Heimat und Identität: Türken, sie sind doch unsere Nachbarn…

BLOG: Hinter-Gründe

Denk-Geschichte(n) des Glaubens
Hinter-Gründe

Ein vielleicht 8-jähriger Junge, den ich „doch von irgendwo her“ kennen hätte müssen, kam beim Einkaufen auf mich zu. Es war gegen Ende meiner Tätigkeit als Pfarrer in der früheren Gemeinde im Zabergäu, Südrand des Kreises Heilbronn. Er stellte sich mir fröhlich in den Weg und grinste mich an: Heimat und IdentitätJa, er kenne mich aus der Schule, aber sei nicht bei mir „in der Religion“ gewesen, denn er sei Türke. Mich kenne er aber. „Bist du froh, Türke zu sein?“, fragte ich ihn. Bei seinen vertrauensvoll strahlenden Augen meinte ich, ihm eine etwas selbstbewusste Äußerung entlocken zu können. „Nein“ kam es ziemlich unvermittelt heraus, „denn die Deutschen sind gegen mich, ich habe bei denen keinen Freund.“ „Keinen Freund? Nun, so schlimm wird es nicht sein“, versuchte ich den Einwand abzuschwächen, „in der Schule; in eurer Klasse macht ihr sicher viel schöne Sachen miteinander.“ Aber die Trauer, die da plötzlich aus den vorher so strahlenden Augen herausbrach, war nicht zu übersehen, nicht mehr zu überspielen.
An ihn muss ich immer wieder denken, bei verschiedenen Diskussionen und Themen der letzten Jahre, ob Karikaturenstreit oder Sarrazin, Streit um Moscheebau in Vorderhintertupfingen, Köln oder New York oder um Terrorismus.

Eine Gruppe türkischer Jugendlicher –
Tanz in der Brackenheimer Johanneskirche
zun Festvortrag von Dekan Dr.Werner-Ulrich Deetjen (s.u.)
über SADOK SELIM 

Kinder  u n s e r e r  Welt
Da werden Kinder irgendwo in einem deutschen Kreißsaal geboren. Wachsen auf zwischen türkischem Fernsehen und deutschen Nachbarn, die womöglich deren Namen nicht wissen wollen – sind eben pauschal „die Türken.“ "Sollen doch dorthin, wo sie hergekommen sind…", hören sie schon früh. Wohin denn? Zum Vetter ihres Vaters in Anatolien? Sie haben womöglich längst die deutsche Staatsangehörigkeit, hören von Gleichberechtigung und bekommen doch auf Schritt und Tritt zu spüren, dass sie „nicht so richtig“ dazu gehören. Und wissen auch selbst, dass man es immer an ihrer Sprechweise hören wird: Deutsch ist nicht die Sprache ihrer Mütter.
Ist doch so, dass gerade Kinder und Jugendliche, die ihren Weg erst finden müssen, leicht beeindruckt werden von den offensichtlichen und den versteckten Grenzen und Zäunen, die sie bereits vorfinden, bevor sie laufen können. Manche brechen aus, oder schließen sich zu Gangs zusammen. Viele verstehen ihre Eltern nicht mehr, die für sie traditionellerweise Respektspersonen zu sein beanspruchen, die sich aber in vielem viel weniger auskennen. Und einige suchen die verloren gegangenen Antworten in ihrer Religion. Doch der Imam, oft mit einem viel zu kurzfristigen Auslandsauftrag von der türkischen Religionsbehörde entsandt, kann noch weniger Deutsch. Die arabischen Gebete und die in Deutschland gültigen Gebetszeiten kennt er. Aber er kennt sich hierzulande nicht so aus, wie es nötig und angemessen wäre. Und auf die drängenden Fragen von Jugendlichen wird er immer wieder nur unsicher antworten können.

Doch die viel zu „sicheren“ Antworten der schrecklichen Vereinfacher gibt es. Und schon die Jungen bekommen gezielte Hinweise mit, dass unsere westlichen Werte immer so angewandt würden, dass Moslems dabei gedemütigt werden müssen: Ganz klar, 9/11 seien „die Juden“ und „der CIA“ gewesen. Die Kriege in Bosnien, Tschetschenien und Afghanistan „natürlich“ gegen den Islam. Die Menschenrechte ? Nicht für Moslems, man brauche nur an Guantanamo zu denken… Und die Karikaturen? Mit uns kann man das ja machen. Mit Juden würden sie es so nicht machen.
Mit vereinfachenden Schlagworten wird ein unheilvolles Weltbild zusammen gebraut, braut sich zusammen. Verständlich, wenn man sich mit Außenstehenden darüber nicht verständigen kann. Ja, unter Seinesgleichen wird man immer wieder Gleichgesinnte finden. Schrecklich, wenn dann die Antworten erst recht und gerade zum Trotz im Islamismus gesucht und gefunden werden. Und wenn das dann in einem weiteren Schritt zur Gewaltbereitschaft führt.

Weiter denken
So weit muss es nicht kommen. Aber genau deshalb braucht es Leute, die weiter denken: Wie wird dieses Kind, aus dem die Trauer herausbricht, dass er „bei den Deutschen keinen Freund“ habe, dann als junger Mann – vielleicht in 10, 20 Jahren – mit seinen jetzt unbeantworteten Fragen und Enttäuschungen umgehen? Wird er noch mehr solcher Erfahrungen einsammeln oder mehr andere?
Jedenfalls müssen auch wir sehen, wie Menschen, deren Wertvorstellungen durch so viele Veränderungen hindurch müssen, hier zurechtkommen. Da kann es nur gut sein, wenn auch in verschiedenen Organisationen und Institutionen weiter gedacht wird, in die Zukunft voraus gedacht. Die Kirchen können unabhängig von direkten politischen Zwängen ihren Beitrag leisten. Und sie tun es.
Bereits vor 4 Jahren, im März 2006, verabschiedete die Landessynode der Evang. Kirche in Württemberg eine eindeutige Erklärung. In der heißt es u. a.: „Schon mit der Zustimmung zur Charta Oecumenica hat sich unsere Landeskirche in ökumenischer Gemeinschaft mit anderen europäischen Kirchen verpflichtet, den Muslimen mit Wertschätzung zu begegnen und bei gemeinsamen Anliegen mit ihnen zusammenzuarbeiten.“ Auch die Kirchenbezirke und die Kirchengemeinden werden ausdrücklich ermutigt, das Gespräch zu fördern, „z. B. bei Begegnungen in Kindergärten, in der Frauen- oder Jugendarbeit oder Erwachsenenbildung“. Dass das ein langwieriger Weg werden kann, das ist – nachdem man lange, zu lange auch achtlos nebeneinander her gelebt hat – klar. Und klar ist auch: Bevor man ans Gespräch über inhaltliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen den Religionen kommen kann, muss man einfach zuerst einmal aufmerksam auf die Menschen mit ihren sehr verschiedenen Geschichten zu achten und sie eben als Menschen zu achten lernen.

Im Kirchenbezirk Brackenheim
im Kreis Heilbronn haben Pfarrer mit dem damaligen Dekan Dr. Werner-Ulrich Deetjen (vgl. „Heimat und Identität“ Nr. 01/10, Seite 20) länger schon das Gespräch mit Moslems gesucht. Zunächst hoch offiziell und mit vielerlei theologischen Grundsatzfragen, dafür aber zu selten, um einander wirklich im konkreten Alltag zu begegnen. Seit Januar 2006 intensiver, besonders mit Vertretern der Güglinger DITIB-Moschee. Und eben nicht mehr nur der Pfarrerschaft oder der „Offiziellen“ auf türkischer Seite, sondern mit am Dialog interessierter Gemeindegliedern und mit Leuten, die in der Öffentlichkeit, in Jugend- und Sozialarbeit engagiert sind. Das ganze auch ökumenisch, d.h. gemeinsam mit der katholischen Kirche organisiert.

Ein türkisch-deutscher Arbeitskreis wurde gebildet, der kleinere Kennenlern-Runden und Begegnungen auf verschiedenen Ebenen organisiert hat. Herausragende Beispiele sind Begegnungsfeste in einer kommunalen Mehrzweckhalle mit 200 bis 400 Teilnehmern, jeweils im Spätherbst. Aber es ging nie nur um Feste mit Essen und Trinken; sondern um die Förderung informeller und dann auch intensiverer Gespräche. Und da geschieht manches, besonders auf der Zwischenebene zwischen kommunalen Entscheidungsträgern und Leuten, die etwas am sozialen Klima machen können.
„Nur umeinander zu sagen, dass wir einander „nett" finden, wollen wir nicht zusammenkommen“ sagte dazu ein Vertreter der türkischen Seite, „dafür wäre mir die Zeit zu schade“. Und das stimmt auch: Es geht darum, einander so kennen zu lernen, dass man auch in Konfliktsituationen weiß, dass und wie man diese gemeinsam bewältigen kann anstatt sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Etwa: Eure Jugendlichen haben sich gegen unsere verbündet – wir müssen deshalb einander nicht aus dem Weg gehen, sondern die Sache miteinander angehen.
Es hat ja da und dort auch schon gebrannt. Die Brandanschläge in Mölln (1992) und Solingen (1993) – für mich einmal der Auslöser, Gesprächsbereitschaft immer wieder auch auf unserer Seite einzufordern – sind auf türkischer Seite leichter erinnerlich als auf deutscher. So weit muss es nicht überall kommen; und erst recht nicht zu terroristischem Massenmord.
Aber auch so wird vieles nicht konfliktfrei abgehen können. Da ist es gut, rechtzeitig sich darin zu üben, dass auch Konflikte nur gemeinsam zu lösen sind. Und wenn man schon Parallelgesellschaften und Gettoisierung vermeiden will, dann jetzt nicht mehr länger zuzuwarten, sondern jetzt etwas dafür zu tun.

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Veröffentlicht von

Hermann Aichele Jahrgang 1945. Studium evang. Theologie in Tübingen, Göttingen und Marburg (1964-70), Pfarrer in Württemberg, jetzt im Ruhestand. Hinter die Kulissen der Religion allgemein und besonders des in den christlichen Kirchen verkündeten Glaubens zu sehen, das war bereits schon in der Zeit vor dem Studium mein Interesse: Ich möchte klären, was gemeint ist mit den Vorstellungen des Glaubens, deren Grundmaterialien vor Jahrtausenden geformt wurden - mit deren Über-Setzung für uns Heutige man es sich keinesfalls zu leicht machen darf und denen gegenüber auch Menschen von heute nicht zu leicht fertig sein sollten.

1 Kommentar

  1. @Hermann

    Gerade in diesen Tagen des populären Post-Sarrazin-Muslim-Bashing ist dieser Post absolut wichtig und auch menschlich geschrieben und schön. Wenn der eine oder die andere darüber ins Nachdenken käme, wäre das doch schon etwas!

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