Hans J. Markowitsch: Gedächtnis – Perspektiven aus Natur- und Geisteswissenschaft

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Das Gedächtnis beschäftigt Ägyptologen ebenso wie theoretische Informatiker – von Neuropsychologen und Kulturhistorikern ganz zu schweigen. Interdisziplinäre Gedächtnisforschung betrieb mein heutiger Gast u.a. mit dem Sozialwissenschaftler Harald Welzer, Direktor des Center for Interdiciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Mein Besucher selbst ist Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld und Direktor am dortigen Zentrum für interdisziplinäre Forschung. Über seine viel beachteten Studien berichtete Hans J. Markowitsch auch schon einmal in Gehirn&Geist (pdf). Offline bemerkte er, dass die größte Schwierigkeit beim gemeinsamen Forschen mit Vertretern anderer Disziplinen die Sprache sei. Denn was die Kollegen aus den anderen Fakultäten zum Beispiel eben unter "Gedächtnis" verstünden, sei mitunter völlig verschieden von der eigenen Lesart. Die Begriffe der Partner erst einmal verstehen zu lernen sei daher die wichtigste Voraussetzung für fächerübergreifende Projekte. Und ein erfahrungsgemäß langwieriger Prozess, der Monate oder gar Jahre in Anspruch nehme – Zeit, die womöglich der eigentlichen Forschung fehlt. Ich bat Herrn Markowitsch, seine Erfahrungen mit uns in der Guten Stube zu teilen, und freue mich, dass er der Einladung gefolgt ist!

Prof. Dr. Hans J. MarkowitschGedächtnis – Perspektiven aus Natur- und Geisteswissenschaft

Das Thema "Gedächtnis" eignet sich vermutlich wie kaum ein anderes, konvergente und divergente Ansichten aus der Forschung von Natur- und Geisteswissenschaften darzulegen. Allein schon eine Definition von Gedächtnis fällt in beiden Lagern sehr unterschiedlich aus. Die Geisteswissenschaften zentrieren sich auf biographische (oder auch auf kollektive) Erinnerungen, die "flüchtig und diffus, dabei jedoch nicht ohne besondere Prägnanz" [1] sein können, die Naturwissenschaften können auch Maschinen Gedächtnis zusprechen, betonen aber meist dessen Verankerung im Gehirn, und zwar in dem von Tier und Mensch. Mit einer naturwissenschaftlichen, um Präzision bemühten Definition von Gedächtnis, wie der von Sinz (1979) können Geisteswissenschaftler deswegen auch wenig anfangen: "Unter Gedächtnis verstehen wir die lernabhängige Speicherung ontogenetisch erworbener Information, die sich phylogenetischen neuronalen Strukturen selektiv ->artgemäß einfügt und zu beliebigen Zeitpunkten abgerufen, d.h. für ein situationsangepasstes Verhalten verfügbar gemacht werden kann. Allgemein formuliert, handelt es sich um konditionierte Veränderungen der Übertragungseigenschaften im neuronalen ‘Netzwerk’, wobei unter bestimmten Bedingungen den Systemmodifikationen (Engrammen) entsprechende neuromotorische Signale und Verhaltensweisen vollständig oder teilweise reproduziert werden können."[2]

Geisteswissenschaftler im weitesten Sinne scheinen einen gewissen Neid auf die (vermeintliche) Präzision und Objektivierbarkeit naturwissenschaftlicher und insbesondere auch neurowissenschaftlicher Forschung zu hegen, nicht ohne aber gleichzeitig auf ihre eher philosophisch untermauerte perspektivisch-übergreifende "Sicht der Dinge" stolz zu sein. Daher wohl auch die gegenwärtige Neigung, sich neurowissenschaftlicher Methoden en passant bedienen zu wollen, ohne hier in die Tiefe der Materie einsteigen zu wollen. Dies drückt sich im Schmücken mit dem Präfix "Neuro-" aus, das nicht nur zu Kreationen von "Neurotheologie" und "Neuropsychoanalyse" geführt hat, sondern sogar zur Schaffung des Terminus "Neurogermanistik". Salopp wird dann auch vorgeschlagen "Lassen wir die Leute im Tomographen doch mal ihre Lebenserinnerungen schildern", wenn es darum geht, die Autobiographie mittels funktioneller Bildgebung zu untersuchen. Dass dies so absolut nicht funktioniert, will technisch-experimentell wie neuroanatomisch naiven Geisteswissenschaftlern erst gar nicht in den Kopf gehen. Auch die "bunten Bilder", wie die aufbereiteten Computerbilder von Hirnaktivitäten einerseits abschätzig, andererseits doch fasziniert benannt werden, werden eher als arbiträre Spielerei abgetan, vor allem, weil sie dem Geisteswissenschaftler so sinnleer scheinen, wie anderen die Kunstbilder eines malenden Schimpansen. Geisteswissenschaftler, die sich dann in Vorträgen auf die Niederungen der neurowissenschaftlichen Sprache begeben, kreieren dann locker anatomische Bezeichnungen wie den "Gyrus posterior cinguli", weil ihnen "posterior" exakt so wenig sagt wie "cinguli" und "Gyrus".

Es ist also noch ein langer Marsch bis Wissenschaftsdisziplinen, auch bei gegenseitigem Wohlwollen, eine konvergente Sicht der Dinge erlangen.

Literatur:
[1] Assmann, A. (2006). Wie wahr sind unsere Erinnerungen? In H. Welzer & H.J. Markowitsch (Hrsg.), Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung (S. 95-110). Stuttgart: Klett-Cotta. Hier S. 96 (Über das "Mich-Gedächtnis")

[2] Sinz, R. (1979). Neurobiologie und Gedächtnis. Stuttgart: Gustav Fischer.
 


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Carsten Könneker Zu meiner Person: Ich habe Physik (Diplom 1998) sowie parallel Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte (Master of Arts 1997) studiert – und erinnere mich noch lebhaft, wie sich Übungen in Elektrodynamik oder Hauptseminare über Literaturtheorie anfühlen. Das spannendste interdisziplinäre Projekt, das ich initiiert und mit meinen Kollegen von Spektrum der Wissenschaft aus der Taufe gehoben habe, sind die SciLogs, auf deren Seiten Sie gerade unterwegs sind.

3 Kommentare

  1. Applaus!

    Sehr guter Beitrag! Ich kann die geschilderten Beobachtungen aus der interdisziplinären Erforschung der Religion nur bestätigen!

    Die unterschiedliche Prägung von Begriffen scheint einer der Hauptgründe für Missverständnisse zu sein – macht es allen Seiten aber auch leicht, sich vor dem dringend notwendigen Dialog zu drücken (“Bevor wir die Begriffe geklärt haben, macht doch ein solches, gemeinsames Vorhaben gar keinen Sinn.”). Außerdem kann man damit herrlich seine jeweilige Kompetenz unterstreichen und seine Claims gegenüber den “Ansprüchen” der je “anderen Seite” unterstreichen. (“Also, Herr Kollege, den Gyrus posterior cinguli gibt es gar nicht…” *Gelächter* )

    Ich bin trotzdem zuversichtlich, dass es vorangeht – vor allem dank junger Forscher aller Disziplinen und auch Wissenschaftsjournalisten, die zunehmend angewandt und projektorientiert arbeiten und denen das etablierte Territorialgehabe daher zunehmend zuwider ist. Denn der immense Wissenszuwachs macht uns alle auch zu “Fachidioten”, die auf Offenheit, Geduld und Dialog angewiesen sind, wenn sie überhaupt noch vorne mitreden wollen.

  2. Blumenhaus

    Wer im Blumenhaus sitzt sollte nicht mit Tulpen werfen. 😉

    Aus einem Ihrer Kommentare, Zitat Blume:
    “Die Religiosität wird stark (ca. 60-70%, vor allem mütterlicherseits) aber nicht absolut vererbt. Würde sie “nur” parental fixiert vererbt, würde sie auch ihre kulturelle Plastizität (und damit einen zentralen Teil ihrer Adaptivität!) verlieren – neue Entwürfe können ja nur entstehen, wenn es Devianz gibt.”

    So ein Satz eignet sicherlich gut für eine wissenschaftliche Publikation, aber für einen Blog ist er ungeeignet, denn hier werden sicherlich die unterschiedlichen Fachdisziplinen lesend vertreten sein.

    Nichts für ungut, aber das mußte ich mal los werden. 🙂

  3. @ Isegrim: Stimmt! (-:

    Aber Sie müssen mir auch zugeben, dass in der Glauben-Zölibat-Diskussion hier im Wissenslog jeder von mir verwendete Begriff massiv abgeklopft wurde! Da gewöhnt man sich Fachsprech an – auch wenn es dann nur noch wenige verstehen…
    (-;

    Wenn es mir wieder passiert, verpassen Sie mir bitte auch wieder einen verdienten Denkzettel!

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