer Gesamtheit überblickten und sie mit ihren Beschaffungs- und Ordnungsentscheidungen prägten. Einige der größten Gelehrten und Dichter der deutschen Geistesgeschichte waren sich deshalb nicht zu schade, als Bibliothekare zu wirken: Gottfried Wilhelm Leibniz etwa an den Hofbibliotheken in Hannover und Wolfenbüttel und Johann Wolfgang Goethe an der in Weimar.

„Sollen wir jetzt alle Informatiker werden?“, fragten zwei junge Mitarbeiter der Bibliothek der Technischen Universität Berlin vor kurzem in einem Fachartikel.[i] Und tatsächlich gehören Bibliotheken zu denjenigen Infrastruktureinrichtungen, die am allermeisten von der Digitalisierung betroffen sind. Die traditionelle Funktion von Bibliotheken, Texte an einem bestimmten Ort aufzubewahren, zu ordnen und verfügbar zu machen, stellt sich heute völlig anders dar als noch vor gerade einmal zwanzig Jahren. Die digitale Bibliothek hat es mittlerweile nicht mehr nur mit Bücher und Zeitschriften zu tun, sondern mit schriftlichen Hervorbringungen aller Art, mit Digitalisaten historischer Dokumente, Datenbanken, einzelnen digitalen Aufsätze und Artikeln, Webseiten und Forschungsdaten. In der Bibliothek werden diese mit beschreibenden Zusatzdaten, den sogenannten Metadaten, versehen, so dass die Texte gleichzeitig nach unterschiedlichen Gesichtspunkten geordnet und aufgefunden werden können. Bibliotheken stellen ihren Benutzer diese Datenschätze nicht mehr in einem Gebäude zur Verfügung, sondern im Internet. Zwar besitzen die meisten Bibliotheken immer noch einen realen Ort, bilden aber durch Zusammenschluss im Netz auch virtuelle Bibliotheksverbünde, die auf ihren Webseiten wie große Einzelbibliotheken in Erscheinung treten.

Wie es scheint, sollten Bibliothekare zwar nicht zu Informatikern werden, aber zu Spezialisten für digitale Informationen. Die kulturellen Tendenzen der Hybridität, der Multimedialität und der Sozialität prägen Bibliotheken schon heute, weshalb sie sich auch in ihrer Organisationsstruktur wandeln. Mit der Digitalisierung historischer Werke und der Bereitstellung von Infrastrukturen für Forschungsdaten gehen sie engere Verbindungen zu einzelnen Fachdisziplinen ein als je zuvor. Bei der Entwicklung der inhaltlichen Zusammenführung von Informationen werden sie zu eigenständigen Forschungsinstitutionen. In einer Zeit, in der die Verfügbarkeit von Daten eine immer größere Rolle in der Wissenschaft spielt, wandeln sie sich von bloßen Dienstleistern zu eigenständigen Akteuren im Forschungsprozess.

 

[i] Vgl. Becker, Pascal-Nicolas & Fabian M. Fürste (2013). Sollen wir Bibliothekare jetzt alle Informatiker werden? Forschungsdatenmanagement, Datenerhaltung und -pflege als neue Aufgabenfelder. BuB – Forum Bibliothek und Information 65: 512–514.

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Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte von DAAD und Goethe-Institut und des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

6 Kommentare

  1. Früher waren Bibliothken Kathedralen des Wissens, inzwischen wurden sie als neuer Aufenthaltsort entdeckt, wo immer mehr Leute sich aufhalten um in Stille zu lesen oder andere Dinge zu tun.
    Einige der neuen, spekakulären Bibliotheken haben ihr Angebot auch stark erweitert:

    In gewisser Weise sind die neuen Bibliotheken elegante Fortführung der multifunktionalen Stadthallen der 70er Jahre. Hier finden Ausstellungen und Veranstaltungen, Lesungen und Konferenzen statt, Theateraufführungen und Konzerte. Man kann als Verein Räume mieten, an Seminaren teilnehmen, ja, in Stuttgart kann man sogar heiraten. Selbst Brautpaare, die sich nicht hier trauen lassen, kommen fürs offizielle Foto gern in den offenen Galeriesaal, stellen sich auf eine der Treppen, die wie Bühnen wirken. Jeder Besucher, der die Stufen hoch- oder runterläuft, wird zum Schauspieler. Die AOK hat hier schon einen Werbefilm fürs gesunde Treppensteigen gedreht, Modefirmen reißen sich um Shootings. Die Popularität führt zum permanenten Balanceakt: Die Bibliothek legt Wert darauf, immer noch in erster Linie Bibliothek zu sein und keine Location.

    • @ Herr Holzherr :

      Die Bibliothek legt Wert darauf, immer noch in erster Linie Bibliothek zu sein und keine Location.

      Klingt jetzt ganz so, als ob Datenhaltungen in sachlicher oder “realistischer” Form ganz schön zu nagen haben, bspw. um keine ‘Location’ (für irgendetwas Zweckfremdes) zu werden.

      MFG
      Dr. W (der Ihre Nachricht als wohlgeformten Zynismus ablegt)

  2. Der letzte Satz des WebLog-Artikels könnte vielleicht noch erklärt werden:

    In einer Zeit, in der die Verfügbarkeit von Daten eine immer größere Rolle in der Wissenschaft spielt, wandeln sie sich von bloßen Dienstleistern zu eigenständigen Akteuren im Forschungsprozess.

    Bibliothekare oder “Bibliothekare” sozusagen auf die heutige Datenlage bezogen, waren Dienstleister, die Metadaten und besondere Daten- oder Fachkenntnis vorweisen konnten, inwiefern werden die jetzt ‘eigenständige Akteure’ den Wissenschaftsbetrieb betreffend?

    MFG
    Dr. W

    • In Projektverbünden wie DARIAH-DE (um nur ein Beispiel zu nennen), in dem es um Infrastrukturen für geisteswissenschaftliche Forschung geht, sind Bibliotheken heute wie selbstverständlich Partner von Forschungsinstituten und Universitäten. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass schon die Aufarbeitung und Bereitstellung von Forschungsdaten einen ersten Schritt der Forschung selbst darstellt. In Zeiten von Big Data, in denen selbst die Geisteswissenschaften immer datenorientierter arbeiten, lässt sich deshalb die Grenze zwischen dem “Forschungsdienstleister” Bibliothek und der Forschungsinstitution immer weniger klar ziehen. Besonders deutlich ist dies bei den aus Fachbilbliotheken hervorgegangenen Datenzentren in Max-Planck-Instituten wie dem für Psycholinguistik.

      • Dahinter steckt die Erkenntnis, dass schon die Aufarbeitung und Bereitstellung von Forschungsdaten einen ersten Schritt der Forschung selbst darstellt. In Zeiten von Big Data, in denen selbst die Geisteswissenschaften immer datenorientierter arbeiten, lässt sich deshalb die Grenze zwischen dem “Forschungsdienstleister” Bibliothek und der Forschungsinstitution immer weniger klar ziehen.

        Ischt ein schwieriger Punkt, in den G-Wissenschaften geht bekanntlich mehr, als sich Einzelne je vorstellen konnten, aber es ist schon so, dass die Datenhaltung als Dienstleistung zu verstehen ist, die Entscheider, oft Fachkräfte der Wirtschaft, annehmen, wobei sich diese dann beraten lassen, die Instrumente betreffend. [1]

        MFG
        Dr. W (der natürlich nichts dagegen hat, wenn Neues emergiert, im G-Wissenschaftlichen)

        [1] übliche Instrumente werden wie folgt beschrieben:
        -> http://de.wikipedia.org/wiki/Entscheidungsunterst%C3%BCtzungssystem (OLAP war mal ein besonders Thema oder allgemein das sog. Cubing allgemein)

        PS: ‘Projektverbunden’ oder ‘Projektverbünde’ und ‘Fachbibliotheken’.

  3. Wenn man historisches Schriftgut und dergleichen digitalisiert, muss man es irgendwie vernünftig verschlagworten, damit die Sucher es finden. dazu muss man die Objekte (Bücher, Drucke, Pläne etc.) aber hinreichend gut kennen, dass setzt entsprechendes Wissen voraus.
    Je breiter die Typen an Objekten, umso schwieriger ist die Verschlagwortung, denn die Welt lässt sich nur ungern in Schubladen packen. Oder das Suchen wird schwierig. Das Digitalisierungszentrum München / Digitale Bibliothek rät zum Beispiel, nur mit dem Nachnamen zu suchen, was bei Müllers und Meiers problematisch wird, aber ebenso, wenn es um den hl. Franziskus geht.
    Die Sache ist also doch ziemlich anspruchsvoller als früher. Ich weiß nicht, ob man da immer so deutlich zwischen Dienstleistung und Wissenschaft abgrenzen kann, schließlich gibt es ja inzwischen auch das Buch- und Bibliothekswesen als Gegenstand der historischen Forschung.

    Nachtragen kann man noch die prachtvoll ausgestatteten Klosterbibliotheken des 17. und 18. Jahrhunderts vor allem im süddeutschen-österreichischen Raum und die vielleicht prächtigste aller fürstlichen Hofbibliotheken, nämlich jene von Fischer von Erlach erbaute in Wien, ein Besuch lohnt sich, auch wenn man nicht schmökern darf:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Prunksaal_der_%C3%96sterreichischen_Nationalbibliothek

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