Das Migränegehirn im Wandel

Das Migränegehirn im Wandel zwischen Biologie und Lebensstil: Mädchen zeigen gegenüber Jungs Unterschiede und wenn zu Beginn des mittleren Erwachsenenalters Neuerkrankungen steigen, scheinen auch Frauen stärker betroffen zu sein.

Bei Kindern ist Migräne seltener als bei Erwachsenen. Eine ältere Studie schätzt, dass die Krankheitshäufigkeit sich beinahe vervierfacht, von ca. 1,4% bei 7-jährigen Kindern auf ungefähr 5,3% zur Mitte der Pupertät [1]. Mädchen und Jungen sind da noch gleich oft betroffen. In der zweiten Hälfte der Pubertät und mit Beginn des Erwachsenenalters steigt bei jungen Frauen die Häufigkeit weiter deutlich an. Bei Jungen bleibt sie etwa konstant oder steigt nur noch moderat. Man schätzt etwa 5% bis 8% der erwachsenen Männer und ca. 12% bis 18% der erwachsenen Frauen haben mit Migräne zu tun. Also etwa doppelt so viel Frauen wie Männer sind betroffen.

Zwei neue Migräne-Studien: Biologie und Lebensstil bei Kindern

Das legt einen Schluss nahe: Während der Entwicklung beeinflussen hormonelle Veränderungen das Gehirn und begünstigen eine Migräneerkrankung. Wie genau? Über veränderte Gehirnstrukturen bei Kindern mit Migräne war lange fast nichts bekannt. Nun zeigt eine neue Kernspintomographie-Studie die Veränderungen [2]. Darüberhinaus weiß man, dass im Erwachsenenalter das Migränegehirn veränderte Strukturen aufweist und dass diese wahrscheinlich durch Stress bewirkt wurden.

Zwei Lebensphasen scheinen das Migränegehirn besonders zu beeinflussen, zunächst die Pubertät und einiges später nochmal eine Lebensphase zu Beginn des mittleren Erwachsenenalters. Diese scheint weniger wie jene eine biologisch bestimmte Lebensphase zu sein, als eine vom Lebensstil geprägte. Doch auch bei Jugendlichen spielt zunehmend der Lebensstil eine Rolle. Eine weitere, aktuelle Studie beschäftigt sich damit [3].

Biologische Unterschiede bei Mädchen gegenüber Jungs

Letzten Montag wurde eine neue klinische Studie veröffentlicht. Sie vergleicht 14 Mädchen und 14 Jungen untereinander sowie mit jeweils gleichaltrigen Kindern ohne Migräne. Mittels Magnetresonanztomographie –auch Kernspintomographie genannt – wurden Unterschiede in der Hirnstruktur und Hirnfunktion gesucht [2]. Wie unterscheiden sich 10- bis 11-jährige Mädchen gegenüber den Jungen, was ändert sich später bei den 14- bis 16-jährigen?

Die Entwicklungsstadien zwischen den Geschlechtern wie auch im Vergleich zu gesunden Kontrollgruppen zeigen, dass Mädchen mit Migräne mehr graue Substanz in gewissen Gehirnregionen haben. Dazu zählen einige sensorisch spezialisierte Felder der Großhirnrinde sowie auch tieferliegende Teile des Gehirns, die zusammen ein Netzwerk bilden, das man als Schmerzmatrix bezeichnet. Die graue Substanz in der Schmerzmatrix ändert sich dann bei Mädchen nochmal in der zweiten Hälfte der Pubertät.

Diese Studie ist weltweit die erste, die Unterschiede in der Entwicklung zentraler Hirnregionen bei Kindern mit Migräne direkt mit Bildgebungsverfahren nachweist. Solche Entwicklungsunterschiede geben einen ersten Einblick in die neuronalen Mechanismen der Migräne. Die Autoren nehmen an, dass hormonelle Veränderungen ungünstig auf die Regionen und Verschaltungen der Schmerzmatrix Einfluss nehmen. Ohne zu wissen, wie genau es vorgeht, spekuliert man, dass die genetisch vorbestimmte Wahrscheinlichkeit, an Migräne zu erkranken, sich durch hormonelle Einflüsse nochmal weiter erhöht. Das klingt plausibel, da die Genetik bei Migräne nicht alles erklärt und genetische Risikofaktoren ihre Träger nur prädisponiert für eine Migräneerkrankung – abgesehen davon, dass man schon vor 1000 Jahren annahm, dass die Lebensrhythmik auf Migräne einwirkt, mehr dazu später.

Neuer Lebensstil bei Kindern und Jugendlichen

Eine andere, auch sehr aktuelle Untersuchung vom Mai diesen Jahres stellt fest, dass die Häufigkeit der Migräne im Kindesalter und bei Jugendlichen in den letzten 30 Jahren nochmal zugenommen hat [3]. Die Autoren vermuten nicht allein bessere Erfassungsmethoden, sondern glauben an Veränderungen des Lebensstils in den letzten 30 Jahren in dieser Altersgruppe. Wenn dem so ist, wäre das ein bedeutendes Ergebnis.

Mehrere Bedingungen wurden als neue Risikofaktoren für Migräne im Kindesalter identifiziert. Zu diesen zählen die Wissenschaftler konfliktreiche Familienverhältnisse, der regelmäßige Konsum von Alkohol und Koffein, geringe körperliche Aktivität, physischer oder emotionaler Missbrauch, Mobbing von Gleichaltrigen, unfaire Behandlung in der Schule und unzureichende Freizeit. Beklagt wird, dass nur wenige Studien über den Zusammenhang zwischen Migräne und Lebensstil in der Kindheit existieren.

Allgemein ist bekannt, dass langanhaltender Stress auch zu hormonellen Störungen führen kann und solch negativer Stress ist ebenfalls ein Risikofaktor für Migräne. Dies ist jedoch bisher besser im Erwachsenenalter untersucht.

Zu Beginn des mittleren Erwachsenenalters

Obwohl über 80% der Menschen mit Migräne schon vor ihrem 30. Lebensjahr erstmals erkranken, liegt die höchste Anzahl der Neu- oder Wiedererkrankungen zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr, wie die WHO feststellt [4]. In dieser Lebensphase sind Frauen wahrscheinlich noch einmal häufiger betroffen als Männer und das Verhältnis kann von zweimal auf dreimal mehr Frauen ansteigen. Wenn eine Migräneerkrankung schon im Kindesalter vorlag, doch wieder aussetzte, scheinen Frauen eine größere Rückfallrate als Männer zu haben [1].

Fasst man diese Erkenntnisse zusammen, ergibt sich folgendes Bild. Veränderungen in bestimmten Gehirnschaltungen begünstigen die Migräne. Unter anderem können genetische Faktoren solche Veränderungen mit sich bringen. So erkrankt schon im Kindesalter ein signifikanter Teil und selbst Kleinkinder und Babies können unter Migräne leiden – sie offenbart sich so früh in zyklischem Erbrechen oder Dreimonatskoliken [5]. Genetische Faktoren sind aber nicht allein verantwortlich.

Durch die Pubertät und vor allem zu deren Ende hin nimmt nun vor allem bei Mädchen die Zahl der Neuerkrankungen noch einmal zu, da die hormonellen Veränderungen gerade die schon genetisch vorbestimmten Gehirnschaltungen nochmal für Migräne anfälliger machen. Ob eine genetische Veranlagung überhaupt zwingend notwendig ist oder ob unter Umständen auch allein hormonelle und andere Veränderungen eine Migränerkrankung auslösen können, ist bisher ungeklärt. Nach der Pubertät steigt die Krankheitshäufigkeit eher moderat. Erst zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr steigt sie noch einmal etwas deutlicher. Was passiert in dieser letzten Phase?

Was Hildegard von Bingen schon wußte

Migräne wird, wie so viele andere Volkskrankheiten auch, durch einen geänderten Lebensstil beeinflusst. Allerdings ist nachgewiesen, dass die Erkrankung weitgehend unabhängig vom sozialen und ethnischen Hintergrund ist. Somit scheiden gewisse Faktoren aus, beispielsweise Beruf, Einkommen, Bildung und andere soziale Faktoren sowie der kulturelle Hintergrund.

Bisher ist nicht bekannt, welche Faktoren, die man zu den vom Lebensstile geprägten dazuzählt, die aber gleichzeitig nicht vom sozialen Hintergrund abhängen, eine Migräne begünstigen. Sowohl Stress als auch geringe körperliche Aktivität, keine Mäßigung bei Genussmitteln und  Reizüberflutung spielen sicher eine Rolle. Eine Vielzahl von weiteren Gewohnheiten, Ritualen und Routinen kann man sich denken. Wahrscheinlich können individuell sehr verschiedene jeweils in Kombination zutreffen. Einige Forschungsergebnisse weisen beispielsweise darauf hin, dass Schlafgewohnheiten etwas mit der Migränehäufigkeit zu tun haben. Daher wird auch angenommen, dass sich eine Migräne mit geänderten Schlafgewohnheiten vorbeugen lässt. Ebenso würde dies auf andere Änderungen zutreffen, so dass allgemein ein stärkeres Gesundheitsbewusstsein günstig das Migränegehirn beeinflussen kann.

Hildegard von Bingen (1098 – 1179), vielleicht die bekannteste Migränkerin und Verfasserin bedeutender Natur-und heilkundlicher Schriften des Mittelalters, entwickelte eine Gesundheitslehre, die die „Anpassung der Lebensrhythmik an den Jahreslauf der Natur“ vorsah. Für sie war „die menschliche Existenz unentwegt in Natur- und Umweltphänomene eingebunden“ und „[e]in Alter ohne Mühe und ohne Änderung des Lebensstils [wäre] für Hildegard […] zweifellos eine absurde Vorstellung gewesen“ [zitiert nach 6].

Viele Faktoren können auf das Migränegehirn einwirken, negativ wie auch positiv. Dies gilt es besser zu verstehen und insbesondere den Unterschied zwischen Frauen und Männern weiter zu untersuchen.

 

Literatur

[1] Bille, B. O. (1981). Migraine in childhood and its prognosis. Cephalalgia, 1(2), 71-75.

[2] Faria, V., Erpelding, N., Lebel, A., Johnson, A., Wolff, R., Fair, D., … & Borsook, D. (2015). The Migraine Brain in Transition: Girls versus Boys. PAIN.

[3] Casucci, G., Villani, V., d’Onofrio, F., & Russo, A. (2015). Migraine and lifestyle in childhood. Neurological Sciences, 36(1), 97-100.

[4] WHO, Headache disorders, Fact sheet N°277, October 2012

[5] Romanello, S., Spiri, D., Marcuzzi, E., Zanin, A., Boizeau, P., Riviere, S., … & Titomanlio, L. (2013). Association between childhood migraine and history of infantile colic. JAMA, 309(15), 1607-1612. (open access)

[6] Klaus Bergdolt, Schuld und Sühne? Die Tradition der Eigenverantwortung für die Gesundheit. In: Volkskrankheiten Gesundheitliche Herausforderungen in der Wohlstandsgesellschaft, Freiburg, 2009 ISBN: 978-3-451-30285-5.

 

Bildquelle

Whitehead-link-alternative-sexuality-symbol” by AnonMoos – Wikipedia

Avatar-Foto

Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

7 Kommentare

  1. Pingback:Schlaganfall, Dual-Neuromodulation und ein großen Aneurysma › Graue Substanz › SciLogs - Wissenschaftsblogs

  2. Kann es sein, dass die Einnahme der Antibabypille Diane 35 Migräne beeinflusst? Freundinnen v mir die diese Pille auch genommen haben berichten davon nach der Einnahme der Pille. Dieses Medikament nehme ich nun schon lange nicht mehr aber denkbar wäre es doch, oder?

    • Ich kenne dieses Kontrazeptiva nicht weiter. Aber 7% der Migränikerinnen leiden an menstrueller Migräne und viele mehr an menstruationsassoziierter Migräne. Solche zyklusabhängigen Migräneanfällen legen eine Verbindung nahe und man macht den prämenstruell abfallenden Östradiolspiegel verantwortlich.

      Es gibt auch besondere Risiken für das Entstehen spätere Erkrankungen (z.B. Schlaganfall bei Frauen, die Rauchen und östrogenhaltige Kontrazeptiva einnehmen). Nachzulesen hier (es herrscht nicht wirklich Einigkeit …).

  3. “…Häufigkeit der Migräne im Kindesalter und bei Jugendlichen in den letzten 30 Jahren nochmal zugenommen hat.”

    macht für mich mehr als deutlich, dass ein wesentlicher Zusammenhang mit der Ernährung besteht. Genauso wie bei anderen Erkrankungen.

    Übrigens hab ich persönlich unter der Einnahme einer östrogenhaltigen Pille mit Mitte 20 auch zum ersten Mal migräneartige Kopfschmerzen bekommen, mit Erbrechen u.a.. Der Körper ist halt unter der Einnahme “scheinschwanger”, was soll man da erwarten. Was für mich aber auch mehr als deutlich macht, dass die Dauereinnahme alles andere als gut sein kann. Schwangerschaft sollte für den Körper der Ausnahmezustand bleiben, nur dann kann man sicher sein, dass der Stoffwechsel normal abläuft.

  4. “Die Entwicklungsstadien zwischen den Geschlechtern wie auch im Vergleich zu gesunden Kontrollgruppen zeigen, dass Mädchen mit Migräne mehr graue Substanz in gewissen Gehirnregionen haben.” Es ist eigentlich nicht misszuverstehen, aber trotzdem: Bei den Jungs wurde nichts gefunden? Wie seltsam, oder?

    Könntest Du ein Männerhirn von einem Frauenhirn unterscheiden, würden beide vor Dir liegen und Du könntest damit machen was Du wolltest?

    • Ich muss die Details zu den Veränderungen im Jungengehirn noch nachlesen. Deine Fragen ist völlig berechtigt, es ist etwas unklar, ob die Veränderungen nur nicht signifikant waren. Die Zusammenfassung gibt nicht mehr her.

      Ich könnte kein Männerhirn von einem Frauenhirn unterscheiden, aber das sagt jetzt nur etwas über mich und nicht über Männerhirne und Frauenhirne. Ich frage mal nach.

Schreibe einen Kommentar