Konferenz-Nachlese: Das Problem Weltraumschrott

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Raumfahrt aus der Froschperspektive
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Diese Woche fand beim ESOC in Darmstadt eine internationale Konferenz zum Thema Weltraumschrott statt. Zwar ist diese Konferenz weitgehend an mir vorbei gerauscht. Ich hatte leider keine Zeit, mir so viele der Fachvorträge anzuhören, wie ich es gewollt hätte.

Von den wenigen Vorträge, die ich mir genehmigte, hat mich einer besonders beeindruckt – oder vielmehr beunruhigt. Die dort genannten Zahlen geben allemal Anlass zur Sorge.

Schnappschuss der Lokationen aller Objekte im Orbbit, Quelle: ESANun bin ich beileibe kein Experte für Weltraumschrott, aber glücklicherweise konnte ich einen solchen befragen – Benjamin Bastida Virgili, ein junger Katalane und Autor des beunruhigenden Vortrags.

Die per Radar vermessene Population an Objekten im Orbit ist in einer großen Datenbank katalogisiert, zumindest die Objekte einer Größe von mehr als 10 cm Durchmesser, denn diese werden vom Radar erfasst. Die kleineren Objekte sind viel zahlreicher und nicht unbedingt weniger gefährlich, können aber nicht direkt beobachtet und gezählt werden.

Aus den beobachteten Positionen der Objekte lassen sich deren Bahnelemente ermitteln und teilweise auch identifizieren – man weiß, dass dieses Objekt der aktive Satellit X ist, jenes der seit Y Jahren inaktive Satellit Z, dies hier die ausgebrannte Oberstufe A, jene 212 dagegen Überreste der Explosion von Oberstufe B, und so weiter, viele Objekte sind auch nicht eindeutig zuordenbar, es befinden sich darunter auch so unangenehme Dinge wie ausgetretenes metallisches Kühlmittel aus Kernreaktoren, mit denen noch vor wenigen Jahren sowjetische Radarsatelliten mit Strom versorgt wurden.

Die Sache mit der Explosion ist eine wenig bekannte aber dennoch sehr wesentliche Quelle neuer Trümmer – viele der verwendeten Treibstoffe sind hypergol, wenn Brennstoff und Oxidator zusammenfinden, entzünden sie sich spontan. Zwar sind sie genau aus diesem Grund in getrennten Tanks an Bord einer Raketen-Oberstufe oder eines Satelliten gelagert. Tanks und Rohre schlagen jedoch irgendwann einmal leck.

Wird ein ausgedientes Raumfahrzeug von der Sonne beschienen, erwärmt sich die sonnenzugewandte Seite und dehnt sich aus, im Erdschatten jedoch wird es schlagartig sehr kalt: alles zieht sich wieder zusammen, Lebensdauer als Funktion der Bahnhoeheund so weiter im anderthalbstündigen Turnus – bis am Schluss unvermeidlich etwas reißt, eine Tankwand etwa, Rohre oder Batterien, oder vielleicht noch eine Kollision mit einem anderen Trümmerteilchen nachhilft und zusammenfindet, was zusammengehört – Ergebnis ist eine Fragmentation, eine Explosion mit Freisetzung vieler weiterer Trümmer, die insgesamt über 60% der bekannten Objekte über 10 cm Größe ausmachen.

Selbst in Hunderten von Kilometern Höhe haben wir kein komplettes Vakuum, sondern immer noch die dünne Hochatmosphäre, in der alle dort fliegenden Objekte durch Reibung Energie abgeben und schließlich so tief sind, dass sie verglühen oder abstürzen. Wie lange ein Objekt im Orbit verbleibt, hängt von verschiedenen Faktoren ab: dem Verhältnis von Masse zu Querschnittsfläche und vor allem der Bahnhöhe, denn die Luftdichte nimmt exponentiell mit der Höhe ab. Es kommen also neue Objekte Wiedereintritt eines großen Objekts, Quelle: Paul Maleyhinzu, aber andere verschwinden auch wieder mit der Zeit. Nur – schon in den wissenschaftlich wichtigen Bahnhöhen von 700 – 900 km bemisst sich diese Zeit in Jahrhunderten.

Benjamin hat aus der beobachteten Entwicklung der Trümmerpopulation und Simulationen von Fragmentationsereignissen eine Extrapolation für das niedrige Erdorbit (bis ca. 2000 km Bahnhöhe) über die nächsten 200 Jahre vorgenommen, inverschiedenen Szenarien:

  1. Wir machen weiter wie bisher: Satelliten und Oberstufen werden gestartet und einfach im Orbit belassen, weitgehend ohne Maßnahmen zum Deorbit, zur Passivierung und zum Entleeren der Tanks und ohne darauf zu achten, dass schon einmal so wenige Einzelteile wie nur irgend möglich freigesetzt werden. Das beschreibt recht genau das Verhalten eigentlich aller Raumfahrttreibenden bis noch vor sehr kurzem. In diesem Fall steigt die Zahl der Trümmer an, und zwar beschleunigt. Zu den Fragmentationen gesellen sich auch noch viele weitere Kollisionen wie die, die sich im März ereignete. Benjamins Berechnungen zeigen, dass sich die Zahl der messbaren Objekte über 10 cm Größe nach 200 Jahren schon der Million nähern würde! Mit verheerenden Folgen für die Raumfahrt, die wir dann aber mindestens so dringend brauchen werden wie heute, denn Probleme wie der Klimawandel, die wir ohne die Daten von Erdbeobachtungssatelliten nicht in den Griff bekommen werden.
  2. Wir betreiben weiter Raumfahrt, achten aber genau darauf, Oberstufen möglichst sofort zurückzuholen und Satellitenbahnen nach deren Außerdienststellung abzusenken, sodass sie schneller eintreten, nach spätestens 25 Jahren, und zusätzlich auch deren Tanks zu leeren und gefährliche Komponenten wie Batterien zu passivieren, damit es nicht zu einer Fragmentation kommen kann. Problem gelöst? Nein – allerdings wird die Zunahme der Trümmer deutlich gebremst, auf etwa 60000 nach 200 Jahren. Denn die jetzt schon im Orbit befindlichen Trümmer treiben natürlich weiter ihr Unwesen, es wird weiter Fragmentationen geben und natürlich auch Kollisionen.
  3. Jetzt kommt eine Zahl, die mich deprimierte. Wenn wir jegliche Raumfahrt einstellen und somit kein weiteres Objekt mehr ins Orbit gestartet wird, dann wird die Zahl der Objekte die nächsten 200 Jahre immer noch weiter zunehmen, wenn auch relativ langsam. Das muss man sich einmal vorstellen – wir verzichten auf die in der modernen Welt eigentlich unverzichtbare Ressource Raumfahrt und lösen damit das Müllproblem noch nicht einmal.
  4. Ein Satellit dockt an einen anderen an, Quelle: SENERDas folgende Szenario wirkte der aufkeimenden Depression gleich wieder entgegen: Benjamin konnte zeigen, dass es mit Maßnahmen zur aktiven Beseitigung potenziell gefährlicher Objekte gelingt, der Trümmerpopulation Herr zu werden, allerdings nur dann, wenn man gleichzeitig auch wie in Szenario 2 Maßnahmen unternimmt, damit zumindest keine neuen langlebigen Objekte hinzukommen. Die Beseitigung bezieht sich nicht auf Bruchstücke: Wie man die wegbekommt, weiß – sollte das von Stephan Fichtner beschriebene Verfahren wider Erwarten nicht wirken – niemand. Aber noch intakte ausgediente Oberstufen und Satelliten kann man sehr wohl beseitigen, das ist nur ein technisches Problem und auch ein finanzielles: Man muss beispielsweise Satelliten entwickeln, die sich an ein Objekt heranpirschen, andocken (beispielsweise an der Triebwerksdüse), die Lage des Gespanns stabilisieren und dann ihr Triebwerk zünden und den kontrollierten Absturz einleiten.

Benjamins Berechnungen beruhten auf den Statistiken für die Trümmerpopulation bis 2006. Nun ist das mit Vorhersagen ja bekanntlich grundsätzlich schwierig, besonders mit solchen, die die Zukunft betreffen. Damals gab es etwa 12000 bekannte Trümmer über 10 cm. Der Effekt des mutwilligen Zerstörungsakts beim chinesischen ASAT-Test von 2007 und der Kollision dieses Jahres ist noch gar nicht eingerechnet: heute sind wir schon bei 18000 Objekten über 10 cm.

Die Maßnahmen zur Vermeidung neu hinzukommender Trümmer sind technisch einfach, sie kosten allenfalls ein wenig Geld, aber sicher weniger als eine exponentiell wachsende Zahl neuer Kollisionen.

Die Maßnahmen zur aktiven Entfernung ausgedienter Objekte sind weniger einfach und kosten auch mehr Geld, doch auch hier gilt immer noch, dass Nichtstun sicher teurer kommt.

Eine gewisse Anzahl von Kollisionen wird es auch in Zukunft geben, prognistiziert wird ein gutes Dutzend in den kommenden 200 Jahren. Dabei wird es auch wieder aktive Satelliten erwischen. Je effektiver die aktive Entfernung ist, desto weniger Kollisionen – wobei allerdings, wie gesagt, das Restrisiko durch die bereits vorhandenen Trümmer noch auf lange Zeit bestehen bleiben wird.

Nachtrag: Die Konsequenz dieses Vortrags ist auch als Hauptergebnis der Gesamtkonferenz präsentiert worden. Ich zitiere aus der Pressemitteilung zum Konferenzabschluss:

However, it is common understanding that mitigation alone cannot maintain a safe and stable debris environment in the long-term future. Active space debris remediation measures will need to be devised and implemented. This is the main message from this conference.

Sobald die Veröffentlichung von Benjamin Bastida Virgili und Holger Krag online verfügbar ist, werde ich von hier einen Link darauf  erstellen.

Ferner verweise ich auf die Artikel des Mitbloggers Florian Freistetter im Blog Astrodicticum Simplex, der sich die Herkulesarbeit aufgeladen hatte, quasi in Echtzeit vom Fortgang der Konferenz zu berichten:

Mysteriöser Müll

Wenn der Weltraumschrott an die Leine genommen wird …

Die schwierige Suche nach dem Weltraumschrott

Weltraumschrott in Darmstadt

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Ich bin Luft- und Raumfahrtingenieur und arbeite bei einer Raumfahrtagentur als Missionsanalytiker. Alle in meinen Artikeln geäußerten Meinungen sind aber meine eigenen und geben nicht notwendigerweise die Sichtweise meines Arbeitgebers wieder.

2 Kommentare

  1. Müllproblem

    Sehr interessanter Artikel, vor allem Punkt 3 ist natürlich erschreckend, wobei es ja im Grunde naheliegend, dass die Zahl der Trümmerteile von alleine weiter zunehmen wird. Aber manchmal muss es halt einfach mal jemand sagen.
    Es da doch sicherlich auch finanzielle Abschätzungen, in denen die Müllbeseitigung gegen das Risiko weiterer Weltraummissionen bemessen wird, oder ?
    Wie intensiv wird denn an der Beseitigung geforscht, sprich, wieviele Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit dieser Problematik?

  2. Antwort an Alf Köhn

    Es ist in der Tat so, dass die Fragmentationsereignisse allein – d.h., das strukturelle Versagen aufgrund von Materialermüdung, gefolgt von einer Explosion des austretenden Treibstoffs – eine wesentliche Quelle für weiteren Weltraumschrott sind, selbst wenn nichts mehr hinzukommt. Pro Jahr treten 4-5 solcher Ereignisse auf; bei jedem einzelnen werden mehrere Hundert Trümmer um 10 cm Größe und mehrere Tausend um 1 cm Größe produziert – guter Grund, an dieser Stelle anzusetzen und Oberstufen oder alte Satelliten herunterzuholen, bevor sie fragmentieren können.

    Die Kostenabschätzung der Gegenmaßnahmen ist schwierig.

    Alle Maßnahmen zur Verhinderung weiteren Mülls sind wenig kostenträchtig. Wenn Raketenstufen auf eine Eintrittsbahn geschickt werden, kostet das zwar etwas Treibstoff, reduziert also die Nutzlastkapazität etwas. Aber die Nutzlastkapazität wird doch ohnehin selten komplett ausgeschöpft, und in den tanks fur das Lageregelungssystem ist immer noch etwas Treibstoff vorhanden, den man hierfür nutzen kann. Schließlich ist die nackte Oberstufe ohne die Nutzlast in der Regel keine große Masse.

    Satelliten sollte man gegen Ende ihrer Lebensdauer von typischerweise 800-900 km auf eine leicht elliptische Bahn schicken, die am erdnächsten Punkt weniger als 600 km hoch ist. Damit wird die Lebensdauer zuverlässig auf unter 25 Jahre reduziert. Man kann den (dann zumeist alten) Satelliten noch eine Zeitlang weiter auf dieser Bahn betreiben, am Ende muss man die Tanks leeren und die Batterien sichern, dann ist Schluss. Was man verliert, ist vielleicht ein wenig wissenschaftliche Lebensdauer, aber wie wird die beziffert?

    Andere Maßnahmen bestehen darin, dass man Dinge, die man aus Bequemlichkeit gemacht hat, einfach bleiben lässt – gewisse Materialen nicht mehr verwenden, keine absprengbaren Abdeckklappen, keine Kernreaktoren im Orbit, keine Antisatellitenwaffentests. Solche Dinge nicht zu tun kostet gar nichts, bringt aber sehr viel.

    Ohne Vermeidung weiteren Mülls bringt das aktive De-Orbit inaktiver Oberstufen und Satelliten nichts, so wie es auch nichts nützt, einen Lungenpatienten medizinisch zu behandeln, wenn der weiter qualmt wie ein Schlot.
    Andererseits reicht die Vermeidung weiteren Schrotts nicht, wenn jährlich 4-5 der bereits im Orbit befindlichen Stufen und Satelliten fragmentieren.

    Für das Herunterbringen solcher Objekte gibt es verschiedene Vorschläge, die sich in Komplexität und kosten stark unterscheiden dürften. Man kann an richtig große Raumschiffe denken, die viele alte Oberstufen ansteuern und jedesmal etwas unternehmen, damit diese Stufen kontrolliert abstürzen oder zumindest auf niedrigere Bahnen verbracht werden. Das ist eine sehr komplexe Aufgabe mit vielen Einzelaspekten, zu denen es jeweils Studien, Ideen, Konzepte, manchmal sogar etwas Hardware geben mag.

    Ich persönlich favorisiere dagegen einen viel einfacheren Ansatz. Man sollte sich geeignete Kandidaten für ein De-Orbit ausgucken und kleine, relativ simple und vor allem in großer Stückzahl produzierte Satelliten bauen, die nach dem Start ein Rendezvous an ihr Zielobjekt durchführen, dort andocken, indem sich sich im Triebwerksauslass des Zielobjekts einklinken – Schon gut, Leute, das gibt Anlass zu jeder Menge anzüglicher Bemerkungen, ich weiß! – die Lage wie gewünscht ausrichten, den richtigen Moment abpassen und dann ihr Bordtriebwerk zünden, so dass beide (Zielobjekt und Killersatellit) kontrolliert in den Pazifik stürzen.

    Das sollte technisch durchaus schon mit heutigen Mitteln zu machen sein. Die Kosten ergeben sich aus den Startkosten (zukünftige kleine Systeme wie die Falcon 1 sollten im einstelligen Millionenbereich liegen), dem Bau der Stalliten (hohe Stückzahlen reduzieren hier die Einzelkosten) und den Kosten für die Kontrolle (da aber zwischen Start und Absturz typischerweise nur ein paar Tage liegen sollten, ist das nicht so dramatisch.

    Problematisch ist so etwas eher in politischer Hinsicht. Wenn eine Nation über ein System verfügt, das imstande ist, andere Satelliten auch gegen deren Willen zum Absturz zu bringen, könnte das so manchen Argwohn erregen. Deswegen sollte die orbitale Müllabfuhr in die Hände einer supranationalen, zivilen Organisation unter Kontrolle der UN gelegt werden, die aber noch zu schaffen wáre.

    Ich meine, man würde sehr schnell sehen, dass das kein großes Problem und sogar sehr effektiv wäre … so wie man sich ja immer gegen alle Neue stemmt, und hinterher feststellt, dass das gar nicht so wild war und man es schon längst hätte einführen können.

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