Zum Jahreswechsel: Die Zukunft und wie wir sie sehen

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die Psychologie irrationalen Denkens
Gedankenwerkstatt

Die Weltbevölkerung wächst, die Ackerfläche schrumpft. Die Klimakonferenz in Warschau ist gescheitert, die Welt bekommt Fieber und wird krank. Es sieht nicht gut für uns aus. Oder ist das Gegenteil wahr: Die Menschheit ist auf dem Weg, Hunger, Krankheiten und Umweltschäden zu besiegen und darf eine großartige Zukunft erwarten.

Zwischen Weihnachten und Neujahr ist die Zeit für Rückblick und Vorschau. Was ist im vergangenen Jahr geschehen, was erwartet uns im nächsten? Oder noch allgemeiner: mit welchen Trends müssen wir rechnen? Jetzt ist auch die Zeit für Wahrsager, Propheten und Finanzanalysten. Nun ist inzwischen bekannt, dass Wahrsager alles mögliche vorhersagen, nur nicht die Wahrheit. Der Wahrsagercheck-Blog des Mathematikers Michael Kunkel überprüft regelmäßig die Vorhersagen und kommt immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Nichts stimmt. Die Trefferquote von Finanzanalysten ist nur unwesentlich höher, wie das Internetportal Finanzen100.de für das abgelaufene Jahr ermittelt hat.

Trotz der unterirdischen Erfolgsquote hören aber erstaunlich viele Menschen zu, wenn die Börsengurus ihre „todsicheren“ Tipps für das nächste Jahr abgegeben, und Astrologen den Ausgang von Wahlen oder die neuesten Wendungen im Liebesleben von Prominenten voraussagen. Warum interessiert die Menschen das überhaupt? Die meisten Menschen machen sich Gedanken um ihre persönliche Zukunft. Wie ich vor einigen Jahren in einem Artikel für Gehirn und Geist beschrieben habe, leiten sie ihre Vorstellungen darüber von der Vergangenheit ab (Morgen war einmal).

Natürlich möchten sie auch wissen, wie sich die Welt entwickelt. Er bildet schließlich den Rahmen für ihr eigene Zukunft. Muss man beispielsweise Vorsorge für den Fall treffen, dass der Preis für Heizöl durch die Decke geht oder alle Bakterien gegen Antibiotika resistent werden? Sollte man Lebensmittel einlagern, weil der Klimawandel unweigerlich zu Missernten führt?

Vor einigen Tagen habe ich der Nachrichtenagentur epd ein Interview gegeben, und auf die Schwierigkeit von langfristigen Vorhersagen hingewiesen1.

Mit der bisherigen Erfahrung der Menschen lassen sich sowohl positive als auch negative Prognosen rechtfertigen. Der Optimist argumentiert: „Bisher ist keine Katastrophe eingetreten. Weder ist der deutsche Wald gestorben, noch hat es massenhafte Hungersnöte gegeben. Die Menschen haben in der Vergangenheit immer noch rechtzeitig eine Lösung für alle Probleme gefunden.“

Das ist zweifellos richtig.

Der Pessimist hält dagegen: „Es sind stets Katastrophen eingetreten. Es hat immer Hungersnöte gegeben, und der deutsche Wald ist zwar nicht tot, aber auch nicht gerade gesund. Trotz aller Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft hat sich sein Zustand in den letzten Jahren auch nicht gebessert.“

Der Skeptiker kann einwenden: „Der Eindruck, dass alle drängenden Probleme immer gelöst wurden, beruht auf einer Illusion. Unseren Vorfahren ist einfach noch kein unlösbares Problem in die Quere gekommen. Das ist aber kein Verdienst, sondern reiner Zufall. Wenn eine Kultur ihre Probleme nicht lösen konnte, ist sie ausgestorben und kann nicht mehr berichten. Im Moment sägen wir jedenfalls fleißig an dem Ast, auf dem wir sitzen.“

Fragen wir also zunächst, was sich vorhersagen lässt. Alle wiederkehrenden astronomischen Phänomene wie Sonnen- und Mondfinsternisse lassen sich bis weit in die Zukunft berechnen. Auch die Verlangsamung der Erddrehung durch die Gezeitenreibung ist bekannt. Sie beträgt etwa 16 Mikrosekunden im Jahr. In einer Million Jahre wird der Tag deshalb 16 Sekunden länger sein als heute. Schwieriger wird es bei der Berechnung der Wirkung des Anstiegs der Klimagase auf künftige Temperaturen, Niederschläge und Meeresströmungen. Die Vorhersagen gehen relativ weit auseinander, allerdings hätte selbst die vorsichtigste bereits drastische Konsequenzen. Nahezu unmöglich ist die Vorhersage von Veränderungen der Tier- und Pflanzenwelt. Die vielfachen Regelkreise und Schwellwertphänomene ergeben ein nichtlineares Gesamtverhalten, dass sich jeder sicheren Vorhersage entzieht. Auch die noch spezifischere Umwelt der Menschheit hängt von so vielen Unwägbarkeiten ab, dass eine Vorhersage über 10 Jahre bereits sehr spekulativ ist.

Andererseits habe ich gerade selber im meinem Buch davor gewarnt, dass die Informationsgesellschaft in fünfzig Jahren zusammenbrechen wird, wenn wir nicht gegensteuern. Wie passt das zusammen? Das Buch ist keine Prophezeiung, es ist eine Mahnung. Wir dürfen uns nicht von immer komplexeren und kurzlebigeren Infrastrukturen abhängig machen, ohne die Fundamente zu sichern. Gleichzeitig hat das System kritische Stellen, die nur unzureichend abgesichert sind. Jeder Kybernetiker weiß, dass ein dynamisches System dieser Art kaum simulierbar ist, chaotisch reagiert und zu plötzlichen Zusammenbrüchen neigt.

Die Instabilität der technischen Grundlagen unserer Informationsgesellschaft liegt also klar auf der Hand. Dazu braucht es keine prophetischen Gaben. Inzwischen warnen Wissenschaftler auch davor, das Stromnetz über das Internet zu steuern. Die gegenseitige Abhängigkeit kann zu einer katastrophalen Fehlerkaskade führen.2

Ebenso ist die Klimaforschung inzwischen sicher, dass eine ungebremste Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre zu einem Klimawandel führen wird. Wenn die Oberflächentemperatur der Erde steigt, enthält das System insgesamt mehr Energie. Viele der Regelkreise, die jetzt das regionale Wettergeschehen bestimmen, funktionieren dann nicht mehr. Extremereignisse werden häufiger. Klimazonen verschieben sich, manche Gebiete trocknen aus, andere ertrinken in Regenfluten.

Das alles ist relativ sicher. Aber die Vorhersage von Herrschaftsstrukturen oder von plötzlichen Veränderungen der Umwelt ist fast unmöglich. Es war beispielsweise bekannt, dass die Bestände des nordwest-atlantischen Kabeljaus überfischt waren. Der totale Zusammenbruch im Jahr 1992 kam trotzdem überraschend. Mit solchen Ereignissen müssen wir immer wieder rechnen.

Jeder Bewerber um eine freie Stelle kennt die Frage: „Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“ Jeder macht Zukunftspläne, die Menschheit macht keine. Die auflaufenden Probleme sind Nebenwirkungen unseres Blindflugs in die Zukunft. Bald wird es nicht mehr reichen, nur darauf zu reagieren. Irgendwann werden wir so viele Bedrohungen gleichzeitig beseitigen müssen, dass unsere Kapazitäten überdehnt werden.

Wir sollten uns bald darüber klar werden, wo wir die Menschheit in 50 und 100 Jahren sehen. Dann können wir die Richtung bestimmen und Ressourcen berechnen. Wir können uns über Hindernisse klar werden und Schwierigkeiten schon im Ansatz erkennen.

Unser derzeitiger Blindflug endet irgendwann mit einer Bruchlandung. Wenn wir nicht wissen, wohin wir wollen, werden wir auch nirgendwo ankommen.

 

Ich wünsche allen Lesern einen guten Start ins Jahr 2014!

 

Anmerkungen

1 Im Internet z.B. hier nachzulesen.

2 Bashan, A., Berezin, Y., Buldyrev, S. V., & Havlin, S. (2012). The extreme vulnerability of interdependent spatially embedded networks. arXiv preprint arXiv:1206.2062.

 

Buch zum Thema

Buchcover Offline!

Thomas Grüter: Offline! Das unvermeidliche Ende des Internets und der Untergang der Informationsgesellschaft.

Springer Spektrum, Heidelberg. 2014

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www.thomasgrueter.de

Thomas Grüter ist Arzt, Wissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er lebt und arbeitet in Münster.

5 Kommentare

  1. Das tiefere Problem liegt darin, dass der Mensch zum bestimmenden Element wird. Damit gelten plötzlich für den ganzen Planeten die Zeitmassstäbe des menschlichen Lebens als bestimmend und nicht mehr die biologischen und geologischen Zeitmassstäbe. In der Welt vor dem Menschen lagen Katastrophen noch Millionen von Jahren voneinander getrennt, in unserer menschenbestimmten Gegenwart sind die Weltkriege und “Weltuntergänge” nur noch ein paar Dezennien voneinander getrennt.

  2. @Martin Holzherr
    Das ist ein wirklich guter Beitrag. Die Menschheit verändert in der Tat die Umweltbedingungen auf dem Planeten mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. An den verzögert einsetzenden, am Ende aber ebenso schnell verlaufenden Anpassungsreaktionen der Natur könnten wir scheitern, wenn wir nicht Vorsorge treffen.

  3. Manche Zufälle sind wirklich interessant. Ich wurde erst vor einem Monat vom Springer Verlag angeschrieben, ob ich nicht aufgrund meiner Initiative “Plötzlich Blackout!” (www.ploetzlichblackout.at) ein Corporate-Publishing-Projekt mit „Offline!“ eingehen will. Heute habe ich “Der Schwarze Schwan” von Nassim Taleb für mich ausgewertet und dabei ist mir die Studie “The extreme vulnerability of interdependent spatially embedded networks” in den Sinn gekommen – nach der ich dann im Internet gesucht habe. So bin ich auf diesen Blog gekommen … und es schließt sich ein Kreis ;-).

    „Offline!“ liegt bereits im Office, aber ich habe es noch nicht gelesen – dieser Blogbeitrag sagt mir aber, dass wir hier auf der selben Wellenlänge sind … ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit systemischen Risiken und strategischen Schocks und habe mich dabei sehr intensiv mit dem europäischen Stromversorgungssystem auseinandergesetzt – daher auch die Initiative “Plötzlich Blackout!”. Denn hier sind wir wohl schon einen wesentlichen Schritt weiter, als im Cyber-Raum. Wir sollten uns auf ein jederzeit mögliches europäisches Blackout mit kaum absehbaren Folgen einstellen. Obwohl die E-Wirtschaft mittlerweile auch nur mehr von einem “wann” und nicht mehr von einem “ob” spricht, werden diese Aussagen allzu schnell als Eigeninteresse abgetan und man geht wieder zur gewohnten Truthahn-Illusion über.

    Fairer Weise muss ich eingestehen, dass unser nationaler Workshop zur Vorbereitung auf einen europaweiten Stromausfall Ende November doch auch gezeigt hat, dass mittlerweile ein Umdenken statt findet. Denn anders wäre es wohl nicht möglich gewesen, in kürzester Zeit 200 TeilnehmerInnen aus über 100 Organisation zu mobilisieren, wo noch wenige Wochen vorher viele Verantwortliche das Projekt für völlig unmöglich gehalten haben.

    In diesem Sinne bin ich schon gespannt, welche Zufälle sich noch ergeben ;-).

    • Ihre Initiave ist ausgesprochen wertvoll und wichtig. Bisher möchte sich kaum jemand mit den Risiken befassen, denen unsere Infrastruktur ausgesetzt ist. Die Erhaltung darf nicht teuer sein, und das Aufzeigen von Gefahren könnte die Menschen beunruhigen. Aber bekanntermaßen treten auch seltene Ereignisse irgendwann auf, und man muss vorbereitet sein.

      • Dabei geht es gar nicht so sehr um die Risiken, die in komplexen Systemen nur bedingt erfassbar sind (“Schwarze Schwäne”), sondern viel mehr um die möglichen Konsequenzen einer größeren Störung in hoch vernetzten Systemen und den damit verbundenen Dominoeffekten.

        Und es geht nicht um Technik, die meistens im Vordergrund steht, sondern um UNS – denn wir sind ziemlich abhängig und verwundbar von diesen Systemen, ohne das uns das wirklich bewusst ist. Die Konsequenz daraus müsste sein, dass wir unserer Systeme robuster gestalten und vor allem Reichweitenbegrenzungen einbauen, und unsere Gesellschaft resilienter gegenüber jeglicher Störungen machen … Das widerspricht aber unserem aktuellen Wachstums- und Wirtschaftsdenken … Die steigenden Komplexitätslücken sind beunruhigend. Aber wenn man die aktuellen Nachrichten verfolgt, dann macht sich schon wieder Optimismus breit – die Börsenkurse steigen ja, was will man noch mehr. Dass das gefährliche Blasen durch ein Überangebot an billigem Geld sind, entzieht sich der Wahrnehmung. Das wir möglicherweise bereits am Beginn einer Deflation sind, ebenso, wenngleich dieses Szenario mittlerweile auch schon angesprochen wird.

        Und damit könnte “Offline!” rascher ein Thema werden, als uns lieb sein kann. Wie wollen wir die vielen und großen Infrastrukturprojekte (u. a. die Energiewende) vorantreiben bzw. eine Stabilisierung durchführen, wenn das Finanzsystem und damit wahrscheinlich auch das globale Wirtschaftssystem aus den Rudern läuft?

        Und da gibt es noch einiges mehr …