Im Kielwasser der Rhetorik: Logik und Grammatik

Im Kielwasser des antiken Bildungsflagschiffs Rhetorik segelten zwei kleinere Boote als unterstützende Versorgungseinheiten. Die Logik, zunächst “Dialektik” genannt, und die Grammatik hatten diese Position nach und nach erobert, und zumindest für die Dialektik hatte dabei Aristoteles eine besondere Rolle gespielt. Der bedeutendste antike Philosoph vertrat eine nicht ganz so „idealistische“ Auffassung von der Rhetorik wie Platon, sondern sah sie als die Lehre des Wahrscheinlichen und der Meinungsbildung an.[i] Die Methoden zum Auffinden der Wahrheit hingegen, insbesondere zur korrekten Ziehung von Schlussfolgerungen, hält nach Aristoteles die Dialektik bereit. „Der ideale Redner des Aristoteles ist ein Dialektiker, der weiß, wie ein logischer Schluss zu ziehen ist“[ii], fassen Ueding und Steinbrink diese Position zusammen. Das hat etwas sehr Menschliches: Erkenntnisse vermitteln sich nicht einfach von selbst, weil sie wahr sind und deshalb automatisch verstanden und akzeptiert werden. Vielmehr bedürfen sie einer rhetorisch geschickten Vermittlung, um ihre Wahrheit auch als wahrscheinlich erscheinen zu lassen.

Der Begriff „Dialektik“ war schon zuvor von Platon verwendet worden. Zunächst bezeichnet dieser damit nur die argumentative Dynamik eines Gesprächs mit ihrer Einsichten und Erkenntnisse zutage fördernden Funktion. Diese demonstriert er eindrucksvoll in seinen Schriften, die ja alle in der Form von Gesprächen eines literarischen Sokrates‘ mit verschiedenen Partnern gestaltet sind.[iii] Später verwendete er den Begriff, in einer abstrakteren Verwendungsweise, für grundlegende Argumentationstypen, die dabei beobachtet werden können, die sogenannten Syllogismen, und versuchte diese zu systematisieren. Für Aristoteles war die Dialektik längst die Wissenschaft vom korrekten, Trug- und Fehlschlüsse vermeidenden Denken geworden. Als solche spielte sie noch in der Antike, später im Mittelalter eine überaus wichtige Rolle, um in der Neuzeit unter der Bezeichnung „Logik“ die Grundlage für Philosophie, Mathematik und Informatik zu bilden. Den Zweck, Argumentationsmuster in Gesprächen, Reden oder Texten aufdecken und lehren zu wollen, hatte sie da längst verloren.

Die zweite „Unterstützungseinheit“ der Rhetorik war die Grammatik. Zwar hatte sich auch Aristoteles wie zuvor schon andere griechische Philosophen Gedanken über eine Einteilung der Wörter in Klassen gemacht, über den Satz oder das Verhältnis von Schrift und Sprechen. Sie hatten also über die Verwendung der Sprache nachgedacht, über die Sprache selbst aber nicht.[iv] Das änderte sich auch nicht aufgrund der praktischen Erfordernis der Rhetorik, eine Rede sprachlich fehlerfrei halten zu können. Die antike Grammatik hatte also den Zweck, dem Redner die Verwendung des richtigen Griechisch oder Latein zu ermöglichen.[v] Diese Aufgabe der Grammatik, bezogen auf die lateinische Sprache „Latinitas“ genannt, wurde bei dem großen Systematiker der Rhetorik, dem Römer Quintilian, gleich komplett in das rhetorische System integriert. Das System Quintilians mit seinen Hunderten von Begriffen und der hochkomplex konstruierten Architektur ihres Zusammenhangs bildet über das Mittelalter bis in die Neuzeit hinein den Referenzpunkt dessen, was man als „klassische Rhetorik“ bezeichnet.

Quintilian stand bezüglich der Grammatikschreibung in einer langen Tradition, die mit Dionysios Thrax bereits zwei Jahrhunderte zuvor in Griechenland einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, in Rom vor Christi Geburt durch Varro aufgegriffen worden war und in Gestalt des monumentalen grammatischen Werks von Priscian um 500 nach Christus ihren Weg ins Mittelalter finden sollte.[vi] All dieses grammatische Wissen, das schon in der Antike angesammelt worden war, hatte vor allem einen Zweck: den des Fremdsprachenlehrens und -lernens. Priscians Grammatik etwa vermittelte den Eliten im griechischsprachigen Konstantinopel, der Hautstadt des oströmischen Reichs, nach dem Untergang des weströmischen Landesteils das Lateinische, weil nun Ostrom allein das gesamte Römische Reich auch sprachlich zu vertreten hatte.[vii]

Der „normativ“ genannte Grammatikunterricht vermittelte Regeln, die beim Reden und Schreiben einzuhalten waren.[viii] Normativ war dieser Unterricht aber auch mit der Orientierung an großen literarischen Vorbildern. Mit den Regeln wurde also nicht nur die Seite der sprachlichen Produktion in ein normatives Korsett gezwängt, auch auf der Seite der Rezeption gab es mit den Werken dieses Literaturkanons eine normative Vorgabe. Durch diese im Laufe der Antike und dann stärker noch im Mittelalter immer größere Orientierung an überlieferten Texten verwandelte sich die Rhetorik, und mit ihr auch Grammatik und Dialektik, in eine schriftsprachliche, ja theoretische Disziplin. Da, wo das öffentliche Reden tatsächlich noch eine Rolle spielte, wurden Redetexte vorgetragen, die nach allen Regeln der rhetorischen Kunst in schriftsprachlichem Stil verfasst waren und danach auswendig gelernt wurden.[ix]

 

Anmerkungen:

[i] Vgl. dazu und zum Folgenden Ueding, Gert; Steinbrink, Bernd (1994): Grundriß der Rhetorik : Geschichte, Technik, Methode. 3., überarb. und erw. Stuttgart u.a.: Metzler, 21–26.

[ii] Ueding/Steinbrink 1994, 23.

[iii] Vgl. Geiger, Rolf (2002): dialegesthai. In: Christoph Horn und Christof Rapp (Hg.): Wörterbuch der antiken Philosophie. München: Beck (Beck’sche Reihe, 1483), 103.

[iv] Vgl. Arens, Hans (2000): Sprache und Denken bei Aristoteles. In: Sylvain Auroux und Herbert Ernst Wiegand (Hg.): History of the language sciences / Geschichte der Sprachwissenschaften. An international handbook on the evolution of the study of language from the beginnings to the present. Berlin, New York: de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 18), 367–375.

[v] Vgl. Dammer, Raphael (2006): Sprache im Korsett: Die antike Grammatik. In: Reinhold Glei (Hg.): Die Sieben Freien Künste in Antike und Gegenwart. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium, 72), 173–193.

[vi] Vgl. Robins, Robert Henry (1990): A short history of linguistics. 3. Aufl. London, New York: Longman.

[vii] Robins 1990, 65.

[viii] Verschiedene Beispiele, wie dies praktisch aussah, sind in Dammer (2006) enthalten.

[ix] Robert Harris zeigt mit literarischen Mitteln in seinen drei Cicero-Romanen „Imperium“, „Titan“ und „Dictator“ an vielen Stellen sehr eingängig, wie die rhetorische Praxis im antiken Rom der späten Republik ausgesehen haben könnte.

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Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

5 Kommentare

  1. Ist dies hier richtig verstanden worden, dass die Grammatik, eine besondere Richtigkeit des Schreibens und der Rede meinend, einem bestimmten Regelwerk folgend, den Redner, in praxi ging es seinerzeit zuvörderst um Redner, schützen und meiden soll Angriffsflächen zu bieten, die über die Behandlung von (behaupteter) Sache und (behaupteten) Verhalt hinaus gehen?
    Die Dialektik dann den Inhalt, die Richtigkeit von Aussage und deren “Wahrheit” meint?
    Wobei dann die Schriftlichkeit eine unterstützende Rolle spielte, um Reden sozusagen abspulen zu können?

    MFG + weiterhin viel Erfolg!
    Dr. Webbaer (der sich neulich mit der Rhetorik von Donald J. Trump ein wenig beschäftigt hat, die von Wiederholungen lebt, die wichtige Wörter an das Ende von Sätzen, nun, setzt, und die vglw. “ungrammatisch” ist)

    • Ja, die Grammatik als Teil der Rhetorik hat einen instrumentellen, funktionalen Charakter, und man kann durchaus sagen, dass es auch darum ging, Angriffsflächen zu vermeiden. Und ja, auch die Logik/Dialektik war in diesem Zusammenhang instrumentell geprägt und sollte die Überzeugungsfähigkeit der Argumentation unterstützen, indem als zwingend anzusehende Aussagenabfolgen gelehrt wurden. Die Verbindung mit “Wahrheit” kam aber erst später, als die Rhetorik insgesamt in den Dienst der Wahrheitsfindung gestellt wurde.

  2. Luthers Universitätsstudium begann mit den “freien Künsten”: Grammatik, Rhetorik, Mathematik/Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie, was dazumal nach dem Bakkalaureus zum “Magister artium” führte und die Voraussetzung für ein höheres Studium beispielsweise in Juristerei, Medizin oder Theologie war.

    Die Gymnasien übernahmen später diese Grundausbildung, scheinen aber irgendwann zu Lehrplänen übergegangen zu sein, wo es keine eigentlichen Grammatik-/Rhetorik und Logikfächer mehr gab. Es gibt eine einzige Ausnahme was den Fächerkanon der sieben Künste betrifft: Euklids Elemente, die eine axiomatische Darstellung der Geometrie war, die die Griechen kannten, war bis ins 20. Jahrhundert als Lehrbuch an den Gymnasien vertreten und nach der Bibel das meistverbreitete Werk in Europa und den Kolonien. Das verwundert mich etwas, denn ich bin überzeugt davon, dass lange nicht alle, die Euklids Elemente besassen, dieses Werk wirklich verstanden, während Grammatik, Rhetorik und Syllogismen (Logik) weit weniger grosse Anforderungen stellen, aber irgendwann in den Hintergrund gerieten.

    • Vielen Dank für den Hinweis. In meinem nächsten Posting werde ich mich auch mit dem Trivium (Rhetorik, Grammatik und Dialektik/Logik) im Mittelalter befassen. Zusammen mit dem Quadrivium (Geometrie, Astronomie (= angewandte Geometrie), Algebra und Musik (= angewandte Algebra)) handelt es sich um die Keimzeile unserer heutigen Wissenschaften. Nur Medizin, Rechtswissenschaft und Theologie waren eigenen Fakultäten überantwortet. Humboldt hat diese Struktur in den Fächerkanon des Gymnasiums überführt, nachdem diese zuvor vor allem als Lateinschulen auf das Studium in der philosophischen Fakultät vorbereiten sollte. Ich denke, dass man noch heute den Nachhall dieses zunächst antiken, dann mittelalterlichen Fächerkanons im Spektrum der Schulfächer wahrnehmen kann.

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