Gibt es Auslöser der Migräneattacken und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt?

Eine vielgelesenen Studie zeigt: Auslöser und Vorboten der Migräne überdecken sich. Fazit ist nicht unbedingt, dass Symptome irrtümlich für Auslöser gehalten werden, sondern dass Betroffene Auslöser zum richtigen Zeitpunkt meiden können.

Kürzlich habe ich eine klinische Migränestudie vorgestellt. Sie ist mittlerweile viel gelesen worden, wie auf der Homepage der Zeitschrift vermerkt wird. Diese Studie belegt einen systematischen Zusammenhang zwischen Symptomen und Auslösern der Migräneattacken. Genauer: zwischen der Anwesenheit bestimmter Vorboten einer Migräneattacke und den dazu passenden Auslösefaktoren. Die Studie fragt daraufhin, ob Symptome irrtümlich für Auslöser gehalten werden. Drei Beispiele werden explizit genannt:

  1. Lichtempfindlichkeit als Vorbote und passend dazu grelles Licht als Auslöser,
  2. Geruchsempfindlichkeit als Vorbote und penetrante Duftstoffe als Auslöser und schließlich
  3. Lärmempfindlichkeit als Vorbote und exzessiver Lärm als Auslöser.
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Die “highly accessed” Studie kommt zur Ansicht, dass verstärkte Aufmerksamkeit falsch interpretiert zu den häufigsten aber nur vermeintlichen Auslöser der Migräneattacken werden.

 

Conclusion  Our data thus support the view that commonly reported trigger factors of migraine are not so much independent precipitators of migraine pain, but that they are most likely just misinterpreted results of enhanced attention to certain stimuli mediated by typical premonitory symptoms of migraine pain.
[Aus dem Abstract der Studie.]

Alles ein Irrtum – es waren nicht Auslöser sondern Vorbotensymptome?

Im letzen Beitrag habe ich die Studie zunächst innerhalb meiner eigenen Forschung eingeordnet. Nun will ich genauer darauf geschauen, was sie in meinen Augen für Betroffene bedeutet. Welche Schlussfolgerung sollen sie daraus ziehen?

Werden Symptome wirklich fälschlich als Auslöser interpretiert? Alles bloß eine Verwechslung und es gibt gar keine Auslöser? Heißt das, das Licht war nicht grell, der Duft roch nicht penetrant und die Geräusche waren keinesfalls exzessiv laut? Für Außenstehende vielleicht, doch um die geht es eben nicht.

Betroffene sind lichtscheu, geruchs- und lärmempfindlich – sonst wären dies keine Symptome. Betroffene erleben die Sinneswahrnehmung wie beschrieben. Sie erleben es subjektiv und auch nur besonders ausgeprägt in einer Phase vor einer Attacke  – sonst wären dies keine Vorboten.

Bleibt trotzdem die Frage, ob in diesem Fall schlicht eine Verwechslung vorliegt und die zur Überempfindlichkeit passenden, angeblichen Auslöser gar nicht existieren.

Verständlich wäre es wäre durchaus, wenn tatsächlich eine Verwechslung vorliegt. Insbesondere wenn für Betroffene die Vorbotensymptome als solche unbemerkt bleiben. Wenn also die eigene Sinneswahrnehmung als objektiv empfunden wird und Betroffene annehmen, dass auch für Außenstehende das Licht grell ist und so weiter. Es liegt in der menschlichen Natur. Wir neigen dazu, ein Zusammentreffen von Ereignissen als Ursache und Wirkung zu interpretieren. Selbstverständlich wird das frühere Ereignis dann als die Ursache, das spätere als die Wirkung interpretiert.

Bevor wir hin und her diskutieren, ob Betroffene sich immer über ihre beginnende Phase überempfindlicher Wahrnehmung bewusst sind oder doch eher selten die allerersten Vorboten als solche erkennen, sollten wir feststellen: Die entscheidende Frage ist eine andere. Die Frage ist, ob eine Migräneattacke nach dem Auftreten der Vorboten unweigerlich folgt? Oder ob die zusätzlichen Anstöße in der Vorbotenphase nicht auch zu Entstehung der Migräneattacke noch entscheidend beitragen müssen oder zumindest können? Dann wäre es gleichgültig, ob Betroffene diese Vorboten bzw. Auslöser als subjektiv erkennen oder fälschlich als objektiv ansehen. (Beides wird zu unterschiedlichen Gegebenheiten mal zutreffen.)

Entgegengesetzt und dennoch aufeinander bezogen

Es mag zunächst an das Henne-Ei-Problem erinnern. Kam erst erst ein Vorbotensymtom in Form einer Überempfindlichkeit, was dann nochmal zu neuen Anstößen führt, die am Ende die physiologische Wiederstandskraft gegen eine Attacke brechen? Oder steht am Anfang ein Auslöser, der zunächst die Vorboten hervorruft?

Diese Frage stellt sich jedoch eigentlich in dieser Form nur, wenn man von einem simplen, linearen Zusammenhang ausgeht. Ist die Frage also überhaupt richtig gestellt?

[M]igraine is considered as an inherently dynamical disease to which a linear course from upstream to downstream events would not do justice.

[Aus: Dahlem, M. A. “Migraine generator network and spreading depression dynamics as neuromodulation targets in episodic migraine.” Chaos 23,046101 (2013). (pdf frei verfügbar über arXiv)]

Ich denke, die Frage stellt sich so gar nicht, weil Migräne von Natur aus eine dynamische Krankheit ist. Man würde ihr nicht gerecht, wollte man ihren Verlauf allein linear von vorgelagerten zu nachgeordneten Ereignisse beschreiben. Das dahingehende Zitat oben stammt aus meiner Publikation, die einen anderen Ansatz beschreibt: den eines Netzwerkes im Gehirn mit Kipppunkt.

Im Rahmen dieser Kipppunkttheorie – die zwar durch die Ergebnisse der klinischen Studie gestärkt, jedoch noch nicht belegt ist – stellt sich die Frage anders. Das Henne-Ei-Problem löst sich in Wohlgefallen auf und, wichtiger noch, auch der angebliche Irrtum der Betroffenen wird irrelevant.

Die normalerweise so klar polare Beziehung zwischen Auslöser und Symptom – zwischen Ursache und Wirkung – verschwindet im Fall der Migräneauslöser und -Vorboten. Sie folgen nicht aufeinander (in welcher Reihenfolge auch immer), sondern sind aufeinander bezogen und verschränkt zu einem Ereignis. Das Kipppunktmodell erklärt dies, ohne entweder Auslöser (bzw. weitere Anstöße) oder Vorboten den Vorrang einräumen zu müssen.

Natürlich ist die Kausalität nicht außer Kraft gesetzt. Laut Kipppunkttheorie ist die eigentlichen Ursache für dieses eine Ereignis, dass Anstöße und Vorboten verschränkt, ein anderer, ein viel langsamerer Vorgang: die über Wochen schwankende Widerstandsfähigkeit (Resilienz) im Migränezyklus. Niedrige Resilienz verursacht die Vorboten und macht gleichzeitig das Gehirn weniger tolerant gegenüber Störungen. Mehr noch, die Theorie kann erklären, warum zu jedem Vorboten ein entsprechender Auslöser gehört (dazu mehr in einem späteren Beitrag).

Auslöser und Vorboten zu unterscheiden – was ja durchaus der erste und naheliegende Gedanke wäre –, bietet demnach auch gar keine Hilfe für Betroffene. Ich möchte behaupten, dass dies erst in ein Dilemma führt.

We have argued against the traditional approach of counselling avoidance of all triggers of headaches and migraine. Problems with this approach include the impossibility of avoiding all triggers and the high costs associated with trying to do so, and that avoidance could lead to reduced tolerance for the triggers.

[Aus: Martin, P.R. et al “Enhancing cognitive-behavioural therapy for recurrent headache: design of a randomised controlled trial.” BMC Neurol. 14,233 (2014).]

In der oben zitierten Fachpublikation wird gegen den traditionellen Ansatz der Vermeidung aller Auslöser von Kopfschmerzen und Migräne argumentiert. Probleme mit diesem Ansatz sind die Unmöglichkeit alle Auslöser zu vermeiden, die hohen Kosten bei dem Versuch, dies zu tun, und dass die Vermeidung eine reduzierte Toleranz für die Auslöser hervorrufen könnte. Ob letzteres wirklich so ist, wissen wir noch nicht. Klar scheint aber, das Dilemma, immer alle Auslöser meiden zu wollen, dies aber weder zu können noch (wahrscheinlich) zu sollen, wird nicht dadurch aufgelöst, indem man glaubt, man irrte bisher und viele Auslöser seien in Wirklichkeit bloß Symptome.

Im Rahmen der Kipppunkttheorie wird die Kritik gegen den traditionellen Ansatz der Vermeidung nochmal genauer spezifiziert – und ein letztes mal wiederhole ich mich: diese Theorie ist nicht belegt; dass viele Puzzle-Teile mit ihr wie von selbst in ihren Platz fallen, scheint mir für sie zu sprechen, aber mathematische Theorien klären keine empirischen Fragen, seien sie auch noch so elegant.

Trifft die Kipppunkttheorie zu, müssen Betroffene ihre Aufmerksamkeit auf den eigenen Migränezyklus richten. Eine besonders störanfällige Phase kann anhand der Vorboten erkannt werden, so dass nicht grundsätzlich Auslöser gemieden werden müssen. Die oben geäußerte Vermutung, dass die Toleranz gegen Auslöser reduziert wird, paraphrasiert das Kernelement der Kipppunkttheorie, nämlich dass die Resilienz sich verändert, was zum Umkippen des Migränegehirns führt.  Wird durch ständige Vermeidung aller Auslöser zu jeden Zeitpunkt im Migränezyklus das Grundniveau der Resilienz reduziert, bedeutet das eventuell, dass die Periode des Migränezyklus sich verkürzt.

 

Die aktuelle Studie ist also eine bedeutende Stütze für die Auffassung eines Kipppunktes im Migränegehirn. Was “Kipppunkt” genau bedeutet wird noch in einem folgenden Beitrag erläutert. Es sind drei Charakteristika, die mit dem Ausdruck zusammengefasst werden. Das Fazit der Studie, um das es in diesen Beitrag geht, wäre also nicht, dass Symptome irrtümlich für Auslöser gehalten werden, sondern dass Betroffene Auslöser zum richtigen Zeitpunkt meiden sollten.

 

 

 

Weiterlesen: Was bedeutet ein Migränegehirn kippt? (Nachfolgender Beitrag vom 23. März 2015)

 

Literatur

 

Dahlem, M.A., Kurths J., Ferrari, M.D., Aihara, K., Scheffer, M., May, A., “Understanding migraine using dynamic network biomarkers.” Cephalalgia (2014): 0333102414550108.

Dahlem, M. A. “Migraine generator network and spreading depression dynamics as neuromodulation targets in episodic migraine.” Chaos 23,046101 (2013).

Martin, P.R. et al “Enhancing cognitive-behavioural therapy for recurrent headache: design of a randomised controlled trial.” BMC Neurol. 14,233 (2014).

Schulte, Laura H., Tim P. Jürgens, and Arne May. “Photo-, osmo-and phonophobia in the premonitory phase of migraine: mistaking symptoms for triggers?” The Journal of Headache and Pain 16.1 (2015): 14.

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

11 Kommentare

  1. Die Aussage verminderte Resilienz verkürze den migränezyklus kann auch nicht in jedem Falle zutreffen. Sie kann auch die erfahrene Migränewirkung auf den Betroffen qualitativ verändern ohne einer zeitrelevanz. oder nicht? Die Menschen scheinen mir individuell genug zu seín.

    • Ich mache die Tage mal ein paar erklärende Bildchen.

      Aber es stimmt, wir verstehen definitiv den Zyklus noch nicht. Es gibt einige Arbeitsgruppen, die das untersuchen, z.B. von der epidemiologischen Seite — dort ist bekannt, dass die Vielfalt sehr hoch ist. Gerade der Wechsel hin und zurück von der episodischen zur chronischen Migräne unterliegt keinem klaren Muster.

      Ich bin das mal von der mathematischen Seite angegangen (hier), auch noch mit wenig konkreten Erfolg. Vielleicht kommen wir auf das Thema nochmal zurück, bei einem der nächsten Beiträge.

  2. Ich wurde im Alter von 1,5-Jahren als Migränekind abgestempelt – allerdings ohne der Ursache auf den Grund zu gehen (einzig der Verdacht auf einen Gehirntumor wurde regelmäßig per EEG widerlegt). Zum Glück “verwuchs” sich die chronische Form im Laufe der Pubertät soweit, dass die Migräneattacken etwa über einen Zeitraum von 10 Jahren selten geworden waren, bis sie sich etwa ab einem Alter von 25 Jahren wieder häuften. Mittlerweile sind sie “semi-verlässlicher” Begleiter des weiblichen Monatszyklus. Davon losgelöst tauchen sie aber fast gar nicht mehr auf.

    Der geschilderte Wandel in der Anfälligkeit spricht doch für ein unmittelbares Zusammenspiel von Migräne und Hormonhaushalt. Vor diesem Hintergrund würde es mich nicht wundern, wenn sich spontan kaum ein klares Muster im Wechsel zwischen den Migräne-Typen finden ließe. Denn der Hormonhaushalt eines jeden Menschen verändert sich (von Pubertät und Wechseljahren mal abgesehen) doch auch äußerst individuell, oder nicht?
    Ebenfalls Monatszyklus-abhängig und demnach wohl auch Hormonspiegel-bedingt verändert sich doch auch die Neigung zu Muskelverspannungen – in meinem Fall bis hin zu einem tagelang anhaltenden, nur sehr vorübergehend lockerbaren “Brett im Rücken” (von den oberen Halswirbeln über die Schultern bis zur Lende), welches sich grundsätzlich am gleichen Tag des Monatszyklus binnen weniger Stunden wieder in Luft auflöst.

    Aus all meinen Beobachtungen bin ich mittlerweile zu der Annahme gekommen, dass (meine) Migräne weniger im Kopf entsteht, als vielmehr in einer mangelhaften Konstitution der “Versorgungsstränge” zum Gehirn (Wirbelsäule / Rückenmark?). Für mich als Laien mutet dieser Ansatz überaus logisch an, da alle Körperregionen zu eng miteinander verknüpft sind, als dass man sie in der Forschung separieren sollte.
    Wird solch einer ganzheitlichen Betrachtungsweise durch Ihre Forschung (oder die Ihrer Kollegen) ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt?
    LG

    • 1 ½ Jahre ist für eine Migränediagnose zu jung (glaube ich). In den letzten ~15 Jahren kam die Frage auf (und es häufen sich belegende Zusammenhänge), ob “Schreibabys”, also “infantile colic” mit Migräne in der Kindheit einhergeht.

      Bei um die 20% der Migränikerinnen zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Menstruation und Migräne (wobei diese fast immer dann ohne Aura ist).
      Genau wie Sie sagen, spricht das für ein unmittelbares Zusammenspiel von Migräne und Hormonhaushalt. Die Neuropeptide sind insbesondere zu nennen, ihre Rezeptoren sind im ganzen Körper verteilt und bilden ein psychosomatisches Netzwerk (Lesetipp “Molecules of emotion” bzw. “Moleküle der Gefühle: Körper, Geist und Emotionen” von Candace B. Pert).

      Dass Migräneformen auch “weniger im Kopf entsteh[en]” können, sondern auch “in einer mangelhaften Konstitution der ‘Versorgungsstränge’ zum Gehirn (Wirbelsäule / Rückenmark?)”, das ist eine Frage, was man unter “entstehen” meint. Sind hier Auslöser oder ist eher die Ursache gemeint? Und auch unterscheiden muss man, ob man von Migräne oder Migräneattacken spricht.

      Migräne als Krankheit hat eine ursächliche Entstehungsgeschichte und Teil dieser können Auslöser sein. Genauso die episodischen Attacken, sobald man erkrankt ist, haben Attacken ihre eigene Entstehungsgeschichte und Teil dieser können Auslöser sein. Die zyklischen Muskelverspannungen würden ja auch als Auslöser in Frage kommen und daher finde ich die eingangs zitiert Formulierung (“weniger im Kopf entsteh[en]”) missverständlich.

      Für mich als Laien mutet dieser Ansatz überaus logisch an, da alle Körperregionen zu eng miteinander verknüpft sind, als dass man sie in der Forschung separieren sollte.

      Hier rennen Sie offene Türen ein! Nein, einer ganzheitlichen Betrachtungsweise wird (auch noch nicht genug durch meine Forschung) ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt.

      Das hat Gründe, gute und weniger gute, die kann man fast schon auf das jeweilige Jahr genau festlegen. Vielleicht ist das etwas zu plakativ, aber verdeutlicht die Strömungen: 1978 wurde ein Neurologe, ein sehr guter, Präsident der American Headache Society (AHS). Aus meiner Sicht war das ein wichtiger und richtiger Schritt, doch hatte er auch Nachteile. Bis dahin und immer zuvor waren Kopfschmerzen in den Händen von vor allem Internisten und Psychiatern aber auch Gynokologen und anderen zusammen mit Neurologen. Mit dem Wechsel der Neurologen an die Spitze ging die Erkenntnis einher, dass Migräne eben keine vaskuläre Erkrankung ist, sondern eine des Gehirns und zwar mit klarer organischer Ursache im Gehirn. Ersteres (nicht vaskulär) minderte den Einfluss der Internisten, zweiteres (nicht psychosomatisch) der Psychiater. (Mehr dazu in dem Buch “Not tonight”, das ich in einem Blogbeitrag nur kurz vorstelle. Zweiter Lesetipp.)

      Meine Forschungsperspektive, als Physiker, ist davon natürlich nur indirekt beeinflusst. Hier würde ich aber das Jahr 2004 herausgreifen. Damals wurde als Förderinitiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) das Bernstein Netzwerk eingerichtet. Zumindest in Deutschland, viele andere Länder folgten aber bald, hat das die Forschung nochmal ins Gehirn verschoben. 2002 kam übrigens die erste Ausgabe von der Zeitschrift “Gehirn und Geist” heraus. Weg war der Körper. (Ich halte nichts von einem Dualismus, aber mit ihm sollte man nicht das ganzheitliche über Bord werfen).

      Das Problem liegt noch tiefer. Wir überlassen die Physiologie (das ist die Lehre von Mechanismen und damit von den eigentlichen organischen Krankheitsursachen) den Medizinern, statt die Physiologie in einen eigenen Studiengang zu packen. Das wäre eine Initiative des BMBF gewesen! Nun haben wir Studiengänge Neurowissenschaften …

      Das muss man sich erstmal klar machen. Seit dem Bologna-Prozess können junge Menschen nun Papyrologie, Pferdewissenschaften oder ProWater studieren, nur um mal meine Highlights der Rubrik “P” zu nennen, jedoch nicht Physiologie! Ärzte sind mit einigen tiefen Physiologie überfordert, wenn sie nicht sehr gute Mathematiker sind.

      Die dynamischen Krankheiten (s. Blogbeitrag) kommen von Forschern aus Kanada. Als ausgebildete Mathematiker sind sie Teil eines eigenständigen Department of Physiology, das nicht in der Medizin eingegliedert ist. Es ist kein Zufall, dass dort auch Hormonsysteme über die letzten 40 Jahre erforscht werden und insbesondere ihr Bezug zu chaotischen Oszillationen, also zu der Chaostheorie, hergestellt wurde.

      • Herzlichen Dank für Ihre umfangreiche Antwort mitsamt der Lesetipps und die Eröffnung mir bisher unbekannter Fakten und Verknüpfungen zur Migräneforschung und darüber hinaus!

        “Die zyklischen Muskelverspannungen würden ja auch als Auslöser in Frage kommen und daher finde ich die eingangs zitiert Formulierung (“weniger im Kopf entsteh[en]”) missverständlich.”
        Das stimmt, meine Ausdrucksweise war so unpräzise, wie sich nur ein Laie (ein unachtsamer noch dazu) ausdrücken kann. Gemeint waren in erster Linie Auslöser von Migräneattacken. Wenn jedoch, wie Sie schreiben Auslöser Teil der Entstehungsgeschichte der Attacken sein können (“Genauso die episodischen Attacken, sobald man erkrankt ist, haben Attacken ihre eigene Entstehungsgeschichte und Teil dieser können Auslöser sein”), müsste dann nicht auch der Umkehreffekt (zumindest theoretisch) geltend gemacht werden können? Nämlich, dass ein als Auslöser definiertes Ereignis eben doch nicht NUR als Auslöser, sondern auch als Ursache fungiert?

        • Ich habe grundsätzlich Schwierigkeiten mit dem Wort “Ursache” bei einer Krankheit ohne Kontext. Oft wird ja gerne die genetische Veranlagung als die eine Ursache bezeichnet und alles andere ist das der Weg zum Ausbrauch der Krankheit. Andere lassen mehr als Ursache gelten, aber unterscheiden doch zwischen organischer Ursache (die wiederum genetisch verursacht sein könnte) und psychosomatischer Ursache (die dann tifer im “Verhalten” gesucht wird). Ich setzte Verhalten mal in Anführungszeichen, im engl. spricht man gerne von “nature and nurture”, was dann wieder eher als Natur/Kultur-Gegensatz gilt.

          Lange Vorrede: wenn der Kontext vorher klar gemacht ist, finde ich es gar nicht problematisch, wenn man das Wort Ursache auch für Auslöser nutzt. Das würde ich gar nicht so strikt trennen. Strikt wäre ich eher bei Migräne und Migräneattacke, zumindest habe ich mir vorgenommen, hier nicht mehr Migräne synonym für Migräneattacke zu nutzen, was ich schon früher öfter gemacht habe. Ich glaube hier ist es durchaus hilfreich, nicht die sprachliche Abkürzung zu nutzen (gut, das war jetzt nicht wirklich die Frage oben …).

  3. Pingback:Sehstörung bei Migräne › Graue Substanz › SciLogs - Wissenschaftsblogs

  4. Ich, weiblich, Jahrgang 1965, habe meinen ersten klassischen Migräneanfall mit 12 Jahren gehabt, mit Flimmerskotom und z.T. tagelangem Erbrechen, in meinen Schwangerschaften allerdings war ich beschwerdefrei. Mutter hatte ebenfalls Migräne, mein Sohn hat auch!
    Vor 14 Jahren hatte ich eine extreme Atlas-Dens-Problematik, die dazu führte, dass ich unter orthopädischer Anleitung ein Krafttraining für die HWS begann, das als FPZ-Konzept der Sporthochschule Köln bekannt ist. Ich habe dieses Training seitdem konsequent befolgt und auf den restlichen Körper erweitert sowie meine Nährstoffversorgung optimiert. Folge: ich habe seit ca. 10 Jahren keine Migräne mehr, die mit klassischem Flimmerskotom erfolgt. Die Veranlagung ist sicher noch da, d.h. ich merke genau, wann ich meiner HWS zuviel zugemutet habe, z.B. durch zuviel Autofahren oder Gartenarbeit, bzw. wann ich mein Gehirn überanstrengt habe, z. B. durch zuwenig Schlaf oder zuviel Stress, aber die klassische Migräne bricht nicht mehr durch. Ich habe, wenn es soweit ist, immer noch diese ganz typische Übelkeit, auch die Empfindlichkeit für Gerüche, Licht usw. ist da, aber ich habe nicht mehr das Skotom, nicht mehr diesen pulsierenden Kopfschmerz – kurzum, ich kann damit sogar arbeiten gehen! Es genügen 20 Tropfen MCP, und es geht mir so gut, dass ich kein Schmerzmittel brauche. Und die Häufigkeit ist massiv zurückgegangen!

    Ich kann jedem Leidensgenossen nur empfehlen, diese Kombination aus Stabilisierung der Wirbelsäule und der hochdosierten Vitamin-Mineralstoffkombination zu beginnen. Besserung erfolgt erst nach einigen Monaten, eventuell erst nach zwei bis drei Jahren, aber ich würde es versuchen….

    Als Apothekerin ist mir der Begriff mitochiondriale Erkrankung bekannt. Leider ist der niedergelassenen Schulmedizin dieser Begriff im Zusammenhang mit Migräne fast gar nicht geläufig. Nach all dem, was ich über die Funktion von Nährstoffen in Mitochondrien ( nichts als Biochemie!! – sollte jeder Mediziner bis zum Physikum intus haben!!!) gelesen und in Fortbildungen gehört habe, halte ich es für eine Katastrophe, dass diesem Thema nicht mehr Raum gegeben wird. Leider kann man Nährstoffe nicht patentieren, so dass die Pharmaindustrie durch diese Substanzen keinen Verdienst erhält. Folge: es laufen keine Studien und damit keine Wirksamkeitsnachweise. Zum Schaden der Patienten!!!
    Interessant ist, dass MCP ein Entkoppler der oxidativen Phosphorylierung der Atmungskette ist ( auch viele andere Arzneistoffe entkoppeln, z.B. Metformin beim Typ-2-Diabetes, der auch als mitochondriale Störung vermutet wird) – den Mitochondrien wird quasi der Stecker gezogen – der oxidative Stress sinkt – die Belastung der Mitochondrien sinkt und der Körper kann sich wieder erholen. Magnesium als Uralt-Arzneimittel ist ganz stark in den Komplex 5 der Atmungskette involviert – ist zuwenig Mg da, steigt der oxidative Stress an und ein Anfall erfolgt.

    Ich kann nur jeden Leidensgenossen aufrufen, sich mit dieser Materie zu befassen – wir müssen die biologischen Ursachen finden, denn der Mensch ist nun mal eine biochemische-biophysikalische individuelle Maschine…

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