Stille Mutationen und die Zelle als verrückter Erfinder

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Wir haben uns daran gewöhnt, in der Biologie in elektronischen Analogien zu denken – das Gehirn als biologischer Computer, dazu der genetische Code und sein Compiler, das Ribosom. Aber das Bild ist schief. In biologischen Systemen gibt es keine kausale Logik und keine exakt definierten Funktionen. Sie ähneln eher den kuriosen mechanischen Konstruktionen aus den Cracking Contraptions von Wallace and Gromit: Ein Gewirr aus Hebeln, Federn, Zahnrädern und seltsam geformte Bauteilen, bei denen man nie hundertprozentig weiß, was sie tatsächlich machen.[1]

ResearchBlogging.orgEin schönes Beispiel dafür sind "stille" Mutationen und ihre gelegentlich überraschenden Auswirkungen, die Kimchi-Sarfaty et al. 2007 in Science publiziert haben. Im genetischen Code stehen mehrere verschiedene Basentripletts für die gleiche Aminosäure im codierten Protein. Zum Beispiel steht die Basensequenz AAA – drei mal die Base Adenin – genauso für die Aminosäure Lysin wie die Sequenz AAG, in der die letzte Base durch Guanin ersetzt wurde. So lange es nur um die reine Information geht, macht es keinen Unterschied, ob im Gen nun AAA oder AAG steht.

Aber so funktioniert die Zelle eben nicht. Der Mechanismus, der Gene in Proteine übersetzt, hat ein Eigenleben und beeinflusst seinerseits das Ergebnis. Der Trick ist in diesem Fall, dass nicht alle synonymen Codons gleich geschaffen sind. Einige der Dreierkombinationen kommen im genetischen Code häufig vor, andere nur selten, und das gilt auch für die jeweils spezifische tRNA, die das Ende der Peptidkette um eine Aminosäure verlängert. Bei seltenen Codons ist die Menge an zugehöriger tRNA relativ gering, und das hat automatisch auch Auswirkungen auf die Übersetzung der Basensequenz in die Aminosäurefolge des fertigen Proteins.

Die Zelle: Ein verrückter Erfinder

Dass dieser Konzentrationseffekt tatsächlich für das fertige Protein einen Unterschied macht, zeigt das Beispiel des Transportproteins P-gp, das unter anderem Chemotherapeutika aus Krebszellen heraustransportiert und das Forscher deswegen gründlich untersucht haben. In der Sequenz des zugehörigen Gen MDR1 (Multi Drug Resistance 1) haben Genetiker mehr als fünfzig Punktmutationen entdeckt, bei denen in einigen Genvarianten einzelne Nucleotide gegen andere ausgetauscht sind. Eine dieser Mutationen, C3435T (der erste Buchstabe bezeichnet die "normale" Base, die Zahl ihre Position im Gen und der zweite Buchstabe die Base, die sie in der Mutation ersetzt), sollte eigentlich stumm sein. Ist sie aber nicht. Man weiß nämlich, dass diese eigentlich irrelevante Mutation die Aktivität des Proteins verändert und, falls es das einzige vorhandene Allel ist, seine Funktion verschlechtert.

C3435T wandelt ein häufiges Codon in ein seltenes um. Sobald nun dieses Protein stark exprimiert wird, leert sich der eh schon begrenzte Pool an passender tRNA, und es dauert mit jedem neuen Protein länger und länger, bis die Translation weiter geht. In der Wartezeit baumelt das bereits synthetisierten Ende des Proteins im Zellplasma herum.

Die Peptidkette beginnt schon während ihrer Entstehung, sich in ihre endgültige Form zu falten. Durch die Verzögerung durch das seltene Codon faltet sich das baumelnde Ende fertig, bevor der Rest der Kette aus dem Ribosom hervorkommt und an dieser Faltung teilnehmen kann. Es macht einen Unterschied für die endgültige Struktur des gesamten Proteins, wie viel von der Aminosäurekette dabei mitmacht: Das mutierte Protein bekommt dadurch eine andere räumliche Gestalt und – das beweisen Versuche mit den entsprechenden Zellen – kann seiner Funktion weniger gut nachkommen.

Die Ursache für diese Veränderung ist im besten Sinne rein mechanisch: Da ein Teil fehlt, bleibt die Maschinerie stecken, während am Ende des Proteins schon weiter gearbeitet wird – wie bei einem Auto, dem schon die Karosserie aufgeschweißt wird, während alle noch auf die Lieferung der Hinterachse warten. Dass es tatsächlich die Proteinfaltung ist, die hier den Unterschied macht, lässt sich zum Beispiel durch spezielle Antikörper nachweisen, die empfindlich auf Veränderungen der Form reagieren.

Im Falle des P-gp ist die Verzögerung während der Proteinsynthese, ein Fehler, der letztendlich die Leistung des Transporters verschlechtert. Das muss aber nicht immer der Fall sein: Der gleiche Effekt reguliert die Funktion unterschiedlicher Varianten des Strukturproteins Aktin. Derartige Mechanismen werden wir in Zukunft noch häufiger sehen. Bei molekularen Maschinen kann eben – und darin zeigt sich die Überlegenheit des Lebens gegenüber allen konstruierten Apparaten – auch der Sand im Getriebe ein entscheidendes Bauteil sein.

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[1] Genau wie ein echter Garagentüftler bastelt die Zelle neue Systeme grundsätzlich aus alten Teilen zusammen, die eigentlich ganz andere Funktionen haben, aber sich frür die gerade anstehende Konstruktion zweckentfremden lassen.

Kimchi-Sarfaty, C., Oh, J., Kim, I., Sauna, Z., Calcagno, A., Ambudkar, S., & Gottesman, M. (2007). A “Silent” Polymorphism in the MDR1 Gene Changes Substrate Specificity Science, 315 (5811), 525-528 DOI: 10.1126/science.1135308

12 Kommentare

  1. Schön aufgearbeitet, danke!…und ein weiterer Beweis, dass das Wissen über solcher Polymorphismen (SNPs, die ja nichts anderes als Mutationen sind) in der Medizin sinnvoll angewendet werden kann, worauf die personalisierte Medizin ja abzielt!

  2. Schick!

    Die Zelle als Frickelbude, der Orgamnismus als Klapperkonstruktion, die ganze Welt als zusammengepfuschter Bretterverschlag voller altem Gerümpel – diese Perspektive gefällt mir.

    Der Demiurg wirkt also auch im Zellinnern. Ich dank’ Dir für die Einsicht, die Du mir gabst!

  3. Das Video

    ist nur auf YouTube selbst verfügbar. Guckt es euch trotzdem an.

    @Helmut:
    Ich muss dir wahrscheinlich gar nicht erzählen, wie zusammengeramscht erst ein kompletter Körper ist…

  4. Eine Bewutseinserweiterung

    Die habe ich soeben erfahren. Vor einer Stunde dachte ich noch, daß stille Mutationen keine Auswirkungen auf das kodierte Protein haben. An eine unterschiedliche Verfügbarkeit von tRNAs hatte ich nie gedacht. Mein Dank dem Dealer.

  5. Neues zur “Chaosgenetik”:

    Eine kürzliche Meldung der New Scientist zu interessanten neuen Hypothesen: “We already know there is a genetic lottery – every fertilised human egg contains hundreds of new mutations. Most of these have no effect whatsoever, but a few can be beneficial or harmful. If Feinberg is
    right, there is also an epigenetic lottery: … Rather than being another way to code for specific characteristics, as biologists like Jablonka believe, Feinberg’s “new way of looking at evolution” sees epigenetic marks as introducing a degree of randomness into patterns of gene expression. In fluctuating environments, he suggests, lineages able to generate offspring with variable patterns of gene expression are most likely to last the evolutionary course. There is evidence that epigenetic changes, as opposed to genetic mutations or environmental factors, are responsible for a lot of variation in the characteristics of organisms. … And a study last year found substantial epigenetic differences between genetically identical human twins. On the basis of their findings, the researchers speculated that random epigenetic variations are actually “much more important” than environmental factors when it comes to explaining the differences between twins.” (link 1, link 2)

  6. Ordnung in das Chaos

    Die hohe Spezifität und die hohen Bindungskonstanten zwischen Enzymen und Substraten oder zwischen Antikörpern und Antigenen bringen wieder Ordnung in das Chaos.

    Nur Zellen, die schnell und genau das Richtige tun, können überleben.

    Zitat der Borg-Königin:
    “Ich bringe Ordnung in das Chaos.”
    (Star Trek VIII – Der erste Kontakt.)

  7. Aus dem Leben gegriffen

    Ich kannte bisher nur das Paper, das zeigte das stille Mutationen in E.coli die Genexpression bzw. Translation beeinflussen. Aber dort hatten sie künstlich eine Serie von Mutationen eingeführt. Aber das hier ist bei einem Eukaryont und eine natürlich vorkommende Mutation.

  8. Gilt nicht für Säuger!

    Hallo,

    ansich ja eine nette Zusammenfassung, jedoch muss man differenzieren. Die unterschiedliche Verteilung von tRNA für synonyme Tripletts wurde bei E.Coli festgestellt. Dort hat es Auswirkungen auf die Genexpression, und zwar auf die Geschwindigkeit und Genauigkeit. Bei Würmern, Fliegen und Pflanzen zB wurde ein ähnliches Phänomen festgestellt.
    Säuger hingegen haben zwar auch eine bevorzugte Verwendung verschiendener Codons, was aber an der unterschiedlichen Verteilung von GC und AT-reichen Regionen herrührt. Im Gegensatz zu erstgenannten Organismen, die solch synonyme Tripletts zur Optimierung der Proteinbiosynthese verwenden, konnte dieser Zweck bei Säugern nicht aus dem Verteilungsmuster geschlossen werden!
    Das Problem liegt woanders, hat aber im Endeffekt die gleichen /ähnliche Auswirkungen: die Exons enthalten an deren Enden ESE-Motive (Spleißverstärker). Hier stehen synonyme Codons für unterschiedlich stark verstärkende Spleißsignale. Findet also eine synonyme Mutation statt, kann es passieren, dass eben diese Exon-Intronübergänge nichtmehr von der Spleißmaschinerie erkannt werden und somit für die Translation wichtige Exons herausgeschnitten werden. Kommt zB bei CFTR vor und kann so Mukoviszidose auslösen.
    Ein zweiter Punkt ist die mRNA-Faltung: erfolgt das SPleißen trotz synoymer Mutation richtig, entsteht auf Grund der falschen Base und somit veränderten intramolekularen Kräften eine für die jeweilige mRNA untypische Faltung. Die Folge kann einmal sein, dass die mRNA zu schnell oder zu langsam abgebaut wird, zudem bestimmt die Faltung der mRNA ihre Fähigkeit, sich am Ribosom zu entfalten und translatiert zu werden. Entstand beim splicen eine dicht geknäulte mRNA, hemmt dies dei Genexpression!

    Es kommt also zu einer falschen Ausführung des Genprodukts, jedoch hat die tRNA bei Säugern nicht den im Artikel angesprochenen Stellenwert!

  9. Im Grunde ja-> konkret dann der im Artikel angesprochene “Trick der Zelle” und dem nachfolgenden Beispiel (mdr1-Gen). Nach dem Artikel läuft die Translation schief, weil durch ein synonymes Triplett nun eine tRNA für die AS kodiert, die in geringerer Konzentration vorliegt. Bei Bakterien ist das wie gesagt auch so. Bei Säugern hingegen liegt es daran, dass der Basenaustausch zu einer sich dichteren/kompakteren mRNA faltet und die Entfaltung dort zu lange dauert. Das entstehende Polypeptid faltet sich in gewohnter Geschwindigkeit, da aber erstmal nichts nachkommt, beginnt es sich zu verknäulen, bevor die AS-Sequenz vollständig translatiert wurde. Ergo: un-bzw. schlecht wirkendes Protein.

  10. Hallo Samuel,

    danke für deinen völlig richtigen Einwand. Eigentlich geht es mir bei dem Artikel darum, dass auch unterschiedliche Translationsgeschwindigkeiten die Funktion des Genprodukts verändern können. Ursprünglich wollte ich beide in den Papers beschriebene Mechanismen gegenüberstellen, habe mich aber aus erzählerischen Gründen dagegen entschieden. Dadurch ist das jetzt leider etwas missverständlich.

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