Das blieb uns erspart!

BLOG: Go for Launch

Raumfahrt aus der Froschperspektive
Go for Launch

Auslese 2009Oft, wenn ich etwas über die Geschichte des Menschen lese, insbesondere die Militärgeschichte, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, den Albert Einstein so treffend in folgende Worte kleidete: “Zwei Dinge sind unendlich: Das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher.”

Manchmal aber schöpfe ich doch ein wenig Hoffnung (selbst wenn ich es damit wage, Einstein zu widersprechen): Es gab offenbar Erfindungen und Entwicklungen, die so gefährlich dumm waren, dass selbst die Menschheit vorsichtshalber die Finger davon ließ, manchmal trotz jahrelanger intensiver Entwicklungsarbeit.

Je teurer, dümmer und gemeingefährlicher solche Projekte sind, desto militärischer und geheimer waren sie in aller Regel, deswegen waren sie zu “Lebzeiten” weithin unbekannt und nach ihrem “Ableben” bedeckte sie gnädig der Mantel des Schweigens. Aus diesem Grunde weiß die Öffentlichkeit oft gar nicht mehr so genau, was ihr da erspart geblieben ist.

Ich will zumindest einige solcher Projekte dem Vergessen entreißen, die meinem Fachbereich, der Luft- und Raumfahrt entstammen. Wohlgemerkt – dies sind nur einige wenige Beispiele, die zeigen sollen, wohin es nach dem Willen damaliger Politiker und Militärs hätte gehen sollen.

Die fliegende Brechstange

Nummer 1 auf meiner Liste kann nur dieses Projekt sein, ob der Kühnheit, mit der es vielfältige, schwierigste technische Lösungswege auf verschlungenem Wege zu einer Lösung – man ist fast versucht, zu sagen “Endlösung” – von geradezu phänomenaler Dummheit vereinigt.

Die fliegende Brechstange beim Start, Quelle: merkle.com

Meine Damen und Herren, ich stelle Ihnen hiermit vor: SLAM (Supersonic Low Altitude Missile), aka “Project Pluto“, aka “die fliegende Brechstange” oder auch, in späteren Jahren sehr treffend: “das fliegende Tschernobyl”. Ein echtes Kind des kalten Kriegs, von bestechender Geradlinigkeit. Man nehme einen Reaktor mit keramisch umhüllten Brennstäben und stecke ihn ein Rohr mit einem Diffusor vorne und einer Düse hinten. Dann spendiere man noch Flügel und Leitwerk sowie einen Rumpf und ein paar abwerfbare Hilfsraketen für den Start.

Voilà: Fertig ist der perfekte Marschflugkörper mit Staustahltriebwerk. Hat man ihn erst einmal in die Luft gebracht und beschleunigt, dringt Luft vorne durch den Diffusor ins Triebwerk, wird am Reaktor erhitzt und durch die Düse ausgestoßen und erzeugt dabei gewaltigen Schub. Das Gerät hat kaum bewegliche Teile und ist deswegen extrem robust und entsprechend schwer abzuschießen; es verbraucht keinen Treibstoff, da es nur Außenluft ansaugt und erhitzt, und hat deswegen eine fast unbegrenzte Reichweite.

Schnittzeichnung eines SLAM, Quelle: merkle.com

Ist doch prima: Allein der gewaltige Schalldruck und die massenhaft ausgepustete Radioaktivität würden dem gegnerischen Land schwersten Schaden zufügen, als nette Dreingabe zu den Atombomben, die ein SLAM in seinem Rumpf mitführen und über dem Zielgebiet abwerfen sollte. Am Ende konnte man dem Gegner noch den mit Überschallgeschwindigkeit einschlagenden Reaktor als Abschiedsgeschenk hinterlassen.

Aber Moment mal … der Schalldruck und die Kontamination traten doch auch beim normalen Flug auf. Also auch beim Flug zum Einsatzort, noch über eigenem Gebiet oder dem von Verbündeten. Hm. Da kann man ja schon fast erste Zweifel kriegen.

Und dann … wie soll man denn so ein Ding testen? Ungetestet wird man es ja wohl nicht in den Einsatz schicken, oder? Ah ja, einfach an der Pazifikküste starten und aufs Meer hinausfliegen lassen. Wenn es einem abhaut, fällt es spätestens dann herunter, wenn der Treibstoff alle ist – tun wir mal so, als sei der Reaktor am Meeresboden kein Problem. Aber halt … eine fliegende Brechstange hat doch eine praktisch unbegrenzte Reichweite? Also fliegt das Ding einfach weiter. Und weiter. Und weiter.

Angesichts der prinzipbedingten Nachteile wurde das Projekt nach nur siebeneinhalb Jahren Entwicklungsarbeit eingestellt. Natürlich hätte man überhaupt nicht erwarten können, dass diese Entscheidung schon im Rahmen der ersten Vorstudie fällt, so wenig offensichtlich sind die prinzipiellen Probleme des Konzepts an sich.

Es hat sich seither niemand mehr an so etwas versucht.

Nuklear betriebene Langstreckenbomber

Keiner? Das stimmt, von nuklear betriebenen Überschall-Marschflugkörpern ließ man die Finger. Es lief jedoch ein paralleles Projekt der Air Force für ein nuklear betriebenes Langstreckenflugzeug, dem offenbar auch ein Projekt der Sowjets gegenüberstand. Um jenes ranken sich Gerüchte und Fehlinformationen, es wurde und wird fälschlicherweise angenommen, der konventionelle sowjetische Überschallbomber Myasishchev M-50 sei ein solches nukleares Flugzeug.

In Realität handelte es sich um die Tu-119, eine Variante des bekannten Langstreckenbombers Tu-95, die allerdings glücklicherweise nicht allzu weit gedieh, ebenso wie die amerikanischen Projekte. Es wuchs die Einsicht, dass die aus einem Absturz resultierenden Probleme und selbst schon der nominelle Betrieb nie in den Griff zu bekommen sein würden.

Auch hier wieder: Es musste erst lange herumentwickelt werden, bevor jemandem die grundsätzlichen Nachteile auffielen. Aber immerhin fielen sie auf, und dann fiel auch irgendwann die Axt.

Eine militärische Raumstation mit Kanone

Polyus in Startkonfiguration, Quelle: astronautix.com Die Sowjets hatten bereits frühere bemannte Raumstationen der “Almaz”-Serie zur Abwehr von Zerstörersatellten ausgerüstet, mit gemischtem Erfolg. Waren es bis dahin immer Flugzeugkanonen gewesen, die wegen ihres Rückstoßes für den orbitalen Einsatz schlecht geeignet waren, so sollte auf der letzten und größten militärischen Raumstation der UdSSR, Polyus, ein rückstoßloses System zum Einsatz kommen.

Polyus, ein 80-Tonnen-Brummer, sollte ein Prototyp für eine Plattform sein, die Techniken zur Zerstörung von gegnerischen Raumflugkörpern aller Art testen sollte. Nun ist es aber so, dass das Herumballern im Orbit grundsätzlich keine gute Idee ist.

Auf keinen Fall wenn man trifft, denn dann bildet das zerstörte Ziel eine Wolke von Trümmern, von denen jedes Einzelne, je nach Ausgangsbahnhöhe, Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte in seinem Orbit verbleiben kann, bis die Luftreibung in der Hochatmosphäre es endlich zum Absturz bringt. Wir sind jetzt bereits in der unschönen Situation, dass die Zahl der Weltraumtrümmer in Erdnähe durch gegenseitige Kollisionen weiter wächst. Dies ist ein  Problem für die gesamte Raumfahrt, zivile wie militärische. Nur gegen ganz kleine Trümmerteilchen hilft Panzerung, selbst wenige Zentimeter große Brocken können aufgrund der hohen Relativgeschwindigkeit beim Impakt gewaltige Energien freisetzen, die allemal zur Zerstörung eines Satelliten oder Raumschiffs ausreichen.

Aber selbst, wenn man nicht trifft, dann können sehr wohl auch die abgefeuerten Geschosse selbst wieder zu Trümmerteilchen werden und eine bleibende Gefahr darstellen – für alle gegnerischen und eigenen Satelliten inklusive des feuernden Raumschiffs.

Frage in die Runde: Ein Raumschiff im niedrigen Erdorbit feuert ein Geschoss ab. Welche Abschussrichtung relativ zum momentanen Geschwindigkeitsvektor ist relativ ungefährlich, welche ist dagegen am gefährlichsten? (Antworten bitte als Kommentar)

Polyus gehört eigentlich nicht in die Liste der hier vorgestellten Projekte, denn bei ihm hat keineswegs die Vernunft obsiegt. Polyus wurde gebaut, gestartet und wäre sicher auch betrieben worden, falls nicht Hugo oder Murphys Geist oder der Schutzpatron der Raumfahrt oder irgendein anderer Exponent höherer – sicher nicht menschlicher – Vernunft gesagt hätte: “Jetzt reicht’s aber!”.

Fotografie der Station Almaz, Quelle: astronautix.om Das Ende von Polyus setzt in seiner Lächerlichkeit einen fulminanten Kontrapunkt zur Gigantomanie des gesamten Projekts, wobei man anerkennen muss: Selbst die Lächerlichkeit des Abschieds entbehrt nicht der Grandiosität. Polyus wurde auf der damals neuen sowjetischen Großrakete Energia gestartet, einem technischen Meisterwerk sondergleichen – dies sage ich ausnahmsweise mal ganz ohne Ironie, ehrlich.

Aus guten technischen Gründen war Polyus in einer bestimmten Lage außen an der Rakete befestigt, gewissermaßen huckepack, nicht oben drauf, wie sonst üblich. Die Rakete sollte nur in eine suborbitale Trajektorie einschießen. Am Scheitelpunkt der  Bahn sollte Polyus sich automatisch um 180 Grad drehen, seine Triebwerke zünden und eine stabile Bahn erreichen. Aber aus den 180 Grad wurden aufgrund eines technischen Versagens 360 Grad; die Triebwerke feuerten zum richtigen Zeitpunkt in genau die falsche Richtung und anstatt ins Orbit ging es kaum eine halbe Stunde nach dem Abheben wieder hinab in den Pazifik, wo dieses Kampfraumschiff objektiv gesehen gar nicht schlecht aufgehoben ist. Da beschleicht einen wieder mal diese klammheimliche Freude …

Hier endet meine kurze Liste dessen, was uns (teilweise unfreiwillig) erspart blieb. Man bedenke: Das sind nur einige der Projekte, die ruchbar wurden. Wer weiß schon, was noch so alles gemacht wurde und vielleicht immer noch gemacht wird.

Kein schöner Gedanke.

Weitere Informationen

SLAM/Projekt Pluto-Webseite auf merkle.com

Webseite mit Informationen zur sowjetischen Forschung in nuklear betriebe Flugzeuge

Private Webseite zu Polyus mit interessanten Filmaufnahmen und Fotos

Webseite der ESA zur Entwicklung des Weltraumschrotts

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Ich bin Luft- und Raumfahrtingenieur und arbeite bei einer Raumfahrtagentur als Missionsanalytiker. Alle in meinen Artikeln geäußerten Meinungen sind aber meine eigenen und geben nicht notwendigerweise die Sichtweise meines Arbeitgebers wieder.

4 Kommentare

  1. Interessant

    Ich finde den Artikel interessant und ich bin sehr verwundert, wenn eine Idee schon grundsätzlich Schwierigkeiten hat, weshalb man überhaupt damit anfängt zu konstruieren und zu testen. Das ist doch kompletter Blödsinn.

  2. Preisfrage

    Also ich versuch mich mal an eine Antwort an die “Frage in die Runde”. Man sollte das Geschoss auf keinen Fall in der eigenen Flugrichtung abfeuern. Die Impulserhaltung bewirkt, dass man dann selber verlangsamt wird, was wiederum bedeutet, dass die Flughöhe sinkt –> Absturz. Schießt man gegen die eigene Flugrichtung steigt man entsprechend im Orbit an, was zunächst ungefährlicher ist. Gefährlich wird es nur, wenn man zu hoch steigt, denn dann muss man genug Treibstoffreserven zum bremsen haben, um wieder abzusteigen, zum Beispiel für den Wiedereintritt bei der Landung.

  3. @Stefan: Nicht ganz …

    Guter Ansatz mit der Impulserhaltung. Die Schlussfolgerung würde auch durchaus zutreffen, wenn der Impuls des oder der abgefeuerten Geschoss/e/s hoch genug ist.

    Das habe ich in der Aufgebenstellung zugegebenermaßen nicht präzisiert.

    Man kann aber wohl davon ausgehen, dass, wenn man die Masse der Raumstation und die plausible Masse abgefeuerter Geschosse betrachtet, die Bahnänderung der Raumstation durch das Abfeuern nicht wesentlich ist – obwohl natürlich ein gewisser Effekt dieser Art zu verzeichnen sein würde.

    Es gibt aber andere, unmittelbarere Effekte, die ausgesprochen unangenehm sein koennen und direkt mit der Richtung des Abfeuerns zu tun haben.

    Diese Effekte legen nahe, in welche Richtung man ballern darf und in welche tunlichst nicht.

    Die Frage ist somit noch offen!

  4. Des Rätsels Lösung

    Bevor dieser Artikel gänzlich im Dunkel des Vergessens entschwindet, hier die Antwort auf meine Frage in die Runde.

    Es ist relativ ungefährlich, Geschosse nach “hinten”, also entgegen der Flugrichtung abzufeuern. Da die Mündungsgeschwindigkeit dann von der Bahngeschwindigkeit subtrahiert wird, sind die Geschosse in Bahnen viel geringerer Energie und treten, wenn das Schießen in einer niedrigen Erdbahn erfolgte, wahrscheinlich schon vor dem nächsten Perigäum in die Atmosphäre ein.

    Schon deutlich schlimmer, wenn auch noch nicht unbedingt kritisch gefährlich, ist das Schießen nach vorne. Dann addiert sich nämlich die Mündungsgeschwindigkeit zur Bahngeschwindigkeit. Die Geschosse sind in einer elliptischen Bahn mit einem Apogäum, das (deutlich) über der aktuellen Bahn liegt und dessen Perigäum die aktuelle Bahn streift. Weil die Bahnperiode der Geschosse ungleich der des eigenen Schiffs ist, treffen die Geschosse noch nicht nach einem Umlauf, aber sie stellen eine latente Gefahr dar.

    Ganz kritisch wird es, wenn man nach senkrecht zur Bahnebene ballert. Dann haben die Geschosse genau dieselbe Umlaufperiode wie die des eigenen Schiffs, nur ihre Bahnebene ist anders, schneidet aber die eigene zweimal pro Orbit. Das heißt, man kann sich darauf einstellen, dass man eine gute Chance hat, schon nach einem halben Umlauf selbst getroffen zu werden. Oder aber nach einem, anderthalb, zwei, zweieinhalb, etc. Umläufen.

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