Klaus Vondung: Rechtfertigungsdruck der Disziplinen

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Salon der zwei Kulturen
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Gibt es eine Krise der Geisteswissenschaften? Immer wieder wird sie heraufbeschworen, doch bei Lichte besehen ähneln die Probleme der Geisteswissenschaften denen der Naturwissenschaften, analysiert Klaus Vondung. Der Literaturwissenschaftler von der Uni Siegen hatte bereits bei anderer Gelegenheit an dieser Stelle auf das Verbindende der "Zwei Kulturen" hingewiesen. Dies erscheint um so wichtiger, als oft das Trennende im Vordergrund steht.

 

Rechtfertigungsdruck der Disziplinen

Klaus Vondung in der Guten StubeAls Geisteswissenschaftler bin ich versucht zu sagen: Es gibt keine Krise der Geisteswissenschaften, es gibt nur zu wenig Geld. Allerdings könnte mir dies den Vorwurf typisch geisteswissenschaftlicher Arroganz eintragen. Daher will ich mich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob es eine „Krise“ der Geisteswissenschaften gibt und knüpfe an die Beobachtung eines selbstkritischen Geisteswissenschaftlers an (solche gibt es). Dieser Geisteswissenschaftler, Professor der Philosophie, dessen Namen ich noch für einen Moment verheimliche, stellte fest, die Geisteswissenschaften seien durch die „Minderschätzung der Zeit“ betroffen, und er nannte folgende Gründe dafür:

(1) Naturwissenschaften und Technik hätten den Geisteswissenschaften Rang und Bedeutung abgelaufen.
(2) Die Geisteswissenschaften litten unter einem Minderwertigkeitskomplex; sie seien „geblendet von den Triumphen der Naturwissenschaft“ und versuchten nun, deren Spuren zu folgen und deren Methoden nachzuahmen.
(3) Die Geisteswissenschaften würden immer kleinere Brötchen backen: „Die Einzelforschung wird höher geschätzt als die zusammenfassende Darstellung“.

Dies scheint eine ziemlich zutreffende Diagnose der gegenwärtigen Lage der Geisteswissenschaften zu sein.
In Wahrheit ist die Diagnose fast hundert Jahre alt; sie stammt aus dem 1911 veröffentlichten Buch Die geistigen und sozialen Strömungen im 19. Jahrhundert von Theobald Ziegler. Dass ich Sie in die Irre führen konnte, ist nicht verwunderlich. Die von Ziegler genannten Krisensymptome werden auch heutzutage diagnostiziert.

Schon Ziegler machte deutlich, dass die schwierige Lage der Geisteswissenschaften durch den Aufstieg und die Erfolge der Naturwissenschaften verursacht wurde. Bis heute stehen die Geisteswissenschaften gegenüber den Leistungen der Naturwissenschaften mit ihren positiven Auswirkungen in Technik, Medizin und Pharmazie unter besonderem Rechtfertigungsdruck.

Bei genauerem Hinsehen jedoch zeigt sich,
dass dieser Rechtfertigungsdruck unterschiedlich stark ausfallen kann – und außerdem, dass es solchen Druck auch in den Naturwissenschaften gibt!

Die geisteswissenschaftliche Ausbildung künftiger Lehrer z.B. in Disziplinen wie Sprach- und Literaturwissenschaft, Geschichte und Politikwissenschaft, Philosophie und Theologie, Musik und Kunst steht nicht unter Rechtfertigungsdruck; wir alle wollen schließlich, dass unsere Kinder in der Schule nicht nur Kulturtechniken lernen, sondern auch kulturelle, politische und moralische Bildung erwerben, um ein gutes und verantwortliches Leben führen und unsere Gesellschaft mitgestalten zu können.

Höherer Druck liegt freilich auf denjenigen Teilen der geisteswissenschaftlichen Disziplinen, deren ‘Nährwert’ nicht ohne weiteres einsichtig ist: auf theoretischen, historischen und philologischen Teildisziplinen und auf den so genannten Orchideenfächern wie z.B. Byzantinistik oder Finnougristik, Paläographie oder Numismatik. Der Anwendungsbezug ist es also, der am ehesten von Rechtfertigungsdruck entlastet.

Gute StubeDoch dies ist auch in den Naturwissenschaften so. Niemand hat Einwände gegen materialwissenschaftliche Forschung, wenn diese dazu führt, Motorblöcke von Autos um 50 Prozent leichter zu machen, so dass Benzin gespart und der CO2-Ausstoß verringert werden kann. Anders sieht es auch hier in den theoretischen Disziplinen aus, z.B. in der theoretischen Physik oder in der kostspieligen experimentellen Physik.

So soll der Large Hadron Collider (LHC) im europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf vor allem die nach dem schottischen Physiker Peter Higgs benannten Higgs-Teilchen aufspüren, die als elementarste Quantenbestandteile angenommen werden und deren Nachweis das Standardmodell der Elementarteilchen verifizieren würde; die empirische Verifizierung dieses Modells wäre ein entscheidender Schritt zu einer vereinheitlichten Theorie, die alle Kräfte und alle Materie in einem einzigen theoretischen Gebäude beschreiben könnte. Ob die Experimente gelingen, ist offen. Der LHC hat drei Milliarden Euro gekostet. Daraus folgt ein enormer Rechtfertigungsdruck.

Das Higgs-Teilchen wird gern als „Teilchen Gottes“ bezeichnet,
und selbst, wenn es nicht gefunden würde, plädiert Karlheinz Meier, Physikprofessor an der Universität Heidelberg, für den Bau eines sicher nicht billigeren riesigen Linearbeschleunigers als Nachfolgemodell des LHC, mit folgender Begründung: „Wir dürfen nicht einfach aufgeben. Es geht schließlich um die wichtigsten Fragen der Menschheit.“ Ohne den Wert der Erkenntnis, was die Welt im Innersten zusammenhält und wie unser Universum entstanden ist, herabmindern zu wollen, darf ich doch daran erinnern, dass es noch einige andere Problembereiche gibt, die für sich in Anspruch nehmen können, zu den wichtigsten Fragen der Menschheit zu zählen. Ich muss sie nicht ausbuchstabieren.

Auf die Gefahr hin, provokant zu wirken, wiederhole ich: Es gibt keine Krise der Geisteswissenschaften, es gibt allerdings einen mehr oder minder stark ausgeprägten Rechtfertigungsdruck – und zu wenig Geld. Natürlich gibt es Probleme in den Geisteswissenschaften, natürlich gibt es unerheblich erscheinende Detailforschung und relativistisch erscheinenden Methodenpluralismus, aber es gibt auch die notwendigen Auseinandersetzungen mit den Sinnfragen der Menschheit, es gibt die Darstellungen großer historischer und kultureller Zusammenhänge, und es gibt neue, sich wechselseitig befruchtende Kooperationen mit den Naturwissenschaften.

Keine Krise also. Bleibt das Plädoyer für mehr Geld. Es ist ein Gemeinplatz, dass Natur- und Ingenieurwissenschaften kostspieliger sind als die Geisteswissenschaften. Aber allzu klein sparen darf man die Geisteswissenschaften nicht, will man nicht ihre Seriosität und Vielfalt, ihre Forschungskapazitäten und das Niveau ihrer Lehre gefährden und damit auch ihren Beitrag für Substanz und Zukunft unserer Kultur.
 

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Veröffentlicht von

Carsten Könneker Zu meiner Person: Ich habe Physik (Diplom 1998) sowie parallel Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte (Master of Arts 1997) studiert – und erinnere mich noch lebhaft, wie sich Übungen in Elektrodynamik oder Hauptseminare über Literaturtheorie anfühlen. Das spannendste interdisziplinäre Projekt, das ich initiiert und mit meinen Kollegen von Spektrum der Wissenschaft aus der Taufe gehoben habe, sind die SciLogs, auf deren Seiten Sie gerade unterwegs sind.

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