Lösen Düfte, Geschmäcker und Weihnachtsschmuck Migräne aus? Heute: Kunstschnee

Bei 10°C draußen kommt halt zumindest in der Wohnung Kunstschnee aus Dosen an den Weihnachtsbaum? An sich schon eine seltsame Idee. Selbst wenn man nicht weiß, dass als Reaktions- oder Zersetzungsprodukt krebserregende organisch-chemische Verbindungen entstehen können, sogenannte »Nitrosamine«.

»Nitrosamine« kommen auch unter Hitzeeinwirkung in Lebensmittel vor. Als Oma den Spinat nicht ausfwärmte, ging es um sie. Der Spinat enthält eigentlich Nitrat, dies wird zu Nitrit und weiter zu den Nitrosaminen umgewandelt. Allerdings kann Nitrat auch schon im Mund zu Nitrit und im Magen zu Nitrosaminen reagieren.

Ohne in die Chemie einzusteigen, Nitrosamine entstehen, wie der Name vermuten lässt, wenn nitrosierende Stoffe (z. B. Nitrit oder Stickoxide) auf nitrosierbare Stoffe (sekundäre »Amine«) treffen. Man findet sie in sehr geringen Dosen unter anderem im Käse, Bier und im verarbeiteten oder konservierten Fleisch. (Seit diesem Jahr gehört solch behandeltes, »rotes« Fleisch laut der WHO-Skala zu der Stufe mit höchsten Krebsrisiko. Ein Thema, das für viel Wirbel gesorgte und hier nicht aufgegriffen wird.)

1972 wurde ein Fall von einem Mann bekannt, der durch den Verzerr von Würstchen zuverlässig Kopfschmerzen bekam. Dies ging als Hot-Dog-Kopfschmerzen in die Literatur ein [1] und den Nitrosaminen wird eine Rolle zugeschrieben. Bis heute ist allerdings der physiologischer Mechanismus der Hot-Dog-Kopfschmerzen unklar.

Nun sind jedoch Kopfschmerzen sowieso nicht gleich Migräne und wenn ein Auslöser zuverlässig ist, ist Skepis angebracht. Denn Migräneauslöser haben eigentlich immer eine Zufallskomponente.

Allgemeinplätze, wie »XY löst Migräne aus«, helfen nicht weiter

Es gibt keinen, für alle Betroffenen zuverlässigen Auslöser von Migräneattacken. Mit vielleicht einer Ausnahme.

In den letzten 30 Jahren gab es viele Studien dazu. Nur ein einziger Auslöser wurde gefunden. Dabei war (und ist) nicht die Frage, ob er zuverlässig Kopfschmerzen auslöst, sondern ob diese provozierten Attacken echte Migräneattacken sind.

Der Auslöser begegnet einem nicht in der Küche. Es geht um die intravenöse Infusion von Nitroglycerin. Dadurch entwickelt sich verzögert eine Attacke, die einer Migräneattacke zumindest sehr ähnlich ist [2]. Nitroglycerin könnte durch seine gefäßerweiternden Wirkung und Freisetzung von Stickstoffmonoxid in den Hirnhäuten eine Entzündung hervorrufen.

Andere, einfache Provokationstests mit einem Auslöser gibt es nicht. Hätte wir sie, wäre die Diagnose Migräne leicht und schnell geklärt (das wäre durchaus wichtig – übrigens, die Infusion von Nitroglycerin löst Kopfschmerzen auch in Gesunden aus). Auch in der Forschung könnten Migräenanfälle leichter klinisch untersucht werden [3]. Doch alle Auslöser haben immer eine Zufallskomponente. Das Auslösen einer Attacke ist mehr oder weniger wahrscheinlich, sowohl bei einer einzelnen Person und erst recht existieren Unterschiede von Person zu Person. Selbst wenn verschiedene Auslöser zusammentreffen, hat dies in der Regel zwar eine verstärkende Wirkung. Doch eine Garantie für eine Attacke ist das nie.

Zurück zu den Nitrosaminen. Sie wurden als Auslöser von »oxidativen Stress« und damit als typischer Migräneauslöser in einer neuen Fachpublikation angeführt, wobei in der gleichen Publikation auch darauf hingewiesen wird, dass Nitrit »oxidativen Stress« gezielt verhindern kann [4]. Von nitrathaltigen Lebensmitteln (Salate und Gemüse wie Spinat, Rucola, Kohlrabi, Rote Beete, Rettich und viele mehr) abzuraten, wäre also genau die falsche Schlussfolgerung. Vielleicht verzichtet man schlicht auf künstlich weiße Weihnachten.

 

Literatur

[1] Henderson, W., & Raskin, N. (1972). ” Hot-dog” headache: Individual susceptibility to nitrite. The Lancet, 300(7788), 1162-1163. (Link)

[2] Thomsen, L. L., Kruuse, C., Iversen, H. K., & Olesen, J. (1994). A nitric oxide donor (nitroglycerin) triggers genuine migraine attacks. European Journal of Neurology, 1(1), 73-80.

[3] Iversen, H. K., & Olesen, J. (1996). Headache induced by a nitric oxide donor (nitroglycerin) responds to sumatriptan. A human model for development of migraine drugs. Cephalalgia, 16(6), 412-418.

[4] Borkum, J. M. (2015). Migraine Triggers and Oxidative Stress: A Narrative Review and Synthesis. Headache: The Journal of Head and Face Pain. (Link, frei einsehbar)

 

Vorherige Beiträge über Glühwein und über Lebkuchen.

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

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