Das Ende ist nahe? Endzeit-Erwartungen als Geburtshelfer neuzeitlicher Wissenschaft

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Denk-Geschichte(n) des Glaubens
Hinter-Gründe

Wenn man so alt ist, wie ich, sollten einen Parolen vom Weltende nicht mehr unbedingt beeindrucken – zu oft immer wieder dieselben… Und wer jünger ist, kann auch aus der Geschichte ersehen, wie oft schon das „nahe Ende“ angekündigt wurde. Allein in den letzten hundert Jahren beispielsweise mit dem Beginn dem Ersten Weltkrieg, dem Sturz der mitteleuropäischen Monarchien – zusammen mit der russischen Revolution, mit der Weltwirtschaftskrise, mit dem Dritten Reich und dem zweiten Weltkrieg – mit der Judenverfolgung und  mit der Gründung des Staates Israel – mit dem beginnenden Ost-West-Konflikt  und mit dem Sturz der kommunistischen Regime – mit der (wegen der Computer 😉 ?) um ein Jahr vorverlegten Jahrtausendwende ebenso wie jetzt wegen eines Maya-Kalenders…
 

Hieronymus Bosch Jüngstes Gericht
Das Jüngste Gericht von Hieronymus Bosch.

Sehr anschaulich und abwechslungsreich 😉 dargestellt wird das beispielsweise auch in einer Bildfolge von merkur-online: „Prophezeiungen: Wann die Welt untergehen sollte“. http://www.merkur-online.de/nachrichten/welt/prophezeiungen-wann-welt-untergehen-sollte-fotostrecke-527168.html

Anlässe gab es schon genügend, an denen sich religiöse – kirchlich-gläubige oder esoterisch-exaltierte – Phantasie entzünden konnte. Und es war nicht nur religiöse Phantasie, die zündete (oder zündelte), sondern es gab auch immer wieder handfeste politische und (wirtschafts-)wissenschaftliche Berechnungen darüber, bis wann die Menschheit ihre Wohnstatt Erde unwiederbringlich zerstört hätte. Denke ich nur an die Berechnungen des Club of Rome. Diese Berechnungen waren ja nicht einfach falsch, aber die bloße Weltuntergangs-Stimmung, die sich für viele daraus ableitete, half auch nicht zu sehr: Wie oft seit den 70er-Jahren wurde schon ausgemalt, dass bis zum Jahr 2000 die Welt durch Armutskriege bzw. Kriege um die letzten Ressourcen in den Grundfesten erschüttert würde und dass bis dahin die Menschen selbstverständlich alle mit Gasmasken herumlaufen müssen. Und aus jener Zeit erinnere ich mich an ein Diktum eines damals älteren Zeitbeobachters (war es Alfred Grosser?), der über manche überspannten Aktionen der damals Jüngeren sagte: Es sei schließlich auch nicht leicht für eine Generation, in der sich viele als die Letzten der Menschheitsgeschichte vorkämen.

Nun ist es sicher gut, weiter genau zu beobachten, wodurch Klima, Umwelt  und Ressourcen, Sozialsysteme und zwischenstaatliche Stabilitäten gefährdet werden könnten. Aber es ist wohl auch gut, sich dadurch nicht in eine Weltuntergangsstimmung hineintrieben zu lassen oder sich gar masochistisch drin festzubeißen. Wenn man von solchen Stimmungen sich nicht in die Enge treiben lässt, kann man wohl auch leichter den Gefahren begegnen.
Jedenfalls dürfte es niemand gut tun, sich die Vorstellung von einem nahen Weltende wie ein Brett vor den Kopf zu nageln. Dass solche Endzeit-Erwartungen aber auch ganz andere Perspektiven öffnen können – Zukunftsperspektiven – dazu begegnete mir vor einigen Wochen das Interview mit dem Historiker Johannes Fried in zeit-online über das Mittelalter "Zwischen Himmel und Hölle" (siehe http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2010/01/Interview-Fried)

Zeit-Online

  
Das Mittelalter sei im Geistigen nicht gar so finster gewesen. Vielmehr, so betont, Fried: „Hier beginnt der Weg zur Rationalisierung der europäischen Zivilisation.“ Und das gerade zusammen mit den damaligen  Endzeiterwartungen – trotz dieser oder gerade wegen dieser nach heutiger Meinung irrationalen Vorstellungen: Sie provozierten einen ungeheuren Wissensdurst, um des erwarteten Weltendes doch irgendwie habhaft werden zu können, um die möglichen Bedrohungen doch im Voraus irgendwie berechnen zu können – durch Methoden der Mathematik und der Naturwissenschaft. Fried: „Man begann, die gesamte Welt wie ein Buch zu lesen, sie zu entziffern, um ihr die göttlichen Botschaften zu entnehmen, die auf die nahende Apokalypse hindeuteten. So entstand die moderne Naturwissenschaft – auf Beobachtung und Logik gegründet. Eschatologie, Logik und Naturwissenschaft bilden einen Zusammenhang, der bis in unsere Gegenwart hineinreicht.“

 
William OckhamSpannend, dieser damit gespannte Bogen. Und ich möchte im Anschluss an Fried betonen: Die großen Gelehrten des Mittelalters, die Naturwissenschaftler und Philosophen, die die Prinzipien modernen naturwissenschaftlichen Denkens neu zu definieren begannen und an den (gerade in der Zeit überschwappender Endzeiterwartungen neu gegründeten!) Universitäten lehrten, das waren Priester, Mönche. Wie oft hat man seitdem beispielsweise schon Ockhams Rasiermesser geschärft? Er war ein Mönch.

Diese spannenden Zusammenhänge erinnern mich an den schottischen Sozialanthropologen und Religionswissenschaftler James George Frazer (1854-1941), dessen Untersuchungen darauf hinwiesen, wie eigentlich irrationale und unverständliche Rituale und Überzeugungen doch den daran Beteiligten einen erkennbaren gesellschaftlichen Nutzen einbringen können. Siehe im Religionswissenschaftlichen Blog Michael Blumes "Natur des Glaubens": den Beitrag Weisheit aus Aberglauben – Die Frazer-Hayek-Konvergenz. Jedenfalls, viele dieser alten Vorstellungen hätten, weil an objektiven Kriterien gemessen und weil speziell die immer wieder neuen Endzeiterwartungen jedes Mal wieder neu durch den Gang der Geschichte widerlegt wurden, längst untergehen müssen. Sie haben sich aber erhalten und wurden zu Katalysatoren für durchaus bemerkenswerte Entwicklungen. Sie vernagelten nicht den Fortschritt, sondern provozierten zu denkerischen Leistungen und öffneten so die Tore immer wieder neuer Zukunft.  

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Hermann Aichele Jahrgang 1945. Studium evang. Theologie in Tübingen, Göttingen und Marburg (1964-70), Pfarrer in Württemberg, jetzt im Ruhestand. Hinter die Kulissen der Religion allgemein und besonders des in den christlichen Kirchen verkündeten Glaubens zu sehen, das war bereits schon in der Zeit vor dem Studium mein Interesse: Ich möchte klären, was gemeint ist mit den Vorstellungen des Glaubens, deren Grundmaterialien vor Jahrtausenden geformt wurden - mit deren Über-Setzung für uns Heutige man es sich keinesfalls zu leicht machen darf und denen gegenüber auch Menschen von heute nicht zu leicht fertig sein sollten.

9 Kommentare

  1. @ Geburt der Wissenschaft

    Klingt gut: “Geburt der Wissenschaft aus dem Geist der Apokalypse”.

    Wie belegt er das denn? Gibt’s da irgendwelche Einzelpersonen/Textkörper, aus denen man das direkt herauslesen kann? Was sind das für “Beobachtungen”, die der Apokalypse galten, aber zur Naturwissenschaft wurden?

  2. Naturwissenschaft zur Bestimmung des Weltendes?

    Es ist zweifellos eine interessante These, dass die Naturwissenschaft habe sich entwickelt hat, um die Zeichen des kommenden Weltendes besser bestimmen zu können. Ich muss aber zugeben, dass ich mich nicht so recht damit anfreunden kann. Die Zeichen des Weltendes, oder genauer gesagt, der Endzeit, haben die Theologen des Mittelalters aus verschiedenen, mehr oder weniger obskuren Bibelstellen und anderen Offenbarungsschriften entnommen. Dazu gehört sicherlich als Wichtigstes die Offenbarung des Johannes, und das Buch Daniel. Ich würde auch die damals populäre Schrift der Tiburtinischen Sibylle und die fälschlich dem Märtyrer Methodius zugeschriebenen “Revelationes” als Quelle vermuten. Keine dieser Schriften enthalten Details, die erst mit Hilfe einer genaueren Naturbeobachtung hätten erschlossen werden können. Die Mathematik der Berechnung des Weltendes beschränkte sich meist auf die Entnahme von Lebensdaten der Patriarchen aus der Bibel und der Rückrechnung auf das Schöpfungsdatum. Dafür reichte eigentlich schon eine einfache Addition und Multiplikation. Eine wichtiger Anstoß für die moderne Mathematik stammt dagegen aus der Notwendigkeit genauerer Wirtschaftsrechnung im Bankwesen. Die Chemie hat sich, wie gut belegt ist, aus den endlosen Experimenten der Alchemie entwickelt, und deren Ziel war die sehr materielle Gewinnung von Gold. Die Medizin hat sich überhaupt erst im 19. Jahrhundert zu ihrer modernen Form entwickelt, im Mittelalter hatte sie einen schlechteren Standard als in der Spätantike. Die Astronomie hat sich ebenfalls nicht aus der Apokalyptik entwickelt. Auch ihre Anfänge sind gut belegt. So recht finde ich also keinen Ansatz für einen Zusammenhang zwischen Weltuntergangsängsten und dem Beginn der Naturwissenschaft.
    Wilhelm von Ockham war zwar ein Mönch, aber er befasste sich nicht mit der Berechnung des Weltendes. Er war außerdem wegen Häresie vom Papst exkommuniziert worden.
    Als letztes möchte ich darauf hinweisen, dass gerade im Mittelalter die Scholastik als wichtigste wissenschaftliche Methode galt. Sie war aber eher ein Hindernis für Theorien, denn legt den Schwerpunkt auf die Einordnung von Beobachtungen in bestehende Schemata, während die Naturwissenschaft ihre Beobachtungen zum Ausgangspunkt neuer und verbesserter Schemata und Theorien nimmt. Insgesamt kann ich im Moment nicht so recht erkennen, wie sich die Erwartung der Endzeit auf die Entwicklung der Naturwissenschaft ausgewirkt hat. Vielleicht habe ich Sie aber auch missverstanden. Wären Sie wohl so nett, ihre These noch einmal an einem Beispiel zu erläutern?

  3. Nachgehakt – Danke!

    Dank, für den Dank und Dank der Nachfragen. Fange ich mit dem letzten Kommentar an @Helmut Wicht:
    Meinerseits war es schon Vorsicht, von „Geburts-Helfern“ zu schreiben; und nicht von Wissenschaft überhaupt sondern von „neuzeitlicher Wissenschaft“. Dass es in der „Zeit“ zu der Formulierung kommt „Geburt der Wissenschaft aus dem Geist der Apokalypse“ kommt, geht mir auch etwas weit. Aber Johannes Fried wird es ja genehmigt haben. Ein Buchtitel von ihm formuliert etwas vorsichtiger: „Aufstieg aus dem Untergang: Apokalyptisches Denken und [!] die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter“
    Ich bezog mich nur auf sein Interview. Darin behauptet er nicht, dass apokalyptisches Denken direkt eine Vorform der neuzeitlichen Wissenschaft ist, aber dass es denkerische (philologische, philosophische und naturwissenschaftliche) Bemühungen herausforderte, provozierte, die der neuzeitlichen Form von Wissenschaft den Weg bereiteten. Dabei ist natürlich mit zu bedenken, dass ja einiges aus der griechischen Wissenschaft des Altertums aufzuarbeiten war. Fried betont in seinem Interview am meisten, dass die Leute ihren Aristoteles neu zu lesen begannen Und diesen Schatz bewahrten mehrheitlich arabische Gelehrte auf. Die Geburt der neuzeitlichen Wissenschaft für Europa geschah dann durchaus unter Assistenz mittelalterlicher Gelehrsamkeit – wenigstens leiteten mittelalterliche Gelehrte die Geburtswehen ein. Und ich fügte – natürlich nicht ohne Absicht – dazu: Dies geschah durch Gelehrte, die in kirchlichen Denkformen dachten.
    Und damit bin ich bei den ausführlichen Einwänden von @Thomas Grüter. Auch danke!
    Ich unterstelle, dass Fried das Verhältnis von Apokalyptik und Naturwissenschaft dialektischer sah. Sage ich es so: Natürlich haben die Theologen des Mittelalters ihre apokalyptischen Vorstellungen aus allen möglichen und unmöglichen Quellen bezogen. In diesen sind selbstverständlich keine naturwissenschaftlich verwertbaren Aussagen. Aber es spielen ja – neben den von Ihnen genannten Lebensdaten der Patriarchen bzw. der Berechnung, wie lange es seit den ersten Schöpfungstagen her sei – auch verschiedenste Zeichen der Endzeit eine Rolle: Heuschrecken, Sonnenfinsternisse, Erdbeben, astronomische bzw. astrologische Erscheinungen, auffälliges Wetter… Da bringt Fried einige Beispiele, die ich jetzt aber nicht aufzählen kann; und bei denen ich noch nicht ersehe, wie systematisch sie bei ihm ausgewertet wurden. Jedenfalls, diese Erfahrungen, jeweils aktuellen Beobachtungen…und eben auch die daraus resultierenden Berechnungen waren anscheinend, wie ich Fried entnehme, erstens in sich so widersprüchlich, dass es die verschiedensten konkurrierenden Deutungen gab, die dann zweitens eben doch empirisch (noch nicht wissenschaftlich im heutigen Sinn!) nachgeprüft wurden: Aha, diese Katastrophe ist lokal begrenzt und sie hängt mit diesen oder jenen Bedingungen zusammen; und seitdem ist so und so viel Zeit vergangen; wir dürfen sie anscheinend nicht als Zeichen der Endzeit bewerten… So hätten die konkurrierenden Deutungen genaueren Berechnungen Impulse gegeben.
    Schließlich, setze ich hinzu, gab es ja in der Scholastik ja eine neu beginnende Disputationskultur, in der es immer mehr auf Klarheit der Begriffe und Nachprüfbarkeit der Argumente – auch der Denkschemata! – ankam. Das zusammengenommen ist noch keine Wissenschaft, kann aber wissenschaftlichem Denken zur Geburt verhelfen. Auch die moderne Wissenschaft ist ja nicht durch Selbstzeugung entstanden 😉 und schon fertig ans Licht der Welt getreten wie Athene aus der Stirn des Zeus kam.
    William von Ockham fügte ich um der aktuellen Bezüge willen ein. Dass er in gewissen machtpolitischen Zusammenhängen als Ketzer verurteilt wurde, macht ihn mir nur sympathisch. Denkfaule wurden nicht als Ketzer verurteilt. Die Wahrheit liegt nicht unbedingt in den Machzentralen. Aber er war doch einer, der in mittelalterlichen/katholischen Denkformen dachte. Und war als solcher ein wichtiger Wegbereiter der Neuzeit.
    Beste Grüße ringsum
    H.Aichele

  4. Newton

    Wunderschöner Beitrag zu einer spannenden These.

    Vor einiger Zeit stieß ich mal auf entsprechende Berichte im Bezug auf Newton, der ja ebenfalls ein wichtiger Wegbereiter moderner Wissenschaft und andererseits ein durch und durch mystisch angehauchter Mensch auf der Suche nach göttlichen Formeln, Endzeitberechnungen etc. war.

    Bisher sah ich das als eher unverbundene Sphären, der Post hier macht mich aber etwas nachdenklicher. Weiß da jemand etwas Genaueres über Newton? (Oder wäre das vielleicht mal eine hinter-gründige Idee fürs Deinen Blog, Hermann? 😉 )

  5. Newton @Michael Blume

    Danke, Michael. Die Idee zu diesem Beitrag entstand übrigens bei einem Tischgespräch in Deidesheim.

    Zu Newton überflog ich auch einige Dinge, die im Internet zu finden sind. Und J.Fried erwähnt ihn ausdrücklich in seinem Interview. Ich stieß aber auch auf einen Artikel, der an dem gängigen Bild kratzt, Newton habe apokalyptische Vorstellungen aus eigenem Interesse gepflegt:http://www.achgut.com/…newton_ein_endzeitprophet
    Vielleicht waren also seine Darstellungen (wissenschafts-) politisches Kalkül. Müsste man wohl genauer sehen. Und ob ich die damit geknüpften Knoten entwirren kann? Vielleicht eher was für Wolfgang Achtner?
    Guten Abend…
    Hermann

  6. Zeichen der Endzeit

    Vielen Dank für die ausführliche Erwiderung, Herr Aichele. Ich bin aber nach wie vor nicht überzeugt. Ich werde mir das Buch von Herrn Fried ausleihen und gründlich lesen. Dennoch scheint mit die Naturbeobachtung mit dem Ziel, Katastrophen als sporadisch oder endzeitlich einordnen zu können, eine doch sehr untergeordnete Rolle bei der Geburt der Naturwissenschaften zu spielen. Die Entfaltung der Naturwissenschaften ist eigentlich gut dokumentiert, sie entstanden über Jahrhunderte mit gut bekannten Zwischenschritten. Ihre Entwicklung ist also nicht etwa rätselhaft, so dass es einen Mangel an Erklärungen gäbe, dem neue Theorien abhelfen müssten. Aber wie gesagt, ich werde erstmal einen Blick in das Buch von Herrn Fried werfen.

  7. Naturwissenschaft und Eschatologie

    Sehr geehrter Herr Aichele,
    ich würde das Zitat von Herrn Fried über die Anstöße zur Entstehung der modernen Naturwissenschaft nicht so ernst nehmen. Es sieht nicht so aus, dass er die Essenz naturwissenschaftlichen Denkens sehr verinnerlicht hat. Bei meinen Studien zur Geschichte der Physik ist mir die Eschatologie nie als ein besonders wichtiges Thema unter gekommen, die Triebfedern waren ganz andere Fragen. Ich kann den Gedanken von Herrn Grüter nur beistimmen. Scholastik und Naturerklärung auf der Basis der Bibel wurde bei Galilei ja gerade überwunden, er las für seine Studien nicht im” Buch der Bücher”, sondern im “Buch der Natur”.
    Mit freundlichem Gruß
    Josef Honerkamp

  8. Anti-These? @J.Honerkamp

    Ja, sehr geehrter Herr Honerkamp,
    über-bewerten hoffentlich wirklich nicht. Danke! Ihr diesbezüglicher Warnhinweis ist sicher angebracht. Aber doch wohl ernst nehmen.
    Nun, dass die Überschriften zu den Ausführungen Joachim Frieds etwas unvorsichtig sind, merkte ich ja schon an. Fried selbst scheint zurückhaltender. Insgesamt scheint mir der Fokus seiner Ausführungen auch nicht direkt die Apokalyptik zu sein sondern eine Ehrenrettung des Mittelalters: Seine Denker verbohrten sich nicht in Irrationalität. Sondern mitten drin entstand (neu) sehr rationales Denken; auch mitten drin in apokalyptischer Aufgeregtheit. Deren (irrationale) Fragestellungen forderten rationale Antworten. Und förderten sie (auf durchaus paradoxe Weise) auch. Darauf kam es mir an – mit meiner Zusatzbemerkung, dass ja gerade auch die Scholastik mit ihrer Disputationskultur rationale Argumentation schulte.
    Ich würde auch von mir aus noch einige wichtige andere Triebfedern zur Entwicklung neuzeitlicher Wissenschaft nennen: Die Größe der Staaten und der in ehemals „barbarischen“ Ländern neu zu organisierenden Städte; die Ausweitung der Handelsbeziehungen. Die Konflikte/Kriege zwischen konkurrierenden mächtigen Blöcken – Westrom/ Ostrom/ Islamische Expansion/ Kreuzzüge.
    Im Zuge dessen im Westen die Neuentdeckung griechischer Wissenschaft und die Übernahme arabischer Zahlen und Rechenkunst. Dazu – für die Entwicklung der Wissenschaft doch recht wesentlich: Die Forschung und erste Theorien durch praktische Experimentieren – Beispiel Optik (die ja schließlich auch Galilei gebrauchen konnte): Dietrich von Feiberg, Roger Bacon und Albertus Magnus. Voraussetzung für Wissenschaft auch: Die in den Städten so erst mögliche Handwerkskunst, verbesserte Messapparate – schließlich der Buchdruck.
    Gerade Sie wissen sicher dazu noch einige andere Faktoren zu benennen, die ich nicht kleinreden möchte – ich doch nicht; und Joachim Fried doch wohl auch nicht. Was ich dabei aber betonen wollte: Das war alles nicht außerhalb christlichen Denken und nicht in Gegnerschaft zu ihm entstanden. Sondern da gab es Schubkräfte, die (teils direkt und teils paradox) aus dem christlichen Glauben kommen. So viel ich weiß, verstand sich nicht einmal Galilei (trotz aller Gegnerschaft der kirchlichen Hierarchie) als Gegner des christlichen Glaubens. Einen Gegensatz zwischen dem „Buch der Bücher“ und dem „Buch der Natur“ hätte er (und seine Zeitgenossen, siehe Kepler) nicht als so tiefen Graben aufreißen wollen. Dass dies nachträglich so erscheint, hängt wohl eher mit der Borniertheit der Macht zusammen als mit dem Denken des Glaubens.
    Schöne Grüße in den Mai – die neu aufblühende Natur…
    Hermann A.

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