Diese Woche: neuer pharmazeutischer Wirkstoff, elektrische Stimulatoren und Facebook empfiehlt OPs gegen Migräne

Hoffnung in der Migränetherapie gibt eine neue Wirkstoffgruppe sowie Neurostimulatoren. Außerdem werden operative Verfahren angepriesen, die unter anderem mit Hilfe von Facebook evaluiert werden. Fünf aktuelle Publikationen diese Woche. Was ist seriös?

Wer eine Immobilie kauft, hört immer wieder die drei wichtigsten Kriterien: Lage, Lage und die Lage. Ähnlich einseitig könnten für einen Migräne-Blog bei der Themenauswahl die drei wichtigsten Kriterien lauten: Behandlung, Behandlung und die Behandlung. Der Streifzug durch die neusten wissenschaftlichen Veröffentlichungen dieser Woche birgt auch wirklich dreimal das Thema Behandlung.

Vorab: Die Behandlung der Migräne steht allerdings fast nie an erster Stelle in diesem Blog. Das hat einen guten Grund.

Migränebehandlung vs Migräneforschung in sozialen Medien

Die Migräneforschung macht grundlegende Fortschritte. Insbesondere in den letzten 15 Jahren hat sich viel verändert. So gilt Migräne mittlerweile als neurovaskulärer Kopfschmerz und nicht mehr als rein vaskulärer oder neuropathischer Kopfschmerz. Diese Grundlagenforschung betrifft meine Forschung über neurotechnologische Verfahren und mobile Anwendungen unmittelbar und ich halte es schon allein für wertvoll, darüber zu bereichten.

Es ist auch nicht so, dass die daraus abgeleiteten Behandlungsformen weit von meiner Forschung entfernt liegen. Doch muss dieses Thema letztlich immer individuell mit einem Arzt besprochen werden. Das Blog soll keinesfalls den Eindruckt erzeugen, eine ärztliche Empfehlung oder gar den Besuch an sich ersetzen zu können.

Selbst wenn man sich nun einem strengen Verhaltenskodex unterzieht, wie es für gesundheitsbezogene Informationen im Internet vorgesehen ist, kann man kaum verhindern, dass Behandlungen in einer nicht angemessenen Form diskutiert werden. Erst Anfang März habe ich eine wissenschaftliche Publikation begutachtet, die erste Einblicke in das öffentliche Verständnis (bzw. Missverständnis) der Neurotechnologien gibt. Untersucht wurden Kommentare im Internet zu Beiträgen über das sog. Neuro-Enhancement durch neurotechnologische Verfahren. Auch aktuell schaut eine wissenschaftliche Publikation, ob in Facebook – ja Facebook – die chirurgische Migränetherapie empfohlen wird. Was mir einmal mehr zeigt, dass gesundheitsbezogenen Informationen im Internet extrem fehlgeleitet sein können.

Neue Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne

Ein Übersichtsartikel fasst zunächst neue Ansätze in der Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne zusammen [1]. Welche neuen Medikamente stehen am Horizont? Welche nicht-medikamentösen Therapien machen Hoffnung? Seit der Entwicklung der Triptane, die akute Migräneattacken gezielt unterbrechen können, ist kein wesentlicher Fortschritt mehr in dieser Richtung gemacht worden. Und das ist 20 Jahre her.

In dem Übersichtsartikel wird nun darauf verwiesen, dass bisherige Ansätze oft nicht erfolgreich waren, z.B. Schmerzkanäle anzuvisieren, mit dem Gehirnzellen Schmerz signalisieren. Das war schon Thema hier im Blog. Die meisten Hoffnungen werden nun auf humanisierte monoklonale Antikörper gelegt, die auch schon Anfang August hier im Blog angeführt wurden. Humanisierten monoklonale Antikörper gelten als Wunderwaffe, die zielgenau und nebenwirkungsarm angreifen.

Neurotechnologischen Verfahren

Genannt werden in dem Übersichtsartikel auch die neurotechnologischen Verfahren. Es gibt verschiedene nicht-invasive und invasive Ansätze der Neuromodulation. Neuromodulation ist eine Therapieform, die gezielt krankhafte Aktivität des Nervensystems korrigiert indem Neurostimulatoren elektrische Ströme und magnetischer Felder (letztere erzeugen wiederum im Nervengewebe elektrische Ströme) nutzen.  Elektrische Ströme können die Aktivität im Nervensystem abwandeln – das heißt: modulieren. In der modernen Migränetherapie kommen bisher solche nicht-medikamentösen Verfahren nur in Form der Prophylaxe zur Anwendung. Nun werden Ansätze diskutiert, die akute Kopfschmerzen unterbrechen. Weitere Studien sind erforderlich, um unter den verschiedenen Neurostimulatoren geeignete Kandidaten für diese Therapien zu finden und vor allem optimale Protokolle für ihre Verwendung festzulegen [1].

Stimulation des peripheren Nervensystems

stimulation_PNSEin neuer Sammelband stellt gleich mehrere neue Ansätze der Neuromodulation vor. Zielregionen sind jeweils Nerven des periphere Nervensystem. Es gibt beispielsweise Hinweise darauf, dass das Ganglion Sphenopalatinum (SPG) eine Rolle in der Pathophysiologie der neurovaskulären Kopfschmerzen spielt, wozu auch Migräne gehört.

(In der deutschen medizinischen Nomenklatur wird dieses Ganglion Ganglion pterygopalatinum genannt oder auch Flügelgaumenganglion, ein Hinweis darauf, wo genau es sich befindet. Es liegt im Gaumenbereich, hinter der Nase in einer Höhle des Schädelknochens. Dort, üblicherwiese auf der betroffenen Kopfschmerzseite, wird die Elektrodenspitze eines kleinen, batteriefreien Neurostimulatoren platziert.)

Auf Grundlage der bisher verfügbaren Studien, sehen die Beweise, dass mithilfe der SPG-Stimulation eine therapeutische Wirkung erzielt wird, vor allem für den Cluster-Kopfschmerz überzeugend aus [2]. Der Cluster-Kopfschmerz  ist auch ein neurovaskulären Kopfschmerzen. Für Migräne ist die Lage weniger eindeutig. Ein weiterer Beirag in dem Sammelband schaut auf die Occipitalis-Nervenstimulation zur Behandlung der chronischen Migräne [3].

Migräne-Operation? Was sagt Facebook?

Eine andere, neue Veröffentlichung der letzten Woche stellt eine chirurgische Behandlungsform der Migräne vor und fragt: Was sind die aktuellen Möglichkeiten, die richtigen Orte für den Eingriff zu identifizieren [4]? Gesucht werden Orte, an denen Gesichtsmuskeln, vor allem im Bereich der Augenbraue, auf Nerven drücken. Eine Druckentlastung mittels eines chirurgischen Eingriffs, der diese Muskeln entfernt, könnte Migräne „heilen“, so das Versprechen.

Diese Methode stand schon Anfang 2014 in der Kritik in diesem Blog, weil der Botox-Test vor operativen Eingriff die Placebogruppe selektiert. Eine weitere neue Veröffentlichung bezieht sich nun auf eine Evaluierung dieser Methode über soziale Netzwerke. Demnach würden fast 90% der Facebook-Nutzer, die diese Operation hinter sich hätten, sie empfehlen [5]. Davon ist genau gar nichts zu halten, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass solche Empfehlungen schlicht Fälschungen sind. Eine Methode, die Facebook-Nutzer zu Bestätigung braucht, hat eigentlich schon verloren, auch wenn klinische Studien ebenso mangelhaft sein können.

Das bestätigt mich einmal mehr. Wichtiger noch als öffentlich Berichte über Behandlungformen ist die Vermittlung der Grundlagen der Migräneforschung. Diese sollte einfach und verständlich sein.

Was bedeutet es beispielsweise, wenn ein Botox-Test vor dem operativen Eingriff gemacht wird? Der Test sieht so aus: Nur wer auf eine Botox-Behandlung anspricht, wird für einen operativen Eingriff zugelassen.

Mit diesem Test wird mit viel höherer Wahrscheinlichkeit jemand aus der Placebogruppe ausgewählt, so dass anschließend die Erfolgsquote die übliche Größe des Placebo-Effekt weit überschreiten kann. Wird also damit geworben, dass die Erfolgsquote viel zu hoch sei, um allein mit dem Placebo-Effekt erklärt werden zu können, wäre dies schlicht falsch. (Und wer nun nachdenklich wird: den Placebo-Effekts kann man mit anderen Methoden günstiger bekommen.)

Schon damals schrieb ich:

Auch wenn deswegen nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein chirurgischer Eingriff in einer Untergruppe der Migräne-Patienten Wirkung zeigt, fehlen zu diesem Zeitpunkt solide Daten, so dass ein solcher Eingriff außerhalb von klinischen Studien, die erst diesen Nachweis erst erbringen müssten, nicht empfohlen wird.

Mit Facebook-Kommentaren wird dieser Nachweis ganz sicher nicht erbracht.

 

Fußnote

Andere aktuelle Themen kommen nochmal gesondert, denn letzte Woche gab es keinen Streifzug.

 

Literatur

 

[1] Diener HC, Charles A, Goadsby PJ, Holle D. New therapeutic approaches for the prevention and treatment of migraine. Lancet Neurol. 2015 Oct;14(10):1010-22. doi: 10.1016/S1474-4422(15)00198-2. Review.

[2] Schoenen J. (2015) Sphenopalatine Ganglion Stimulation in Neurovascular Headaches. Prog Neurol Surg. 2015 Sep;29:106-16. doi: 10.1159/000434661. Epub 2015 Sep 4.

[3] Schwedt TJ, Green AL, Dodick DW. Occipital Nerve Stimulation for Migraine: Update from Recent Multicenter Trials. Prog Neurol Surg. 2015 Sep;29:117-26. doi: 10.1159/000434662. Epub 2015 Sep 4.

[4] Guyuron B, Nahabet E, Khansa I, Reed D, Janis JE. (2015) The Current Means for Detection of Migraine Headache Trigger Sites. Plast Reconstr Surg. 2015 Oct;136(4):860-867.

[5] Egan KG, Israel JS, Ghasemzadeh R, Afifi AM. Evaluation of Migraine Surgery Outcomes Through Social Networking Sites. Plast Reconstr Surg. 2015 Oct;136(4S Suppl):

 

 

 

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

4 Kommentare

  1. “Auch aktuell schaut eine wissenschaftliche Publikation, ob in Facebook – ja Facebook – die chirurgische Migränetherapie empfohlen wird. Was mir einmal mehr zeigt, dass gesundheitsbezogenen Informationen im Internet extrem fehlgeleitet sein können.”

    Wen überrascht das? Facebook selbst in seiner Ausprägung ist eine bedauerliche soziologische Fehlleistung, warum sollten gerade da nicht Gehirnresektionen gegen Migäne empfohlen werden? Die kursive Schreibweise wählt wohl nur der, der bisher naiv bis unbedarft genug war, in Facebook und oder Twitter eine Art kommunikativen und also epistemologischen Fortschritts zu sehen.

    • Es geht allein darum, dass eine wissenschaftliche Arbeit bei Facebook nachschaut – und zwar unreflektiert, soweit ich das lesen konnte. Es geht nicht darum, dass in Facebook solche Informationen stehen.

      • Da muß ich aber der Hüfte rechtgeben. Ob nun die “wissenschaftliche Arbeit” bei Facebook selbst “nachschaut”, wie auch immer sie das macht, oder ob Facebook selbst Quelle ist, irgendwann wird das ein und dasselbe sein, wenn die Protagonisten weiterhin und selbst immerzu darauf hinweisen, wie wichtig doch Facebook und Twitter für eine rasche Verbreitung jeder wie auch immer gearteten Hau-Ruck-Erkenntnis in der “nunmehr nur noch sogenannten Wissenschaft” (Schroeder, 2009) ist. Das Kursive müßte hier eher ein Rekursives sein, aber das hieße, Eulen aus Athen umzusiedeln.

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