Wie eine schlecht programmierte Web-Seite im Jahr 2008 eine Fluggesellschaft fast in die Pleite stürzte

Die Firma Narrative Science bietet eine Software an, die aus Zahlen Berichte erstellt. Informationen zur Entwicklung von Wertpapieren, Quartalsmitteilungen von börsennotierten Unternehmen oder aktuelle Wirtschaftsnachrichten, wie sie an vielen Stellen im Internet zu finden sind, werden dabei vollautomatisch ausgewertet und in eine „Erzählung“ überführt. Als Erzählung können die meisten Menschen nämlich Trends und Entwicklungen besser erfassen als in Gestalt von Tabellen. Narrative Science betreibt auf den Web-Seiten des Wirtschaftsmagazins Forbes einen Blog, in dem derartige Berichte veröffentlicht werden.[i] Forbes.com gehört zu den Seiten im Web, die der automatische Nachrichtendienst Google News auswertet. Dieser Dienst erfasst aktuelle Meldungen und Artikel, die in Nachrichtenportalen veröffentlicht werden. Google verfährt dabei ähnlich wie bei seiner allgemeinen Suchfunktion: Das Programm sucht kontinuierlich nach neuen Meldungen, kategorisiert sie und stellt sie dann thematisch geordnet auf einer Ergebnisseite in einheitlichem Layout zusammen. Alle paar Minuten wird die Seite aktualisiert. Auch ein automatisch erstellter Narrative Science-Bericht erscheint dort, wenn Googles Algorithmen ihn als relevant eingestuft haben.

Solche Nachrichtenseiten werden intensiv genutzt – zum Beispiel von Menschen, die von aktuellen Ereignissen beeinflusste Entscheidungen zu treffen haben – Fonds-Manager oder Wertpapier-Analysten zum Beispiel. Sie interessieren sich für die Entwicklung einzelner Firmen, aber auch ganzer Branchen, und um gute Voraussagen zu Chancen und Risiken von Investitionsentscheidungen treffen zu können, sind aktuelle Informationen dabei die wichtigste Ressource. Investitionsentscheidungen werden aber auch von Computern getroffen. In sogenannten „quantitativen Fonds“ oder kurz „Quant-Fonds“ übernehmen Algorithmen die Bewertung von Wertpapieren.[ii] Sie werten Kursentwicklungen und sonstige Kennzahlen dieser Papiere aus und nutzen auch die Möglichkeit der Trendanalyse. Bei der Trendanalyse werden Daten aus ganz unterschiedlichen Quellen herangezogen, beispielsweise von Nachrichtenseiten, um mit mathematischen Mitteln Voraussagen über zukünftige Entwicklungen treffen zu können.

Nachrichten, die in Google News erscheinen, können sich also auf Kaufentscheidungen auswirken, die von Computern in Quant-Fonds vollautomatisch getroffen werden. Entsprechend ändert sich der Kurs der gekauften oder verkauften Wertpapiere. Diese Kursentwicklungen werden wiederum an der Börse erfasst und für die weitere Nutzung in tabellarischer Form auf Web-Seiten zusammengestellt. Damit ist der Kreislauf geschlossen: Die automatische Textgenerierung greift auf diese neuen Börsendaten zu und erstellt Berichte, die auf automatisch zusammengestellten Nachrichtenseiten erscheinen, die wiederum von Analyse-Software ausgewertet werden, um automatisch Kaufentscheidungen in Quant-Fonds zu treffen. Manche Texte, die in diesem Kreislauf vorkommen, werden somit ausschließlich von Computern geschrieben und gelesen. Lesende Menschen werden in diesem digitalen Wertpapierhandel nicht mehr benötigt, rechnende Menschen sowieso nicht.

Ein extremes Beispiel, meinen Sie? Ich gebe zu, viele der Informationen, die in diesem Kreislauf eine Rolle spielen, werden immer noch von Menschen bereitgestellt oder zumindest kontrolliert. Trotzdem haben wir heute eine Situation, in der der gesamte Prozess von Computern durchgeführt werden kann. Nach einem Kulturverständnis, das auch wirtschaftlichen Handlungen umfasst, haben wir es hier mit vollautomatisch ablaufenden kulturellen Vorgängen zu tun. Und dass diese in unser Leben eingreifen, ist klar ersichtlich: Schließlich geht es um Geld. Dabei können natürlich auch Fehler passieren, wie die Aktionäre der amerikanischen Fluglinie United Airlines im Jahre 2008 schmerzlich erfahren mussten. In Google News wurde im September jenes Jahres nämlich ein Artikel erfasst, in dem fälschlicherweise der Konkurs dieser Fluglinie gemeldet wurde.[iii] United Airlines war im Jahr 2002 zwar tatsächlich zahlungsunfähig geworden, hatte sich seitdem aber längst erholt und schrieb wieder schwarze Zahlen. Der nicht mit Datum gekennzeichnete sechs Jahre alte Artikel war für nur wenige Minuten auf der zur Chicago Tribune gehörenden Nachrichtenseite Sun-Sentinel.com erschienen. Ein unbekannter Besucher dieser Seite hatte sich mitten in der Nacht für den Artikel interessiert und ihn sich aus dem Online-Archiv heraus anzeigen lassen, so dass er in Ermangelung von Klicks auf aktuellere Artikel zu jener nachtschlafenden Zeit auf der Startseite automatisch unter „Am meisten gelesen“ aufgeführt wurde. Der kurze Zeitraum, für den die veraltete Meldung an so prominenter Stelle zu sehen war, reichte jedoch aus, um von Google News indiziert zu werden. Und obwohl die Meldung bei Google News nicht einmal auf den Hauptseiten aufgeführt war, wurde sie am nächsten Morgen von einer Wirtschaftsagentur bei der – natürlich ebenfalls automatisierten – Suche nach aktuellen Insolvenzfällen aufgefunden und an den Nachrichtendienst Bloomberg weitergeleitet. Dort nun platzierte man die Schlagzeile „United Airlines beantragt Insolvenz“ auf der Startseite, was an der Börse ein Erdbeben auslöste. Innerhalb von kaum fünf Minuten sank der Kurs des Unternehmens an jenem 8. September von zehn auf unter vier Dollar, der Börsenwert der Fluggesellschaft insgesamt reduzierte sich um mehr als eine Milliarde. Nachdem der Handel mit der Aktie ausgesetzt und der Irrtum mit der Meldung erkannt war, erholte sich der Kurs wieder, erreicht aber lange nicht wieder sein ursprüngliches Niveau.

 

Anmerkungen:

[i] http://www.forbes.com/sites/narrativescience/.

[ii] Vgl. dazu z.B. Kuls, Norbert (2012). Die Maschinen beginnen zu handeln. Frankfurter Allgemeine Zeitung 2012 (Nr. 138): 42.

[iii] Vgl. den Artikel in der New York Times vom 14. September 2008, http://www.nytimes.com/2008/09/15/technology/15google.html.

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Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

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