Intelligenz kann sich verändern – aber wissen wir das nicht längst?

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die Psychologie irrationalen Denkens
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Intelligenz ist offenbar immer ein interessantes Thema. „IQ kann sich in der Pubertät noch ändern“, titelte die Süddeutsche Zeitung. Auch Focus Online wusste zu berichten: „IQ kann sich während der Teenie-Zeit ändern“. Erstaunlich ist die Häufung der Berichte in den letzten Tagen: Google News listete am 21.10.2011 unter dem Stichwort IQ mehr als 120 Berichte auf. Alle großen Zeitungen haben das Thema aufgegriffen. Der Tenor ist immer gleich: Der IQ kann sich zwischen etwa 12 und 20 Jahren noch ändern. Das legt den Verdacht nahe, dass in der aktuellen Nummer eines der großen Wissenschaftsjournale entsprechender Artikel zu finden ist. Tatsächlich hat eine Arbeitsgruppe vom University College in London unter Leitung von Cathy J. Price in der Zeitschrift Nature eine entsprechende Arbeit veröffentlicht.

Ihr Titel: „Verbal and non-verbal intelligence changes in the teenage brain1. Hier eine Übersetzung der Zusammenfassung:

Der Intelligenzquotient (IQ) ist ein Standardmaß der menschlichen intellektuellen Fähigkeiten und berücksichtigt einen weiten Bereich von kognitiven Fähigkeiten. Es wird allgemein angenommen, dass der IQ über die gesamte Lebenszeit stabil bleibt, wobei der punktuell erhobene Wert benutzt wird, um die schulischen Leistungen und die beruflichen Aussichten vorherzusagen. Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren (Neuroimaging) können wir feststellen, ob unerwartete longitudinale Schwankungen des gemessenen IQ mit der Hirnentwicklung korreliert sind. Hier zeigen wir, dass der verbale und nicht-verbale IQ bei Teenagern steigen oder fallen kann, wobei diese Änderungen eng mit Veränderungen von örtlichen begrenzten Gehirnstrukturen verbunden sind. Eine Kombination von struktureller und funktionaler Magnetresonanztomographie [im Original heißt es nur Imaging] zeigte, dass der verbale IQ sich mit der grauen Substanz in einer von Sprache aktivierten Region veränderte, während sich der nicht-verbale IQ mit der grauen Substanz in einer von Fingerbewegungen aktivierten Region veränderte. Durch die longitudinale Beobachtung der gleichen Versuchspersonen konnten wir viele Quellen von Variationen in der Gehirnstruktur aufdecken, die bei Querschnittstudien stören. Das ermöglichte uns, neuronale Marker der beiden Intelligenztypen auseinanderzuhalten und zu zeigen, dass die allgemeinen verbalen und nicht-verbalen Fähigkeiten eng mit den sensomotorischen Fähigkeiten zusammenhängen, die beim Lernen eingesetzt werden. Noch allgemeiner gesagt, unterstreichen unsere Ergebnisse die Möglichkeit, dass die intellektuellen Fähigkeiten des einzelnen sich im Vergleich mit seinen Altersgenossen verändern können. Das würde diejenigen ermutigen, deren intellektuelles Potential besser werden könnte, und wäre eine Warnung, dass frühe Überflieger ihr Potential möglicherweise nicht halten können.

Die letzten beiden Sätze sind eine Binsenweisheit, jeder kennt aus seiner Schulzeit entsprechende Beispiele. Braucht man dazu wirklich eine so aufwändige Untersuchung? In der Tat hat die Studie einige Schwachstellen. Betrachten wir zunächst einmal das Ergebnis der Tests. Die Wissenschaftler haben die Probanden zunächst mit den Wechsler-Intelligenztest für Kinder getestet und dann vier Jahre später mit dem Wechsler-Test für Erwachsene. Sie fanden eine durchschnittliche Korrelation von 0,8. Ein Wert von 1 zeigt an, dass die Ergebnisse exakt gleich sind, während Null bedeutet, dass zwischen den Ergebnissen des ersten und des zweiten Tests keinerlei Zusammenhang zu finden ist. Eine Korrelation von 0,8 ist recht hoch, der erste Test gibt also einen guten Hinweis darauf, wie der zweite Test wahrscheinlich ausgehen wird. Andere Veröffentlichungen fanden Korrelation von ca. 0,9, wenn man den gleichen Test nach einem Jahr oder weniger wiederholt2. Bei einer Wiederholung nach vier Jahren mit einem etwas anders gestalteten Test ist eine Korrelation von 0,8 absolut plausibel. Das Ergebnis ist also alles andere als sensationell.

Auch die in den Zeitungsberichten groß herausgestellte Aussage, dass sich intellektuelle Fähigkeiten verändern können, ist erstens nicht neu und zweitens durch einzelne Tests nicht ausreichend beweisbar. Warum also die ganze Aufregung? Es könnte damit zusammenhängen, dass die Autoren fälschlich behaupten, bisher sei allgemein angenommen worden, dass der IQ über die gesamte Lebenszeit stabil bleibt. Das stimmt so nicht und dient offenbar dazu, einen besseren Kontrast zu den eigenen Befunden herzustellen, einen falschfarbenen Hintergrund, vor dem sich die Arbeit besser abhebt (genaueres dazu z.B. im Buch „Intelligenz, Fakten und Mythen“ von Detlev Rost, Seite 205ff). Im übrigen wäre eine so weitreichende Aussage (IQ über die Lebenszeit unveränderlich) mit dieser Studie weder zu beweisen noch zu widerlegen. Dazu sind 33 Probanden und eine Laufzeit von vier Jahren einfach zu wenig. Die Autoren haben lediglich ein dünnes Ergebnis spektakulär verkauft.

Bis dahin bringt die Studie also keine neuen Erkenntnisse. Was ist jetzt mit den anatomischen und funktionellen MRT-Untersuchungen?

Hier sieht es leider nicht viel besser aus. Die Forscher fanden einen Zusammenhang zwischen der Veränderung der Leistung im Intelligenztest und der Veränderung der Dichte der grauen Substanz in der Hirnrinde zweier relativ kleiner Gehirnbereiche. Wegen „ … der verteilten Beschaffenheit der Gehirnregionen, die mit den Unterschieden des IQ-Wert zwischen Probanden verbunden sind“, haben sie im gesamten Gehirn gesucht, ob sich sich irgendwo Korrelationen finden lassen. Sie haben also nicht etwa versucht, eine vorbestehende Hypothese zu verifizieren was die die sinnvollere Methode gewesen wäre. Nun, es geht durchaus auch so, die Ergebnisse sind aber enttäuschend. In der Studie fanden sich nur zwei kleine Areale, die überhaupt mit der Veränderung des verbalen bzw. non-verbalen IQ korrelierten:

  1. Eine Verbesserung des verbalen IQ korreliert demnach mit einer erhöhten Dichte der grauen Substanz in einem winzigen Teil des Motorkortex (des Gehirnbereichs, der die Muskeln steuert), und zwar dort, wo die Sprechmuskulatur koordiniert wird.

  2. Änderungen des non-verbalen IQ fanden ihre Entsprechung in einer Dichteänderung der Areale für die Hand- und Fingersteuerung im Kleinhirn.

Das ist zweifellos ein interessantes Ergebnis, das so noch niemand veröffentlicht hat. Allerdings kommt es ebenfalls nicht sehr überraschend. Sowohl der IQ als auch die Hirnrinde reagieren bekanntermaßen auf längeres Üben. Bei Londoner Taxifahrern ist der hintere Bereich des Hippocampus vergrößert, und zwar umso mehr, je länger sie Taxi fahren3. Bei Medizinstudenten vergrößern sich Bereiche im Scheitellappen des Gehirns, wenn sie viele abstrakte Fakten lernen4.

Auch hier bietet die Studie der Gruppe von Price im wesentlichen eine Bestätigung von bisherigem Wissen. In der Diskussion weisen sie aber nirgendwo auf die früheren Studien hin, sondern wiederholen nur, was sie selbst feststellt haben. Damit entsteht der falsche Eindruck, die Erkenntnisse seien grundlegend neu. Das ist kein guter Stil.

Fazit

Die Studie der Gruppe von Cathy Price ist eine Fleißarbeit, die frühere Erkenntnisse bestätigt. Die Autoren erwecken allerdings den falschen Eindruck, sie hätten bisherige Annahmen widerlegt, indem sie einen falschen Stand der Wissenschaft behaupten oder bisherige Erkenntnisse ignorieren. Das tut der Wissenschaft nicht gut, und ich hätte mir eine deshalb kritischere Presse gewünscht.

Literatur

[1] Sue Ramsden, Fiona M. Richardson, Goulven Josse, Michael S. C. Thomas, Caroline Ellis, Clare Shakeshaft, Mohamed L. Seghier, Cathy J. Price (2011) Verbal and non-verbal intelligence changes in the teenage brain. Nature, Published online 19. Oktober 2011

[2] Basso MR, Caronal FD, Lowery NL, Axelrod BN (2002) Practice Effects on the WAIS-III Across 3- and 6-Months Intervals. The Clinical Neuropsychologist 16(1), 57-63

[3] Maguire et al. (2000) Navigation-related structural changes in the hippocampi of taxi drivers. PNAS 97(8), 4396-4403

[4] Draganski et al (2006) Temporal and Spatial Dynamics of Brain Structure Changes during Extensive Learning. The Journal of Neuroscience 26(23), 6314-6317

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Veröffentlicht von

www.thomasgrueter.de

Thomas Grüter ist Arzt, Wissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er lebt und arbeitet in Münster.

11 Kommentare

  1. Wie haben die AutorInnen es geschafft …

    … diese Ergebnisse in “Nature” unterzubringen?

  2. Ist der IQ der Presse steigerbar?

    ich hätte mir eine deshalb kritischere Presse gewünscht

    Müssten nicht zuerst die Reviewer kritischer sein? Immerhin ist die Arbeit in einem wissenschaftlichen Journal erschienen. Ist es nicht zuviel verlangt von den Redaktoren der Süddeutschen Zeitung und von Focus Online sich zuerst einen Überblick über den Wissensstand des betroffenen Fachgebiets (hier die IQ- und Hirnforschung) zu verschaffen bevor sie die Ergebnisse einer ihnen aufgefallenen Arbeit vorstellen?

    Eine Suche im Internet nach dem Titel dieser Arbeit liefert auffallend viele “hits” und Besprechnungen hier und dort. Zum Beispiel im Science-Mag: The results are “really exciting,” says John Gabrieli, a neuroscientist at the Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, who was not involved in the study. “People have thought IQ is fixed or that it becomes stable very early in life, but here is meaningful evidence that variation happens and continues well into adolescence.”
    Übrigens gibt es bei Besprechungen wissenschaftlicher Arbeiten für Laien unterschiedliche “Kulturen”. Im englischsprachigen Raum findet man sehr häufig einen Wissenschaftler zitiert who was not involved in the study um die Glaubwürdigkeit der Aussage zu erhöhen, wobei who was not involved in the study fast eine feste Formel ist.
    Nimmt man die Resonanz dieser Arbeit im Web und in diversen Zeitungen und Zeitschriften für Wissenschaftsinteressierte als Massstab, so ist den Autoren der Studie tatsächlich ein grosser Wurf gelungen. Es soll mir niemand sagen, das sei für die Karriere dieser Wissenschaftler nicht förderlich, weil in der Wissenschaft nur die Resonanz in der engeren Fachwelt zählt.

  3. kritiklose Presse

    Dieses kritiklose Presseecho wundert mich gar nicht mehr, seit ich etwas mehr über das Phänomen der Meinungsmache weis. Ich hab zwar das gleichnamige Buch von Albrecht Müller noch nicht gelesen, aber die Mechanismen findet man ja auch in seinem Blog zu Hauf, auch wenn es da um politische Meinungsmache geht. Das dürfte in der Wissenschaft aber wohl nicht sehr viel anders laufen.
    Evtl. könnte es noch interessant sein, die Berichte aus den Zeitungen und Magazinen mit den Agenturmeldungen zu vergleichen. Dabei kommt im schlimmsten Fall heraus, das der Wortlaut der Agenturmeldungen vollständig übernommen wurde. In den weniger schlimmen Fällen wurde “nur” ein wenig abgeschrieben und in den besten Fällen gab es noch ein paar weitere Recherchen dazu, um die Aussagekraft der Studie genauer einordnen zu können.

  4. Harmlosigkeit ist Trumpf

    Harmlose Ergebnisse aus der Intelligenzforschung veröffentlichen “Nature” und die große Presse doch gerne.

    Um so verdienstvoller, daß die Studie hier so nüchtern analysiert und eingeordnet wird. Vielen Dank!

  5. @Martin Holzherr

    Der Journalist vom Science-Mag hat eigentlich alles richtig gemacht: Er hat zwei andere Wissenschaftler angerufen, die ungefähr in dem Bereich arbeiten, und sie um ihre Meinung gebeten. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass beide keine Möglichkeit hatten, die Arbeit genau zu studieren. Ich bin selbst schon angerufen worden und sollte meine Meinung zu einer Arbeit abgeben, die gerade erschienen war und die ich nicht gelesen hatte. Dabei gerät man unweigerlich in ein Dilemma: Wenn man Kritik äußert, muss sie schon sehr fundiert sein, sonst wirkt sie kleinlich. Dazu müsste man aber die Arbeit genauer studieren, was wiederum mehr Zeit kostet, als der Journalist zu geben bereit ist. Also ist es am besten, man äußert sich unverbindlich über die Perspektiven der Arbeit. Das ist etwa auch der Tenor der beiden Kommentare. Um im konkreten Beispiel zu bleiben: Da wird die Neurologin Frances Jensen folgendermaßen zitiert:”This is a really nice mixed message for teens. It suggests there’s still plasticity at this stage … so you can still work on weaknesses and enhance strengths.”
    Dabei hat sie vorher bestimmt niemandem erzählt, es mache im Teenageralter keinen Sinn mehr, seine Schwächen zu bekämpfen oder seine Stärken zu verbessern (hoffe ich wenigstens).

  6. @Hans

    Meinungsmache gehört zum politischen Geschäft, und das Aufdecken der Schwächen von Konzepten zur Arbeit der Presse. In der Wissenschaft ist es die Arbeit der Gutachter, die sich vor der Veröffentlichung mit der Arbeit befassen. In diesem konkreten Fall hätten sie auf einer besseren und genaueren Diskussion bestehen sollen.

  7. Der IQ steigt sogar in wenigen Tagen …

    … oder so muss ich wohl die Ergebnisse eines Selbstversuchs werten, den ich in jungen Jahren mit einem im Bücherregal meiner Mutter gefundenen Taschenbuchs mit dem Titel “50 IQ-Tests” (oder so ähnlich) durchführte.

    Ich machte in den Sommerferien jeden Tag, so ein zwei dieser Tests, die sich alle glichen. “1 – 2 – 3 – 5 – 7: Welche Zahl kommt jetzt?” “Palimsespt verhält sich zu Palindrom wie ..” “Welche Figur ergänzt diese Serie?” Sie wissen schon.

    Als ich das Buch durch hatte, schaute ich mir die daraus ermittelten IQs an, und siehe da, von Test 1 bis Test 50 war eine deutliche, fast lineare Steigerung zu verzeichnen. Meine damalige Freundin legte mir nahe, noch 200 solcher Tests zu machen, vielleicht würde ich ja dann sogar in den hohen zweistelligen Bereich vorstoßen. Ha, ha, sehr witzig.

    Na, wie auch immer, entweder es handelt sich bei mir um ein besonderes psychologisches Phänomen (Ja, auch dazu hatte meine damaige Freundin etliche Kommentare auf Lager) oder aber diese Art von Test prüft weniger den Intelligenzquotienten als die Fähigkeit, IQ-Tests zu absolvieren.

  8. @ Thomas Grüter:

    Es könnte damit zusammenhängen, dass die Autoren fälschlich behaupten, bisher sei allgemein angenommen worden, dass der IQ über die gesamte Lebenszeit stabil bleibt. Das stimmt so nicht und dient offenbar dazu, einen besseren Kontrast zu den eigenen Befunden herzustellen, einen falschfarbenen Hintergrund, vor dem sich die Arbeit besser abhebt (genaueres dazu z.B. im Buch „Intelligenz, Fakten und Mythen“ von Detlev Rost, Seite 205ff).

    Das klingt fast so, als stecke da ein Kalkül der Autoren dahinter (so entstehen Verschwörungstheorien, nicht? ;-).

    Aber im ernst: Ich habe mir mal die erstbeste Studie (van Soelen et al. 2011) zu einem ähnlichen Thema angesehen und habe dort die gleiche ″fälschliche″ Behauptung oder Annahme gefunden, nämlich dass der IQ über die Lebenszeit bemerkenswert stabil bleibt. Offenbar ist es noch nicht zu allen Intelligenzforschern vorgedrungen, dass diese Annahme falsch ist. Folgende fünf Referenzen, die ich hier einfach mal aufliste und die diese falsche Behauptung zu stützen scheinen, wurden genannt:

    Deary, I. J., Whalley, L. J., Lemmon, H., Crawford, J. R., & Starr, J. M. (2000). The stability of individual differences in mental ability from childhood to old age: Follow-up of the 1932 Scottish mental survey. Intelligence, 28, 49–55.

    Bartels, M., Rietveld, M. J., van Baal, G. C., & Boomsma, D. I. (2002). Genetic and environmental influences on the development of intelligence. Behavior Genetics, 32, 237–249.

    Livingston, R. B., Jennings, E., Reynolds, C. R., & Gray, R. M. (2003). Multivariate analyses of the profile stability of intelligence tests: High for IQs, low to very low for subtest analyses. Archives of Clinical Neuropsychology, 18, 487–507.

    Hoekstra, R. A., Bartels, M., & Boomsma, D. I. (2007). Longitudinal genetic study of verbal and nonverbal IQ from early childhood to young adulthood. Learning and Individual Differences, 17, 97–114.

    Lyons, M. J., York, T. P., Franz, C. E., Grant, M. D., Eaves, L. J., Jacobson, K. C., Schaie, K. W., Panizzon, M. S., Boake, C., Xian, H., Toomey, R., Eisen, S. A., & Kremen, W. S. (2009). Genes determine stability and the environment determines change in cognitive ability during 35 years of adulthood. Psychological Science, 20, 1146–1152.

    Detlef Rost beruft sich in seinem Buch wohl auf andere Studien, die hier unterschlagen werden.

    Oder liegt es einfach nur daran, dass ″Stabilität″ ein ziemlich dehnbarer Begriff ist? Um wie viele IQ-Punkte dürfen Ihrer Kenntnis nach denn aufeinander folgende IQ-Messungen von einander abweichen, damit noch von ″Stabilität″ gesprochen werden kann?

    Lit.: Van Soelen ILC et al. (2011) Heritability of Verbal and Performance Intelligence in a Pediatric Longitudinal Sample. Twin Research and Human Genetics; 14 (2): 119–128.

  9. @Balanus

    Da haben Sie ja wirklich ein ausgiebiges Literaturstudium betrieben. Aber es bleibt dabei:
    Mein wichtigster Einwand gegen den Artikel von Sue Ramsden ist der angebliche Unterschied zu bisherigen Studien. Ich habe die von Ihnen zitierte Literatur durchgesehen, und bin nirgendwo auf größere Korrelationen bei Längsschnittstudien gestoßen, tatsächlich sind die meisten eher etwas kleiner. Die Studie von Hoekstra gibt beispielsweise eine Korrelation von 0,47 bis 0,8 bei Kindern und Jugendlichen an, die im Alter von 5, 7, 10, 12 und 18 Jahren getestet wurden. Nur zur Erinnerung: Cathy Prices Team kam auf eine Korrelation von 0,8 nach vier Jahren. Damit liegt sie im Vergleich sogar eher hoch, sie hat also eine Stabilität im oberen Bereich der bisherigen Vergleichswerte gefunden. Obwohl also die gefunden Ergebnisse den früheren sehr ähnlich sind, behaupten die Autoren, sie hätten die bisherige These von der Stabilität der Intelligenz widerlegt. Sie möchten ihre Zahlen, die sich von den früheren nicht unterscheiden, also ganz anders gewertet wissen. Das kritisiere ich in meinem Beitrag. Und ja, ich gehe davon aus, dass die Autoren diesen Kontrast absichtlich aufbauen. Sie begründen ihre Ansicht damit, dass einzelne Probanden ihren IQ sehr verändert hätten. Das war offenbar auch in früheren Studien der Fall, sonst hätten deren Korrelationen höher sein müssen. Aber die Arbeitsgruppe von Price vergleicht ihre Extremgruppe mit dem Durchschnitt der früheren Arbeiten, ein Kardinalfehler der Statistikbewertung.
    Sie möchte damit vermutlich ihrem zweiten (und wirklich neuen) Ergebnis mehr Gewicht verleihen, eben der Erkenntnis, dass eine Änderung des verbalen oder nicht-verbalen IQs mit einer Änderung der Struktur der grauen Substanz in bestimmten kleinen Hirnregionen einhergeht. Auch dieses Ergebnis, ist wie schon geschrieben, nicht sensationell.
    Ich bleibe also dabei: Die Gruppe baut für die Darstellung ihrer psychometrischen Ergebnisse einen falschen Hintergrund auf, die Ergebnisse aus der Bildgebung werden nicht ausreichend mit früheren Ergebnissen verglichen. Und das ist einfach schlechter Stil.

  10. @ Thomas Grüter

    Danke für die klärende Antwort.

    Da hatte ich Sie wohl falsch verstanden.

    Nicht die Behauptung, dass allgemein angenommen werde, der IQ bleibe über die gesamte Lebenszeit (mehr oder weniger) stabil, ist falsch (denn diese Annahme gibt es tatsächlich), sondern die Behauptung, dass diese allgemeine Annahme nun durch die neuen Messungen widerlegt worden sei.

    Wobei aber auch diese Annahme von der ″Stabilität″ des IQ so nicht ganz richtig ist, da es mit der Zeit sehr wohl gewisse Veränderungen geben kann, was wiederum durch eine Vielzahl bisheriger Messungen bestätigt wird.

    So gesehen haben Sie mit Ihrer Kritik natürlich Recht.