Die technische Art des Neuro-Enhancement

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Gerät das Herz aus dem Takt, übernimmt ein Herzschrittmacher. Gerät das Hirn aus dem Takt, geht ein Hirnschrittmacher ans Werk. Für die technische Art des Neuro-Enhancement bedarf es ausgeklügelter theoretischer Konzepte. So entstand das neue Paradigma der modernen therapeutischen Neurotechnologie.

Das große Interesse am Thema Neuro-Enhancement fokussiert sich im Moment auf pharmakologische Substanzen und deren Wirkung. Parallel läuft eine ebenso spannende Entwicklung, die der Neurotechnologie. Sie wird u.a. vom BMBF mit 34€ Millionen über die nächsten vier Jahre in vier Zentren in Deutschland gefördert, in den “Bernstein Focus: Neurotechnology” in Berlin, Frankfurt, Freiburg/Tübingen und Göttingen.

Einige der neusten Entwicklungen in diesem Bereich können in Videomitschnitten der Vorträge verfolgt werden, die im Juli diesen Jahres in Berlin gehalten wurden im Rahmen des BBCI Workshop 2009 – Advances in Neurotechnology. Des weiteren gibt es zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher, wie z.B. Natural-born Cyborgs (Oxford Press), oder I, Cyborg (University of Illinois Press). Sie geben ebenso fachkundig Auskunft. Was bleibt für meinen Blogbeitrag? Ich schlage einen Bogen zu meinem Arbeitsgebiet, der Physik neurologischer Krankheiten. Diese noch sehr junge Fachrichtung ist unmittelbar mit der Entwicklung von Neuroprothesen verbunden.

Vorab, mir liegt nicht an einer Wertung pharmakologischer gegen technischer Methoden. Beide ergänzen sich. Auch eine Bestandsaufnahme moderner therapeutischer Neurotechnologie wäre zu weitläufig, wenn durchaus auch faszinierend.

Zunächst will ich schlicht feststellen, dass krankheitsbedingte Fehlfunktionen des Gehirns sowohl pharmakologisch als auch maschinell gesteuert werden können. Es gibt also eine technische Art des Neuro-Enhancement.Ziel ist es zumeist, Krankheitssymptome abzuschwächen, eine völlige Korrektur hin zur normalen Funktion ist bis heute nicht in Reichweite.

Mein zentraler Punkt wird sein auszuführen, welcher Faktor eine moderne therapeutische Neurotechnologie heute bestimmt. Immerhin reichen die ersten Versuche der elektrischen Stimulation des menschlichen Gehirns zurück ins 19te Jahrhundert (s. Gildenberg,  Evolution of neuromodulation. doi:10.1159/000086865). Aber erst in den letzten Jahren hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen, der durch das Verständnis neurologischer Krankheiten als dynamische Krankheiten verursacht wurde. Was eine dynamische Krankheit ausmacht, habe ich in den zwei vorangegangenen Blogposts am Beispiel der Migräne und des Schlaganfalls genauer beschreiben.

Ich werde ethische, rechtliche und soziale Aspekte außer acht lassen. Deren besondere Bedeutung, also z.B. die Besonderheit des Hirnschrittmachers gegenüber einem Herzschrittmacher, steht außer Frage. Aber dies ist nicht mein Fachgebiet, und ich kann nur mit großem Interesse die Fachliteratur dort selbst verfolgen.

Vom Hirnschrittmacher zum iPhone

Cochleaimplantate und Hirnschrittmacher sind die zwei spektakulärsten Beispiele maschineller Steuerung von Gehirnfunktionen. Während das Cochleaimplantat teils im Schädelknochen sitzt und von dort eine Elektrode in die Hörschnecke führt, korrigiert der Hirnschrittmacher Fehlfunktionen in tiefen Hirnregionen mittels einer Elektrode, die einmal durch das ganze Gehirn gestochen wird. Cochleaimplantat und Hirnschrittmacher befinden sich also im Körper und sind folglich Implantate. Ihre  klinischen Anwendungsgebiete will ich an dieser Stelle unerwähnt lassen.

Das Spektrum maschineller Steuerung von Gehirnfunktionen reicht noch weiter. Es spielt nämlich gar keine Rolle, ob eine Neuroprothese außerhalb oder innerhalb des Körpers sich befindet.

Eine Prothese bezeichnet den Ersatz von Funktionen durch künstlich geschaffene Produkte. Externe Stimulation von Gliedmaßen, wie Fallfuss-Stimulatoren sind ebenso wie Implantate Prothesen.  Prothesen arbeiten oft – aber keineswegs immer – funktionell ähnliche wie die ausgefallene Struktur, sei es ein Organ oder ein Körperteil.

Ich möchte einen vielleicht zunächst abwegig klingenden Schritt weiter gehen. Ich greife eine Idee von Andy Clark auf. Sie ist der zentrale Punkt in seinem Buch Natural-born Cyborgs (Oxford Press). Dieser Punkt ist in meinen Augen weitgehend folgerichtig. Er führt uns zu dem was third paradigm of computing genannt wird. Dieses neue Paradigma, so werde ich argumentieren, ist in übertragener Weise auch ein wesentlicher Faktor moderner therapeutischer Neurotechnologie.

My body is an electronic virgin.

So Clark’s erster Satz. Für ihn sind wir allein durch eine besondere Fähigkeit Cyborgs, nämlich unsere Fähigkeit Funktionen technischer Geräte in unsere Lebensweise nahtlos zu integrieren.

Cyborgs sind kybernetische Organismen. Dieser Begriff wurde geschaffen, um zu beschreiben, wie wir Menschen in lebensfeindlichen Welten mit Hilfe von Maschinen uns adaptieren können. Cyborgs sind also Kreaturen, die zuerst gedacht waren, um im Weltall zu überleben. Heute sind wir Cyborgs auf der Erde. Wir, so argumentiert Clark, überleben im Grossstadtjungel mit iPhone und Co. Das iPhone (mein Beispiel, Clarks Buch ist älter) ersetzt dabei keine ausgefallenen Funktionen sondern bietet neue.

Essentielles Kennzeichen dieser technischen Funktionen ist, was wir heute third paradigm of computing nennen: Technik muss  nahtlos, unsichtbar und in Harmonie mit uns sein. Aber sie muss nicht im eigentlichen Sinn überlebensnotwendig sein, um uns zu Cyborgs zu machen. Nur unsere Lebensweise muss sich signifikant verändern.

Ich beschriebe diese erweiterte Definition an dieser Stelle, weil wir am Beispiel des iPhones in beeindruckender Weise erleben können, dass es bei dieser neuen Art der Technik nicht allein auf die Hardware ankommt, sondern auch, und vielleicht im größeren Maße, auf die Software. Ein Beispiel ist, dass Finger-Gesten in das iPhone als Schnittstelle integriert wurden.

Damit wir Technik optimal adaptieren, muss an der Schnittstelle eine gemeinsame Sprache gesprochen werden. Eine Sprache des Menschen, Gesten zum Beispiel, und nicht eine Sprache der Technik, die wir erst umständlich lernen müssen.

Das neue Paradigma der Neurotechnologie

Wie überträgt sich nun in dem oben aufgeführten Sinn dieses third paradigm of computing in ein neues Paradigma für Neuroprothesen?

Nahtlos und unsichtbar, dass ist gut vorstellbar, auch wenn in dem übertragen Sinn mehr dahinter steckt, als keine Operationsnarbe oder Beulen unter der Haut zu haben. Vor allem aber, wie bringe ich einen Hirnschrittmacher dazu, in Harmonie mit dem Gehirn und seinen Zellen zu stehen? Welches ist die gemeinsame Sprache, die an der Schnittstelle, also an der Stimulationselektrode gesprochen werden kann?

Es wird wenig verwundern, dass zwei baugleiche Hirnschrittmacher sich allein dadurch fundamental unterscheiden können, dass sie zwei unterschiedliche Stimulationstechniken verwenden. Gleiche Hardware unterschiedliche Software also.

Peter Tass vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin des Forschungszentrum Jülich verfolgt genau dieses Ansatz bei der Therapie von Parkinson und essentiellen Tremor (Zittern). Sein mit Coordinated Reset (CR) Stimulation bezeichnetes Konzept zur Steuerung von fehllaufenden Gehirnfunktionen befindet sich in einer klinischen Testphase (Hauptmann et al 2009, J. Neural Eng. 6 066003, doi: 10.1088/1741-2560/6/6/066003). Hirnschrittmacher sollen mittels CR Stimulation den Tremor unterdrücken.

Vereinfacht gesagt, CR ist in Harmonie mit den Gehirnzellen, spricht in geschickter Weise deren Sprache, während klassische Hirnschrittmachern mit Hochfrequenzstimulation die Nervenzellen urzeitlich anbrüllen. 2005 erhielten Peter Tass und sein Kollege Volker Sturm für ihre Idee den Erwin Schrödinger Preis des Stifterverbandes und wurden im Jahr darauf für die Entwicklung eines neuartigen Hirnschrittmachers mit Methoden der statistischen Physik und nichtlinearen Mathematik für den Deutschen Zukunftspreis nominiert.

Wie in der Nominierung erwähnt, beruhen diese neuen Konzepte auf physikalisch-mathematischen Methoden. Diese kommen aus der Synergetik, also aus einem Teilgebiet der theoretischen Physik. Die Erfindung solcher Methoden setzt ein genaues Verständnis der bestehenden Kommunikation von Gehirnzellen voraus. Und wie diese Kommunikation bei Krankheiten außer Kontrolle geraten kann. Verstehen wir diese dynamischen Prozesse gut, können wir versuchen in Harmonie mit den Zellen durch externe Kontrolle auf eine möglichst normale Hirnfunktion hinzusteuern.

Fortschritt in der modernen therapeutischen Neurotechnologie wird also durch ein besseres Verständnis der Kommunikation von Gehirnzellen erzielt. Durch die Ausnutzung und Weitertreibung technischer Möglichkeiten ist allein nicht viel erreicht. Jeder hat sich bestimmt schon über Funktionen geärgert, die anscheinend allein deswegen vorhanden sind, weil sie möglich sind. So wie die Entwickler bei Apple sich Gedanken über den Nutzer machen, müssen wir uns in einer modernen therapeutischen Neurotechnologie zuerst Gedanken über das Gehirn machen. Dessen Krankheiten als dynamische Krankheiten zu verstehen, in einer Sprache, die die Zellen selber nutzen, wird Neurotechnologie in ein neues Zeitalter bringen.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

5 Kommentare

  1. Neurotechno

    In den bisherigen Bemühungen mit “Hirnschrittmachern” vermisse ich einen Ansatz, die “Epilepsien” (eine Reihe von Krankheiten mit ähnlichem Erscheinungsbild) vom Thalamus aus elektronisch “in den Griff” zu bekommen.
    Wahrscheinlich gibt es da schon Arbeiten, aber mein Zugriff ist veraltet??
    Man kann einen Gegensatz sehen zwischen M.Parkinson (Untererregbarkeit) und Epilepsie (Übererregbarkeit des Cortex) und dementsprechend gegensteuern, denke ich mal stark vereinfacht.

    S.R.

  2. Neuroprothesen bei Epilepsie

    Bei der Vagus-Nerv-Stimulation mit im Brustbereich implantierten Schrittmacher hat man bei nahezu 20.000 Patienten gute Erfahrung gemacht, d.h. Wirksamkeit vergleichbar mit einem Antiepileptikum aber ohne dessen Nebenwirkungen zu haben, allerdings mit OP im Brust und Halsbereich.

    Das Einsatzspektrum der Vagus-Nerv-Stimulation geht über Epilepsie hinaus (Depression, Demenz, …) da hier recht diffus verschiedene Bereiche des Hirns stimuliert werden. Daher ist diese Technik wohl gerade im Sinne des Neuro-Enhancement in Zukunft ein Thema.

    Tiefenhirnstimulation bei Epilepsie ist dagegen in einem sehr frühen Entwicklungsstadium. Im Thalamus wird Tiefenhirnstimulation, soweit mir bekannt, bei Essentiellen Tremor eingesetzt, also einem Zittern das nicht von Parkinson herrührt und höherfrequent ist.

  3. “dynamische Prozesse”

    Hallo, Herr Dahlem,
    danke für Ihre Hinweise, das Gebiet ist schon sehr weit gefächert.

    Sie schreiben:
    „Die Erfindung solcher Methoden setzt ein genaues Verständnis der bestehenden Kommunikation von Gehirnzellen voraus. Und wie diese Kommunikation bei Krankheiten außer Kontrolle geraten kann. Verstehen wir diese dynamischen Prozesse gut, können wir versuchen in Harmonie mit den Zellen durch externe Kontrolle auf eine möglichst normale Hirnfunktion hinzusteuern.“
    Meine Frage:
    Gibt es Ansätze zu einer genauen theoretischen Zusammenfassung dieser „dynamischen Prozesse“, die darüber entscheiden, ob man „bei Sinnen“ oder „besinnungslos“ ist? Anders gefragt: Wie gut verstehen Sie diese dynamischen Prozesse?

    S.R.

  4. Komapatient war 23 Jahre bei Bewusstsein

    Hallo Herr Rehm!

    “… Gebiet ist schon sehr weit gefächert.”

    Ja, ein Blog-Beitrag kann nur sehr verkürzt in eine Thematik einführen.

    Ich weiß nicht, ob Ihre jetzige Frage auch auf den Bericht gestern im Spielgel online “Komapatient war 23 Jahre bei Bewusstsein” anspielt.

    Ich übersetzte mal “bei Sinnen” mit Bewusstsein. Falls Sie eher meinten “zurechnungsfähig”, dann wäre die Antwort eine andere. (Diese könnte ich aber gar nicht geben.)

    Grundsätzlich kann man sehr genau testen, ob ein Mensch bei Bewusstsein ist oder nicht.

    Sagt man einem Menschen Sätze, wie “Nachts ist es kälter als draußen” und “Nachts ist es kälter als am Tage” und messen seine Hirnreaktionen, so findet man Unterschiede bei Menschen, die diese Sätze bewusst wahrnehmen.

    Dazu aber braucht es keine Modelle für Bewusstsein und solche haben wir wohl auch noch nicht. Ich finde es sogar fraglich ob wir diese je haben werden, also mathematische Modelle. Man braucht nichtinvasive Messmethoden, und die haben wir (z.B. EEG).

    Übrigens, es ist kein Zufall, dass in der Regel die besten mathematischen Modelle, die wir so für das Hirn kennen, solche sind, die krankhafte Zustände beschreiben. Eine Störung ist eben meist weniger komplex, als das funktionierende System.

    Daher ist Bewusstsein soviel mehrschichtiger als eine Migräneattacke.

    Wollen wir mit dem Hirn interagieren, meist mit therapeutischen Ziel, ist aber mehr als eine Messung des Zustandes nötig. Sie müssen Einfluss nehmen. Dazu bedarf es dann der mathematischen Modelle, die uns Vorhersagen liefern, wie diese Wechselwirkung geschehen müsste.

    Viele Grüße,
    Markus Dahlem

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