Morgen: Sehr nahe Asteroidenbegegnung!

BLOG: Go for Launch

Raumfahrt aus der Froschperspektive
Go for Launch

Morgen, Mittwoch, 13.1.2010, wird ein kleiner Asteroid namens 2010 AL30 mit einem geschätzten Durchmesser von 10-15 Metern in nur einem Drittel des Mondabstandes an der Erde vorbeifliegen (größte Annäherung gegen 14:00 MEZ).

(Read this post in English here)

Die dazugehörige Ankündigung im Minor Planet Electronic Circular gibt einen Satz Beobachtungen an, auf dem die Bahnbestimmung basiert. Die Beobachtungen beginnen am 10.1.2010.

Bemerkenswert an diesem Asteroiden ist die Bahnperiode, die fast genau ein Jahr beträgt. Die Bahn ist um etwa 4 Grad gegenüber der Ekliptik geneigt, und sie ist deutlich exzentrisch: Das Aphel liegt bei über 1.3 AE, das Perihel bei unter 0.7 AE.  

Dies gab Anlass zur Vermutung, dass es sich um ein menschengemachtes Objekt handeln könnte, vielleicht analog zum Objekt J002E3, bei dem es sich wahrscheinlich im eine ausgebrannte Saturn-V-Oberstufe handelt, deren Bahnenergie gerade mal so ausreichte, um das Erdschwerefeld zu verlassen und von der Sonne eingefangen zu werden, und das 2002 vorübergehend von der Erde eingefangen werden konnte.

Die gegebene Situation bei 2010 AL30 passt allerdings nicht zu Fällen wie bei J002E3, aus diversen Gründen. Die Bahnperiode von einem Jahr ist bloßer Zufall.

Wo kommt das Ding her?

Zurueckgerechnete Bahn des Asteroiden 2010 AL30, Quelle: Michael Khan/ESAWahrscheinlich handelt es sich um ein Objekt natürlichen Ursprungs. Aber es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um eine Oberstufe einer früheren planetaren Mission handelt, vielleicht einer, die zur Venus ging und die aufgrund eines nahen Venus-Vorbeiflugs und weiterer Bahnstörungen ihre jetzige Form annahm.

Stutzig macht zunächst der Perihelradius, der ziemlich genau dem Bahnradius der Venus entspricht, wie der nebenstehenden Grafik entnommen werden kann. Diese ausgehend von der Bahnbestimmung im MPEC für den 4.1.2010 erstellt, wobei ich die Bahn des Asteroiden unter Einbeziehung des Schwerkrafteinflusses der Sonne und aller Planeten numerisch rückwärts propagiert habe. Man sieht zwei Kreuzungspunkte mit der Venusbahn jeweils dicht am Perihel (nun gut, hinzu kommt noch der Unterschied in der Inklination, der das Ganze etwas komplizierter macht).

Bei einer solchen Bahn ist es sehr wahrscheinlich, dass sich mehr oder weniger nahe Vorbeiflüge an der Venus ereignet haben und dass dabei die Parameter der Bahn mehr oder weniger stark gestört wurden. Dies müsste sich aus meiner Rückwärtsberechnung auch ergeben. Allerdings ist es so, dass alle Ungenauigkeiten in der Bahnbestimmung kräftig verstärkt werden, je weiter man in der Zeit zurück geht und je mehr nahe Vorbeiflüge an Planeten auftreten. 

Asterod 2010 AL30 - Abstand von Erde, und Venus, Quelle: Michael Khan/ESA Wenn die Abstände von Erde und Venus über der Zeitachse aufgetragen werden wie in der Grafik links (Achtung, logarithmische y-Achse), dann sieht man zunächst den dichten Vorbeiflug an der Erde im Abstand von etwa 2 Millionen km vor einem Jahr, am 12.1.2009. Dieser ergibt sich aus der Tatsache, dass die Bahnperiode fast genau ein Jahr beträgt – da muss das Ding auch ziemlich genau ein Jahr vor der jetzt bevorstehenden Begegnung des 13.1.2010 bereits bei uns vorbeigekommen sein. Im Verlauf des Jahres 2009 haben keine nahen Venus-Vorbeiflüge stattgefunden.

Es sieht jedoch so aus, dass das Objekt in der ersten Hälfte des Jahres 2006 der Venus nahekam, und gegen Ende des Jahres 2005 der Erde. Das erscheint nun wiederum – bei aller Vorsicht, die man ob der Ungenauigkeiten walten lassen muss – nicht ganz unvereinbar mit der Möglichkeit, dass es sich hier um die Fregat-Oberstufe der Sojus-Rakete handeln könnte, mit der die ESA-Mission Venus Express gestartet wurde. Diese wurde am 9. November 2005 gestartet und kam am 11. April 2006 an der Venus an. 

Es gibt Hinweise darauf, dass das Objekt schnell rotiert – dies wäre bei einer Raketenstufe durchaus nicht verwunderlich. Im Fall einer aus thermischen Gründen in reflektierende Folie gehüllten Stufe wäre das Reflektionsvermögen deutlich höher als bei einem natürlichen Objekt. Das würde bedeuten, dass in den ersten Schätzungen die Größe des Objekts überschätzt wurde. Eine Stufe ist kleiner als ein gleich hell erscheinender Asteroid, reflektiert aber pro Fläche mehr Licht. 

Die hypothetische Möglichkeit, die ich hier aufwerfe, wird sich sicher leicht widerlegen oder bestätigen lassen, sobald es neue Bahnbestimmungen und auch spektroskopische Analysen gibt.

Nachtrag: Merkwürdige Zufälle zuhauf…

Grosse Halbachse als Funktion der B-Plane-Paraneter fuer den VEX-Transfer zur Venus, Quelle: Michael Khan/ESADas Problem ließ mir keine Ruhe, deswegen habe ich mich ihm von einer anderen Seite genähert. Angenommen, 2010 AL30 ist die Fregat-Oberstufe vom Venus-Express-Start. Dann gilt es herauszufinden, ob, ausgehend von den bekannten Bahnparametern der Annäherung an die Venus die Schwerkraft des Planeten das Objekt so hätte umlenken können, dass die jetzt beobachteten Bahnparameter erreicht werden. Die Antwort fiel deutlicher aus, als ich erwartet hatte.

Die hyperbolische Ankunftsgeschwindigkeit an der Venus war etwa 4.6 km/s. Datum und Richtung der Ankunft sind bekannt. Ich habe damit für eine Matrix von Punkten in der “B-plane” (einer gedachten “Zielebene” im Raum, die senkrecht zum Vektor der hyperbolischen Ankunftsgeschwindigkeit steht und im Mittelpunkt des Planeten Venus zentriert ist) ausgerechnet, was sich jeweils für Bahnparameter nach der Venus-Begegnung ergeben würden. Dies ist ein übliches Verfahren bei der Missionsplanung.

Perihel als Funktion der B-Plane parameter fuer den VEX-Transfer zur Venus, Quelle: Michael Khan/ESADie Ergebnisse sind in den beigefügten Diagrammen zu sehen. In der Mitte hat man die Impaktzone. Wenn man beim Anflug auf diese B-Plane-Parameter zielen würde, läge das Perizentrum der Vorbeiflughyperbel zu tief, die Raumsonde (oder in diesem Fall die Oberstufe) würde in die Atmosphäre eintreten und verglühen.

Man sieht im ersten Diagramm, dass eine Bahn mit einer grossen Halbachse von 1 AE, d.h., einer Umlaufperiode von einem Jahr, leicht zu erreichen ist. Die B-Plane-Parameter müssen auf der gepunkteten weißen Linie liegen.

Im zweiten Diagramm ist die erzielte Perihelhöhe nach dem Venus-Vorbeiflug aufgetragen. Ein Wert von knapp 0.7 AE ist ebenfalls problemlos zu erzielen, wie man sieht.

Aphel als Funktion der B-Plane-Parameter beim VEX-Transfer zur Venus, Quelle: Michael Khan/ESANun zum Aphelradius, gezeigt im dritten Diagramm. Die Bahn von 2010 AL30 hat ein Aphel von etwas über 1.3 AE. Auch das kein Problem, wie man an der weißen Linie sieht. Und jetzt kommt’s: Wenn man annimmt, dass der Zielpunkt etwa in der Zone liegt, die in allen Diagrammen durch den kleinen roten Kreis markiert ist,dann erhält man beim Vorbeiflug alle drei gesuchten Parameter: eine Periode von einem Jahr, ein Perihel von knapp unter 0.7 AE und ein Aphel von etwas mehr als 1.3 AE.

Diese markierte Zone ist recht genau der Punkt, den man anvisieren würde, wenn man den Einschuss in die Bahn um Venus über dem Nordpol durchführen will. (Aufgrund der Definition der B-Plane-Parameter ist das in den Diagrammen zwar “unten”, aber an sowas sind Astronomen ja gewöhnt). Bei Venus Express wurde genau dies gemacht. 

Fassen wir also zusammen:

Die numerische Rückwärtsintegration der im Januar 2010 bestimmten Bahn von 2010 AL30 führt zu einer nahen Venusbegegnung im Frühjahr 2006 und einer nahen Erdbegegnung Ende 2005. Dies ist konsistent mit den Zeitpunkten der Venusankunft bzw. des Starts der Sonde Venus Express.

Aus den bekannten Transferparametern von Venus lässt sich leicht ableiten, dass ein Ziel-Ankunftspunkt etwas über dem Nordpol des Planeten dazu führt, dass ein Objekt auf dieser Bahn durch die Schwerkraft von Venus in eine geänderte Bahn um die Sonne gelenkt wird, deren Periode genau 1 Jahr, deren Aphel etwas über 1.3 AE und deren Perihel etwas unter 0.7 AE ist. Dies stimmt genau mit den beobachteten Bahnparametern von 2010 AL30 überein.

Natürlich ist das alles noch kein schlüssiger Beweis. Aber es ist doch mittlerweile eine ziemlich erstaunliche Verkettung von Zufällen. Finden Sie nicht?

Avatar-Foto

Ich bin Luft- und Raumfahrtingenieur und arbeite bei einer Raumfahrtagentur als Missionsanalytiker. Alle in meinen Artikeln geäußerten Meinungen sind aber meine eigenen und geben nicht notwendigerweise die Sichtweise meines Arbeitgebers wieder.

7 Kommentare

  1. Ich bin gespannt, was sich herausstellen wird, um was es sich handelt. Wenn es sich tatsächlich um eine alte Fregat-Oberstufe vom Venus Express handeln sollte, sollte Alan Harris hier einen Gastbeitrag schreiben und es näher erläutern. 😉

  2. Radarmessungen aus Goldstone

    Die NASA-Antennen in Goldstone haben heute (13.4.2010) Radarmessungen des Objekts durchgeführt, die auf eine Rotationsperiode von nur 9 Minuten hinweisen.

    In diesem Fall muss es sich um eine massiven Monolithen handeln.

    In diesem Blog-Artikel steht auch …

    http://www.planetary.org/blog/article/00002304/

    … dass der Durchmesser von 10-15 Metern bestätigt wurde. Falls das zutrifft, handelt es sich um ein natürliches Objekt.

  3. Dr. Harris’ Aussagen ….

    Der Aussage von Dr. Harris ist nur mit Einschränkungen zuzustimmen.

    Wenn sie sich auf die Spekulationen bezieht, die sich um die Bahnperiode von einem Jahr ranken, dann kann man Dr. Harris zustimmen. Dies kann kein Objekt sein, das mit geringer Geschwindigkeit aus einem hohen Erdorbit heraus von der Sonne eingefangen wurde.

    Sollte sich die Aussage aber auf Oberstufen planetarer Missionen allgemein beziehen, dann trifft sie nicht zu.

    Es gibt keinen Grund, warum eine zufällig die Erdbahn kreuzende Oberstufe einer früheren planetaren Mission tangential zur Erdbahn zurückkomen sollte. Zwar ist es richtig, dass beim Start die Erdflucht immer tangential erfolgt, aber man darf auch nicht außer Acht lassen, dass diese Stufe fast zwangsläufig – zumindest dann, wenn die Raumsonde nicht unterwegs noch große Triebwerksmanoever macht und damit ihre Bahn gegenüber der der ausgebrannten Oberstufe ändert – einen sehr nahen Vorbeiflug an dem Zielplaneten machen wird, zu dem die Raumsonde geschickt wurde.

    Ein solcher naher Vorbeiflug an einem Planeten wird jedoch immer zu massiven Aenderungen der Bahn führen. Deswegen ist es nachgerade unmoeglich, dass das Ding ungerührt auf derselben Bahn wie der, in die es gestartet wurde, später wieder an der Erde ankommt.

    Falls überhaupt eine Erdbegegnung erfolgt – und das muss beileibe nicht der Fall sein – dann kann diese nur auf einer gewaltig veränderten Bahn erfolgen.

    Meine Berechnungen sind keine Zauberei und ich habe mir da auch nichts aus den Fingern gesogen. Ich wende einfach nur Hinmmelsmechanik an, und was herauskommt, ist, dass es zumindest moeglich ist, dass dieses Objekt die Oberstufe vom VEX-Start ist.

    Vielleicht stellt sich nachher heraus, dass dies nicht der Fall ist, aufgrund von Radar- und spektroskopischen Beobachtungen. Das wäre aussagekräftig.

    Aus rein bahnmechanischen Betrachtungen heraus kann man solche Aussagen jedoch nicht treffen.

  4. Hm, obwohl sich die Hinweise verdichteten ist es wohl doch keine Oberstufe. Dennoch ist es interessant für mich, wie vorher Annahmen getroffen wurden und was dann am Ende bei herauskommt.

  5. Link zu der Aussage von Dr. Harris

    Die Aussage von Dr. Alan Harris zum Thema habe ich inzwischen aus dem Text geloescht, da sie nur verwirrt hätte. Das Zitat bezog sich auf folgendes Posting in der Minor Planet Mailing List:

    http://tech.groups.yahoo.com/…mpml/message/22761

    Zitat:

    > Unlikely to be artificial, its orbit
    > doesn’t resemble any useful
    > spacecraft trajectory, and its
    > encounter velocity with the Earth is
    > not unusually low, around 9.5
    > km/sec “v_infinity”.

    Wie gesagt, aus dem Aussehen dieser spezifischen Bahn kann man nur bedingt Rückschlüsse auf die ursprüngliche Bahn ziehen. Nach einem nahen planeteren Vorbeiflug wird sich die Bahn zwangsläufig massiv ändern, und ein naher Vorbeiflug ist bei einer Mission zu einem Planeten sozusagen unvermeidlich.

    Ich bin zwar auch der Meinung, dass wir es hier hoher Wahrscheinlichkeit mit einem natürlichen Objekt zu tun haben.

    Ich mag es aber grundsätzlich nicht, wenn von wem auch immer voreilig Schlüsse gezogen werden, die der tatsächlichen Datenlage nicht in ausreichendem Maße Rechnung tragen (wobei mir selbst genau das auch oft genug passiert).

Schreibe einen Kommentar