Andreas Bartels: Außenseiter aus anderen Disziplinen

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Andreas Bartels in der Guten StubeIn meinem abschließenden Gastbeitrag in der Guten Stube möchte ich meinen dritten und letzten Grund für mehr Interdisziplinarität näher erläutern: Grundlagenkritische Argumente warten nicht immer an der eigenen Haustür.

Grundlagenkritik ist unentbehrlich für den Fortschritt wissenschaftlicher Disziplinen. Die Grundlagenkrise in der Mathematik hat die Anschauung als Basis mathematischen Argumentierens hinweggespült und damit das Tor zur modernen Mathematik geöffnet. Einsteins relativistische Physik beginnt mit einer Grundlagenkritik an einem apriorischen Begriff der Gleichzeitigkeit. Das neue Paradigma setzt sich (wieder Thomas S. Kuhn zum Trotz) nicht durch, weil die Vertreter des alten Paradigmas langsam aussterben, es setzt sich durch, weil dessen Fundamente durch Grundlagenkritik erschüttert wurden. Aber häufig braucht es den wissenschaftlichen Außenseiter, manchmal den Außenseiter, der aus einer anderen Disziplin stammt, um solche Grundlagenkritik zu leisten. Verzeihen Sie mir, wenn ich wieder zu einem Beispiel aus der Philosophie greife, um dies zu illustrieren. Hier kenne ich mich nun mal am besten aus.

Gottlob Frege gilt heutzutage gemeinhin als Philosoph. Man vergisst dabei, dass er „von Hause aus“ Mathematiker gewesen ist. Seine Hauptleistung in der Philosophie bestand darin, Methoden, die er zur Klärung des mathematischen Argumentierens entwickelt hatte, in die Philosophie zu importieren, um dort vor allem unser Verständnis semantischer Kategorien nachhaltig umzugestalten. Das Denken in den Kategorien von Subjekt- und Prädikatsbegriff kritisiert Frege als hoffnungslos unscharf und in vielfältiger Weise irreführend. Aussagen mit grundsätzlich verschiedenem logischem Gehalt erscheinen nach diesem Schema als Aussagen ein und derselben Struktur. Dieses Schema verschleiert also die wirklichen Verhältnisse anstatt sie abzubilden.

Um dem abzuhelfen, importiert Frege aus der Mathematik den Funktionsbegriff und setzt ihn in erhellender Weise ein, um den semantisch fundamentalen Unterschied zwischen Begriff und Name (Gegenstandsbezeichnung) zu beleuchten. Beachtet man diesen Unterschied, lassen sich die vielfältigen Bedeutungsunterschiede in der Sprache adäquat wiedergeben.

Gute StubeWar Frege ein interdisziplinärer Wissenschaftler? Wenn das komisch wirkt, dann wohl vor allem deshalb, weil diese Beschreibung nur vor dem Hintergrund der heute so eng gezogenen Disziplinengrenzen sinnvoll ist. Noch vor hundert Jahren waren diese Grenzen weniger scharf gezogen und deswegen Interdisziplinarität kein Diskussionsgegenstand. Frege hat seine wissenschaftliche Rolle einfach in einer Weise gespielt, in der wir heute ein Merkmal von Interdisziplinarität erkennen.

Daraus könnte man nun umgekehrt schließen, dass Interdisziplinarität sozusagen „nichts Besonderes ist“ – die Forderung nach Interdisziplinarität fordert lediglich etwas ein, das in der Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts permanent anwesend und wirksam war und möglicherweise heute (soweit man das überhaupt beurteilen kann) immer prekärer wird, weil der Spezialisierungsdruck ständig zunimmt. Der Austausch zwischen den Disziplinen wird vielleicht deswegen so geschätzt, weil wir hoffen, dass uns auf diese Weise nützliche Wirkungen erhalten bleiben, die wir ansonsten aufgrund der vermutlich unvermeidlichen weiteren Differenzierung der Disziplinen verlieren würden. So gesehen soll Interdisziplinärität kompensatorisch für Belebung sorgen. Sie soll verhindern, dass die sich immer feiner ausdifferenzierenden Disziplinen sich letztlich in ihren Paradigmen zu langweilen beginnen.

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Carsten Könneker Zu meiner Person: Ich habe Physik (Diplom 1998) sowie parallel Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte (Master of Arts 1997) studiert – und erinnere mich noch lebhaft, wie sich Übungen in Elektrodynamik oder Hauptseminare über Literaturtheorie anfühlen. Das spannendste interdisziplinäre Projekt, das ich initiiert und mit meinen Kollegen von Spektrum der Wissenschaft aus der Taufe gehoben habe, sind die SciLogs, auf deren Seiten Sie gerade unterwegs sind.

2 Kommentare

  1. Interdisziplinaritaet + globales Denken

    Heute ist wieder einmal ein wunderbarer Tag, wenn ich an die Gefuehlsmomente nach dem Lesen dieses Artikels ueber das Tun+Denken von Prof. Dr. Andreas Bartels denke #
    Es trifft genau die von mir selbst als enorm wichtig erkannten Daseinsmomente im gesellschaftlichen Leben aller vorhandenen Lebensformen in einem RASUM innerhalb einer definierten ZEIT #
    Dies ist insofern bemerkenswert, als es sehr wahrscheinlich RAUM und ZEIT nicht in der Art und Weise gibt, wie wir es bisher ueblich angenommen haben bzw. es immer noch annehmen #
    Beide Kriterien folgen den tieferliegenden Daseinsbedingungen Bewegung und Struktur bzw. Bewegungstransformation und Zustandstransformation, wenn man an Leben und die damit zusammenhaengenden Kriterien denkt #
    Fazit: Ein sehr, sehr guter Text im anscheinend richtigen Zeitpunkt, um nachfolgend Groeszeres bewirken zu koennen #
    Bin sehr gespannt, wie es damit weitergeht #

    Freundliche Gruesze
    Joachim Rose

  2. @Carsten Könneker: explanations

    “Die Grundlagenkrise in der Mathematik hat die Anschauung als Basis mathematischen Argumentierens hinweggespült und damit das Tor zur modernen Mathematik geöffnet.”

    Eigentlich gab es 3 Grundlagenkrisen:

    1. Man wollte alle Operationen wie Addieren/Subtrahieren und Multiplizieren/Dividieren mit allen Zahlen machen können. Aber einige Brüche liegen nicht in Q sondern in R und einige Wurzeln liegen in C.

    2. Wie rechnet man mit unendlich kleinen bzw. großen Größen?

    3. Die Entdeckung der Unvollständigkeit/Unendscheidbarkeit formaler Systeme.

    Die ersten beiden Krisen konnten genutzt werden, um in der Mathematik einen großen Schritt voranzukommen. Die Reaktionen auf die Gödelschen Theoreme sind wohl überwiegend psychologischer Natur.
    Es ist mir neu, daß die Anstrengungen, eine deduktiv-korrekte Methode des Formulierens mathematischer Aussagen speziell mit einer dieser drei Krisen zusammenhängen. Hast du da vielleicht eine Quelle?

    “Das neue Paradigma setzt sich (wieder Thomas S. Kuhn zum Trotz) nicht durch, weil die Vertreter des alten Paradigmas langsam aussterben, es setzt sich durch, weil dessen Fundamente durch Grundlagenkritik erschüttert wurden.”

    Hm …. bei der AR war es die Erklärung der Abweichung der Periheldrehung des Merkur um 44 Bogensekunden/Jhr, die einen bedeutenden Einfluß gehabt hat und bei der SR waren es die Michelson-Morley-Experimente. Insofern hat es den Anschein, als wäre nicht die Grundlagenkritik entscheidend, sondern die Fähigkeit der neuen Theorie, experimentell Unerklärliches zu erklären und mit bekanntem Wissen in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen.

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