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BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz
Was gab es diese Woche im Biomedical Engineering? Skepsis, denn 
der Placeboeffekt blieb aus. 

In der Zeitschrift “Journal of Neurology, Neurosurgy & Psychiatry” 
wurde im April berichtet, dass bei Parkinson das ausgeprägte 
Rumpfvorneigung beim Stehen und Gehen sich durch Magnetstimulation 
im Bereich der Wirbelsäule (repetitive transspinale 
Magnetstimulation, rTSMS) verbessern lässt. Allerdings kamen 
sogleich Zweifel auf, ob diese Studie korrekt Placebo-kontrolliert 
ist, weil in der Kontrollgruppe gar kein Effekt verzeichnet wurde. 
Einen Placeboeffekt hätte man erwarten müssen! Die Kritik wurde in
einem redaktionellen Kommentar mit veröffentlicht.
 
Letzten Donnerstag wurde nun nochmal von dritter Seite in der 
selben Zeitschrift auf die Schwierigkeiten einer Schein- 
Stimulation hingewiesen. Diese liegen nicht nur bei der 
transspinalen (durch die Wirbelsäule zum Rückenmark) sondern 
ebenso bei der transkraniellen (durch die Schädeldecke zum 
Gehirn) Magnetstimulation vor. Sowie auch bei allen anderen 
angeblich nicht-invasiven Methoden und invasiven Methoden 
treten sie auf, weil jeweils das Vorhandensein oder Fehlen 
von Nebenwirkungen der Schein-Stimulation bzw. der 
Scheinoperation Teilnehmern relativ leicht verraten können, 
welche Behandlung sie erhalten hatten. 

Fazit: Es ist wichtig anzuerkennen, dass die richtige 
Verblindung sehr schwierig zu erreichen ist bei Neuromodulation.
Besser als Placebo ist gerade dann verdächtig, wenn der 
Placeboeffekt klein oder nicht vorhanden ist.

PS: Auch eine sehr hohe Ansprechrate legt allein keinen 
Wirkungsmechanismus nahe, wenn vor Eingriff die Placebogruppe 
selektiert wurde.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

7 Kommentare

  1. Doppelblindstudien bei Neuromodulation scheinen mir ohne weitres möglich. dazu müsste die “Negativgruppe” genau gleich behandelt werden, aber mit der falschen Lokalisation. Die therapeutische Wirkung von Stimulation und Implantat wird ja meistens mit Einwirkungen genau am richtigen Ort in Verbindung gebracht.

    • Das wird natürlich auch gemacht, doch selbst hierbei können Patienten wissen, ob der Ort mit ihrem Symptomen übereinstimmt (zumal bei einem Crossover, wo ein Patient echte und Schein-Stimulation bekommt) und spätestens der Studienarzt wird es meist wissen. Der Versuch wäre also nicht Doppelblind. Das allein würde massive Auswirkungen haben.

  2. “Einen Placeboeffekt hätte man erwarten müssen!”

    Hätte man? Nun ja. Ich hatte kürzlich eine Beule am Fuß. Einen Tag bevor der Fuß abgenommen werden sollte, fragte mich der Stationsarzt, ob ich “eventuell Lust” hätte, noch an einer Studie teilzunehmen, es gehe um die Wirksamkeit eines Medikamentes XY, ich könne noch “so nebenbei 50 Euro” verdienen, wer weiß, wofür es gut sei, und schaden könne es ja nicht, wie er mir mit einem Augenzwinkern versicherte.

    Kurz gesagt: Geholfen hat es nicht, kein Placebo-Effekt, Null Prozent, weitere Details erspare ich Ihnen. Was war denn Ihrer Meinung nach statistisch zu erwarten? Kann ich da was jetzt noch machen?

    • Ihr abes Bein wird durch einen Placeboeffekt nicht nachwachsen, falls Sie das fragen möchten, ja?

      Die Kamptokormie, die hier behandelt wurde, ist im Liegen vollständig reversibel. Das wussten Sie vielleicht nicht. Genau deswegen darf man eine weniger stark ausgeprägte pathologische Rumpfvorneigung auch beim Stehen und Gehen im Rahmen eines Placeboeffektes erwarten. Und, wie der Wissenschaftler des redaktionellen Kommentars auch moniert, man darf nicht nur sondern man muss.

      Bei Migräne (meine häufigstes Blogthema) sollte man zwischen 10-20% Placeboeffekt erwarten, ohne dass man hier auch nur in irgendeiner Hinsicht diese sehr ernsthafte Erkrankung deswegen als minderwertig darstellt.

      Selektiert man nun genau die Gruppe, die auf Placebo gut anspricht und nimmt mit dieser Gruppe eine weitere andere Studie vor, darf man auch 80% Placeboeffekt erwarten.

      Warum Beine nicht nachwachsen, ist eine andere Frage.

  3. Gibt es nicht deshalb extra Placebos, die gewisse Nebenwirkungen (Schein-Nebenwirkungen, echte Wirkungen?) entfalten?

    • Verstehe die Frage nicht. Wenn, wie hier der Vorwurf, die Verblindung faktisch nicht vorliegt, wäre es eben schlicht kein Placebo. Zumindest auf den ersten Blick. Denn man sollte einwenden, dass Placebos selbst dann Symptome eventuell lindern können, wenn die Behandelten darüber aufgeklärt werden, dass sie keine echten Medikamente einnehmen. Hier werden die Behandelten nicht unmittelbar darüber aufgeklärt, sondern haben nur eine Vermutung (so der Vorwurf).

    • Skeptiker schrieb (29. Oktober 2014 0:05):
      > Gibt es nicht deshalb extra Placebos, die gewisse Nebenwirkungen (Schein-Nebenwirkungen, echte Wirkungen?) entfalten?

      Da es sich offenbar um Patienten handelte, die (alle) unter einer (der selben) schweren Krankheit
      litten und die deshalb vermutlich schon andere Medikamente bekommen hatten, die ihnen
      erfahrungsgemäß bisher (alle) nicht wesentlich geholfen hatten,
      wären wohl genau solche (kaum helfenden, aber eventuell trotzdem mit bestimmten, gewohnten
      Nebenwirkungen behafteten) Medikamente im vorliegenden Fall als Placebos geeignet;
      ggf. in einer veränderten/ungewohnten/unkenntlichen Darreichungsform,
      und natürlich versehen mit der üblich-allfälligen Aufmunterung (“Wir haben jetzt zum Glück dieses neue, erfolgreich getestete Medikament bekommen; nehmen Sie das bitte mal und legen sich dann schön hin, und in <insert_suitable_duration_here> könn’Se dann wieder hüpfen wie’n junges Reh.”).

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