Große Wissenschaftler ≠ Gut in Mathe ?

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Es sei bei weitem leichter für einen Wissenschaftler, eine benötigte Zusammenarbeit mit einem Mathematiker oder Statistiker anzugehen, statt umgekehrt für einen Mathematiker, einen Wissenschaftler zu finden, der seine Gleichungen benutzen kann. So äußerte sich 2013 der Biologe Edward O. Wilson im The Wall Street Journal.

Diese Aussage reflektiert nach Hans Othmer, Professor für Mathematik an der University of Minnesota, das völlige Unverständnis der Rolle der Mathematik in der Wissenschaft. 1996 habe ich bei Hans Othmer Vorlesungen über mathematische Biologie gehört. Heute Abend kann ich erneut über das Internet einen Vortrag von ihm zuhören. Eine kurze Zusammenfassung (abstract) dieses Vortrages ist unten angeführt.

Wer den Vortrag auch folgen will, kann hier einen Link zum Live Stream anfordern.

 

In a Wall Street Journal article published in 2013, E. O. Wilson attempted to make the case that biologists don’t really need to learn any mathematics — whenever they run into difficulty with numerical issues they can find a technician (aka mathematician) to help them out of their difficulty. He formalizes this in Wilson’s Principle No. 1: “It is far easier for scientists to acquire needed collaboration from mathematicians and statisticians than it is for mathematicians and statisticians to find scientists able to make use of their equations.” This reflects a complete misunderstanding of the role of mathematics in all sciences throughout history. To Wilson mathematics is mere number crunching, but as Galileo said long ago, The laws of Nature are written in the language of mathematics… the symbols are triangles, circles and other geometrical figures, without whose help it is impossible to comprehend a single word. Mathematics has moved beyond the geometry-based model of Galileo’s time, and in a rebuttal to Wilson, E. Frenkel has pointed out the role of mathematics in synthesizing the general principles in science. In this talk we will take this a step further and show how mathematics has been used to make new and experimentally-verified discoveries and how mathematics is essential for understanding a problem that has puzzled experimentalists for decades — that of how organisms can scale in size. Mathematical analysis alone cannot “solve” these problems since the validation lies at the molecular level, but conversely, a growing number of questions in biology cannot be solved without mathematical analysis and modeling. We will highlight a few instances where modeling has been used to push experiments forward and highlight problems in biology that cannot be adequately addressed without mathematical modeling.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

5 Kommentare

  1. Namen wie Lagrange, Hamiltion, Fourier, … Boltzmann zeigen wie zentral Mathematik für eine Wissenschaft sein kann (hier die Physik). Doch selbst in der Physik erreichen nur wenige Physiker die mathematische Kompetenz der oben genannten. In der Biologie ist es noch viel schlimmer, denn Biologen wählen ihren Fachbereich nicht selten darum, weil sie keine grossen Mathematiker sind.

    Ist es nicht so, dass heute Mathematiker zunehmend nach tiefgründigen Anwendungen ihrer Mathematik in einer Naturwissenschaft suchen oder dass sie sogar selbst mathematische Modelle für einen Bereich eines Faches entwickeln. So gesehen könnten Mathematiker die Biologie erobern. Dass Biologen ihr Gebiet fundamental mathematisch erschliessen, wird wohl die Ausnahme bleiben. Das liegt nicht an der Biologie, sondern an den Biologen.

    • “Dass Biologen ihr Gebiet fundamental mathematisch erschliessen, wird wohl die Ausnahme bleiben. Das liegt nicht an der Biologie, sondern an den Biologen.”

      Woher kommt diese Überheblichkeit, von der Vorstellung des Biologen als Schmetterlingssammler? In der Biologie gibt es keine universellen Naturgesetze wie in der Physik. Dass sie gültig sind, ist selbstverständlich, aber die immense Komplexität biologischer Objekte resultiert in Überlagerungen der Naturgesetze zu kontingenten Naturregeln. Somit liegt der Schwerpunkt der Mathematik in der Biologie auf Statistik, Probabilistik, Kombinatorik, Netzwerktheorien und dergleichen. Die Genetik wird längst von Computern beherrscht, weil sie schön regelmäßige Strukturen wie die DNA und die Polypeptide besitzt, die große Verwandtschaft mit der Linguistik aufweisen. Während die Physik die Unanschaulichkeit ihrer Objekte durch Mathematik kompensieren muss, ist es in der Biologie die Vielheit, Diversität und Relationalität der Konstituenten, die durch Mathematik kompensiert werden muss. Selbstverständlich liegen die Fundamente der Biologie in der Physik, aber zusammengesetzte Systeme wie Lebewesen haben nicht nur physikalische Eigenschaften, sondern komplexe Strukturen, eine ununterbrochene Dynamik, somit eine individuelle Entwicklungsgeschichte mit vielen Zufälligkeiten und ein vielgestaltiges Verhalten. Der Biologe hat ganz andere Erkenntnisziele als der Physiker, auch wenn es ein paar Überschneidungen gibt. Um das zu erkennen, muss man weder Biologe noch Mathematiker sein.

    • Ich traue mich mal gegen das vermeintlich offensichtliche zu argumentieren und mache meinen Nicknamen damit noch einmal alle Ehre:

      Doch selbst in der Physik erreichen nur wenige Physiker die mathematische Kompetenz der oben genannten. In der Biologie ist es noch viel schlimmer, denn Biologen wählen ihren Fachbereich nicht selten darum, weil sie keine grossen Mathematiker sind.

      Vielleicht sind es dann ja große Biologen? 😉

      Ist es nicht so, dass heute Mathematiker zunehmend nach tiefgründigen Anwendungen ihrer Mathematik in einer Naturwissenschaft suchen oder dass sie sogar selbst mathematische Modelle für einen Bereich eines Faches entwickeln.

      Es gibt natürlich Mathematiker, die nebenbei oder vielleicht hauptsächlich auch Physiker sind. Zu nennen wären hier Euler, Newton, Bolzmann (sofern er Mathematiker war und nicht nur Physiker – natürlich braucht man als Physiker eine solide mathematische Ausbildung!) usw.
      Natürlich orientieren die sich bei ihren Arbeiten an praktischen Problemen ihrer Wissenschaft.
      Und natürlich lassen die heutigen Computer viel anspruchsvollere Simulationen zu als es in der Vergangenheit möglich war. Aber bedeutet das eine allgemeine Tendenz der Mathematik, praktischer zu werden?
      Nichts zwangsläufig. Das liegt natürlich nicht allein an den Mathematikern, sondern auch an den Anwendern…

      Das liegt nicht an der Biologie, sondern an den Biologen.

      Vielleicht ist ein besonders komplexes, mathematisch exaktes Modell nicht notwendig für den Fortschritt dieser Wissenschaft?
      Man sucht hier per se die Schuld bei “den Biologen”. Aber wie weit beschäftigen sich umgekehrt Mathematiker mit den Details biologischer Hypothesen? Soweit ich weiß werden die Grundlage von Genetik usw. in Vorlesungen zur mathematischen Biologie nicht unterrichtet.

  2. Der Wettstreit um einen Führungs-Anspruch in den Wissenschaften beschäftigt sogar die Phyik noch. Die traditionelle Aufteilung in theoretische und experimentelle Physik befeuert diesen Streit immer wieder. Für meinen Geschmack ist der Streit unnötig und die Haltung beider Wissenschaftler, E.O. Wilson und H. Othmer, zu polarisierend und damit in die Irre führend. Der Fortschritt in den Wissenschaften wie Physik und Biologie lebt vom Wechselspiel von Beobachtung, Intuition, gezieltem Experimentieren, mathematischer Modellierung, Datenanalyse und Theoriebildung. Das Herausheben eines Aspektes als des Edelsten ist nicht hilfreich und häufig nur der Eitelkeit oder Geltungssucht der einzelnen Akteure geschuldet. Ich hoffe, dass wir im Wissenschafts-Verständnis endlich darüber hinwegkommen und das größere Konzept anerkennen.

  3. Es sei bei weitem leichter für einen Wissenschaftler, eine benötigte Zusammenarbeit mit einem Mathematiker oder Statistiker anzugehen, statt umgekehrt für einen Mathematiker, einen Wissenschaftler zu finden, der seine Gleichungen benutzen kann. So äußerte sich 2013 der Biologe Edward O. Wilson im The Wall Street Journal.

    Da scheint was dran zu sein. Die Mathematik kreist vergleichsweise mehr um sich selbst. Wenn man die Wissenschaft der Mathematik – wie das einige sehr naturwissenschaftlich orientiere Autoren tatsächlich tun – als “Hilfswissenschaft” betrachtet, dann sind wohl viele mathematische Probleme, die diese Zunpft mit großer Mühe behandelt, ziemlich unwichtig, weil sie nichts zum Fortschritt der Physik, Biologie usw. beitragen.

    Man darf auch nicht den Fehler machen und pauschal davon ausgehen, dass eine mathematisch exakte Formulierung zwangsläufig notwendig oder geboten für andere Wissenschaften ist. Ich erinnere mich einmal in einem Buch über die Dirac’sche Delta-Funktion gelesen zu haben, dass diese von Dirac aus physikalischen Gründen bereits formuliert wurde, bevor sie mathematisch exakt definiert werden konnte. Sog. “Distributionen” waren damals unbekannt. Ähnliches soll in der Geschichte der Physik nicht selten gewesen sein.
    Ebenso arbeiten einige Sozialwissenschaftler an Statistiken und Analysen derselben, ohne besonders tief in die mathematischen Hintergründe der Theorie eingestiegen zu sein, habe ich gehört.
    Wenn es also in diesen Fällen ohne mathematische Exaktheit geklappt hat, wer sagt dann, dass diese allgemein eine notwendige Eigenschaft guter wissenschaftlicher Theorien ist?

    Diese Aussage reflektiert nach Hans Othmer, Professor für Mathematik an der University of Minnesota, das völlige Unverständnis der Rolle der Mathematik in der Wissenschaft.

    Natürlich wird ein Mathematiker eine andere Vorstellung von der Rolle der Mathematik in den Wissenschaften haben als ein Wissenschaftler einer anderen Disziplin. 😉

    1996 habe ich bei Hans Othmer Vorlesungen über mathematische Biologie gehört. Heute Abend kann ich erneut über das Internet einen Vortrag von ihm zuhören. Eine kurze Zusammenfassung (abstract) dieses Vortrages ist unten angeführt.

    Danke für den Hinweis. Ich wollte mich schon länger mal in dieses Gebiet einlesen, kam aber mangels Zeit nie dazu.

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