“Religion für Atheisten” – A. de Bottons freundliche Provokationen

BLOG: Hinter-Gründe

Denk-Geschichte(n) des Glaubens
Hinter-Gründe

Der Streit um Theismus und Atheismus, zwischen Christen verschiedener Konfessionen und Religionslosen verschiedener Couleur ist manchmal nervtötend. Sagte anscheinend doch schon Heinrich Böll, er habe was gegen Atheisten, weil die so viel von Gott redeten. Nun, es soll gelegentlich auch vorkommen, dass mancher Streit sogar der Wahrheitsfindung dient. Aber es gibt eben immer wieder auch pubertär wirkende Trotzreaktionen – ängstliches Beharren auf einmal gewonnenen Einsichten und bloß hämisches Abwerten der jeweils Anderen mit fadenscheinigen Argumenten und billigen Triumphen über die tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner. Das macht bisweilen müde; und seit ich mehr Zeit im Netz investieren kann, sehe ich erst, wie vielfältig die Irrwege und Bosheiten auch auf der eigenen Seite sein können. Oh Gott, bewahre mich vor manchen deiner Freunde. Besonders vor denen, die mit brutaler Borniertheit ihre Gegner bekämpfen. Aber auch vor denen, die in den von ihnen vermuteten Lücken der Naturwissenschaft irgendwelche speziellen Pflänzchen ihrer theologischen Ontologie pflegen wollen.

Alain de BottonNun sehe ich eine interessante Wendung: Alain de Botton, englischer Schriftsteller, der in seinen Werken versucht, Philosophie einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen – er hat sich jetzt als erklärter Atheist die Religion vorgenommen. Und das nicht in der aggressiv-intoleranten Weise, die er auf beiden Seiten benennt und beklagt. Sondern er will die Religionen verstehen und verständlich machen. Denn sie seien zu wichtig, um sie den Religiösen allein zu überlassen. Solche Sätze lassen aufhorchen.
In verschiedenen Vorträgen und Auftritten machte er schon seine Ideen publik, jetzt mit einem neuen Buch:
    „Religion for Atheists“ – 
A non-believer’s guide to the uses of religion.

Das Buch selber konnte ich bis jetzt nicht lesen *) – aber ich verfolge derzeit mit Spannung und Interesse über Twitter die Bewerbung dieses Buches, die auf vollen Touren läuft und mannigfache Reaktionen hervorruft. Dazu die unten angegebenen Veröffentlichungen. 

Cover Religion for Atheists

Damit und mit diesem Buch und seinem widersprüchlich formulierten Titel will de Botton freundlich provozieren. Und für die Absicht werben: den Religionen mögliche wertvolle Einsichten abzulauschen, nach ihren positiven Effekten zu sehen – diese klug heraus zu fischen, sie von ihren überholten weltanschaulichen, abergläubischen… Vorstellungen zu befreien; und sie schließlich in einem aufgeklärten – eben atheistischen –  Zusammenhang neu zu gestalten.

Information oder Lebens-Orientierung?

Worum geht es ihm dabei? Nicht um diese oder jene Richtigkeit und ontologische Diskussionen. Was an Religionen „wahr“ sei oder nicht – diese Fragen seien entsetzlich langweilig. Nicht darin sollte man sich verbeißen wie fanatische Gläubige oder ebenso fanatische Atheisten. Sondern darauf achten, was Religionen zu leisten vermögen, und zwar dem Einzelnen zugut ebenso wie der Gemeinschaft. Dem Einzelnen: dass er sich tieferen Fragen des Lebens stellen kann und Anregungen finden zur Lebensgestaltung – Lebensorientierung und Ermutigung zum Leben. Ja und darüber hinaus: die Stärkung der Gemeinschaftsfähigkeit ihrer Mitglieder, ihre Motivation für gemeinsame Ziele. Derartiges würde zwar in atheistischen Kreisen auch thematisiert und von vielen hoch gehalten; doch werde hier vorausgesetzt, Information und Aufklärung über Zusammenhänge allein würden schon ausreichen, die Menschen besser zusammen zu bringen und sie besser zu machen. In Religionen aber würden zu Lebensfragen nicht nur Daten vermittelt sondern konkrete Lebenshilfe. Sie informierten nicht nur über Einsichten, sondern übten diese auch ritualisiert ein; unter anderem durch eine Strukturierung der Zeit: die Knotenpunkte im Jahreskalender oder in Festen zu Lebensstadien. Religion also um dieser nützlichen Funktionen willen, die es klug zu beerben gelte.

Ambivalente Reaktionen
Nun, es ist spannend. Manche erklärte Religionshasser, denen es wichtig ist, Religionen nur nieder zu machen – Leute aus Nord-Oxford nennt sie de Botton – finden natürlich alles absurd. Besonders sie dürften emotional so auf ihre rationale Welterkenntnis fixiert sein, dass sie die von de Botton wahrgenommenen Lebensbedürfnisse – Freude an religiösen Liedern und Architektur zum Beispiel – nicht in ihre kämpferische Strategie einbeziehen können. Und für manche ist er erledigt, seit ruchbar wird, er schlage allen Ernstes einen (oder mehrere? ) Tempel für Atheisten vor. Dabei will er sicher nicht nur kopieren, was sonst in Kirchen und Tempeln zelebriert wird. Aber er spielt produktiv mit Gedanken, was man mit Gebäuden anfangen kann, etwa zur Meditation über die Größe und die Abgründe des Menschsein und was man unternehmen kann gegen die krank machende Vereinzelung vieler. Doch auch hier geilen sich manche schnell an Stichworten auf, deren Umfeld sorgfältiger abgetastet werden müsste.

Für mich ist natürlich die Rezeption auf der anderen, der religiösen Seite interessant. Intensiv wahrgenommen wurde de Botton hierzulande wohl noch nicht. Und was ich bisher davon wahrnahm, nimmt ihn wohl nicht besonders ernst: Das könne doch nicht funktionieren – das bleibe doch nur äußerlich, das sei Selbstbetrug und natürlich erst recht schamloser Betrug an anderen: Religion ohne die zentralen Glaubenswahrheiten, Religion ohne Gott…
Nun, dieser Beitrag soll wenigstens im deutschsprachigen Bereich die Wahrnehmung steigern.

Auch meine Reaktion
kann ich nur gespalten darstellen:
Einerseits kann ich mich natürlich freuen, wenn da ein Atheist auch an Religionen ein paar gute Fäden lässt – mit ihnen nicht so leicht fertig ist. Der Mann versteht was von Geschichte und Philosophie und kann differenziert sehen. Damit ist er aber auch ernster zu nehmen als manches andere bisher. Er hat seine Philosophie- und Geschichtskenntnisse nicht nachträglich wie ein Kartenhaus um ein ansonsten fertiges atheistisches Konzept herum aufgebaut und er kommt nicht nur mit (spät-)pubertären Trotzreaktionen. Von seiner Biographie her, aufgewachsen in einem atheistischen Elternhaus mit jüdischem Hintergrund, hat er’s auch nicht nötig.

Begegnung Astronauten Gibson-Dezhurov
Manche Begegnung
sieht einfach aus, ist es aber nicht 😉

Andererseits: Dass er der Religion so verständnisvoll, aufmerksam und freundlich begegnen will – das könnte zu einem Versuch einer freundlichen oder feindlichen Übernahme führen. Er sagt ja selbst, man solle die Religionen um ihre besten Ideen bestehlen und sie in ein eigenes System einbauen. Vielleicht wird manchen Christen dadurch auch erst wieder bewusst, welches Potenzial sie in ihren Schatzkammern haben?
Es könnte aber wiederum auch an einen Arzt erinnern, der sagt: Ich habe dich besser durchschaut als du dich selbst. Und dazu führen, dass Leute wie er die Agenda der Begegnung zwischen Religionen und Atheismus vorbestimmen: So wie bisher alles fixiert war auf die ontologischen Fragen, was es denn wirklich „gibt“, was denn wirklich geschehen und wirklich wahr sei – so könnte der Nachdruck, den de Botton auf die Verhaltensweisen und ihre ritualisierte Aneignung legt, zu sehr nur zur Bedürfnisbefriedigung ohne Reflexion der Wahrheitsfrage werden.
Vielleicht geht es doch mehr um Bedürfnisse als um Dogmen – so wie es de Botton sagt: Auch wer mit der Trinitätslehre nicht zurechtkommt, will ja die Weihnachtslieder und die Kathedralen lieben. Nun, wenn Christen sehen, dass der Treibstoff ihrer Unternehmungen doch wesentlich in diesen Bedürfnissen liegt (und dass eine doch noch sehr weitgehende Sympathie in der Bevölkerung zu ihren Festen und Traditionen nicht als Lackmustest in der Wahrheitsfrage geeignet ist) – das kann man positiv sehen oder eben auch zwiespältig. Aber eine solche Sicht kommt nach meiner Beobachtung sehr vielen auch hierzulande entgegen. Und die derzeitige Resonanz bei den anscheinend durchweg ausgebuchten Vorträgen de Bottons in England und aktuell in Australien beweist es dort.
Es ist an der Zeit, aufmerksam darauf zu achten, was sich da entwickelt. Und klug zu sehen, was sich daraus machen lässt.

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*)  Wären ein bisschen viele Seiten –  in pure English, oh poor old man 😉
Aber folgende Veröffentlichungen – von Alain de Botton und Interviews mit ihm – kann ich angeben:

Atheism 2.0: Don’t get god, get good

Why religion is too important to be left to the religious

Religion for Everyone

everguide, Interview with Alain de Boton

one & other, Interview “Religion for Atheists”

Nachtrag zum “Temple for atheists” – Erklärung zu Missverständnissen in der (atheistischen) Öffentlichkeit –
in “Blog special” von Richard Wisemann

Aus genannten Gründen werde ich auch daraus de Botton nicht im originalen Englisch zitieren und wenig in direkten Zitaten, sondern auf Deutsch und in referierender Weise.

Bildnachweis:

De Botton:
By Barry Carlyon (http://barrycarlyon.co.uk/wordpress/) y Danielle Tanton (http://www.danielletanton.co.uk/) [CC-BY-SA-2.0-uk (www.creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/uk/deed.en) or CC-BY-SA-3.0 (www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Buch-Cover:
Von de Bottons Seiten: http://www.alaindebotton.com

Begegnung der Astronauten Gibson und Dezhurov am 17. Juli 1975:
By NASA (Great Images in NASA Description), via Wikimedia Commons

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Veröffentlicht von

Hermann Aichele Jahrgang 1945. Studium evang. Theologie in Tübingen, Göttingen und Marburg (1964-70), Pfarrer in Württemberg, jetzt im Ruhestand. Hinter die Kulissen der Religion allgemein und besonders des in den christlichen Kirchen verkündeten Glaubens zu sehen, das war bereits schon in der Zeit vor dem Studium mein Interesse: Ich möchte klären, was gemeint ist mit den Vorstellungen des Glaubens, deren Grundmaterialien vor Jahrtausenden geformt wurden - mit deren Über-Setzung für uns Heutige man es sich keinesfalls zu leicht machen darf und denen gegenüber auch Menschen von heute nicht zu leicht fertig sein sollten.

40 Kommentare

  1. Danke

    Ich habe von dem Ansatz und insbesondere den Diskussionen um den angedachten “Tempel für Atheisten” in den englischsprachigen Blogs bereits gelesen – aber Dein Beitrag hier gefällt mir deutlich besser. Wird spannend sein, ob de Botton auch im deutschsprachigen Raum ein paar Köpfe aus ihren geistigen Schützengräben zu holen vermag…

  2. Nicht alles ist neu, was glänzt

    Ohne de Botton abzuwerten: aber so neu ist das alles nicht – auch ein atheistisches Kloster ist ja schon lange in der Diskussion, ein Tempel da nur konsequent. Auch das Verstehen der Funktionalität von Religionen gehört ja zum Atheismus, gerade auch in bezug auf den Einzelnen. Man denke nur an den sprituellen Atheismus. Atheismus versteht sich ja als Weiterentwicklung und Überwindung der Religionen – und muss deswegen natürlich das Wesen des Religiösen wahrnehmen. Kann es sein, das Theisten nur die laut bollernden Atheisten wahrnehmen (wollen)? Es ist ist aber nach wie vor so, das Theisten von Atheismus nicht lernen wollen.

  3. Man muß m. E. zwei Dinge gut unterscheiden:

    1. Es ist oft als ein Kennzeichen des Konservativismus des 20. Jahrhunderts bezeichnet worden, daß er die Religion funktionalisiert. Das, was man „Glaubensinhalte“ nennt, ist den konservativen Theoretikern gleichgültig geworden, aber um so mehr halten sie von der sozialen Funktion der Religion: Sie dient dazu, die Menschen in die ihnen vorgegebene Gemeinschaft, am ihnen vorgegebenen Platz, einzufügen. Im Prinzip nicht anders ist die Funktionalisierung der Religion durch die Linke: Sie sensibilisiert gegen Ungerechtigkeit, sie kann Kraft für den revolutionären Kampf verleihen usw.

    2. Die „Glaubensinhalte“ sind in einem nicht-religiösen Rahmen „aufgehoben“. Da scheint mir wieder zweierlei möglich:
    (a) Das Aufheben kann man in einem Hegel-Marx’schen Sinn verstehen (sie sind enthalten, aber zugleich negiert, sind verändert und verbessert, auf eine neue Stufe gehoben). So etwa hat es wohl Ernst Bloch gemeint.
    (b) Man kann es aber auch so verstehen, daß es sich um die gleiche Sache handelt, nur in andere Sprache ausgedrückt oder aus anderer Perspektive gesehen. Das ist manchmal gemeint, wenn gesagt wird, im Begriff der Menschenwürde sei das heute präsent, was im Begriff der Gottesebenbildlichkeit gemeint war (ob das stimmt, ist eine andere Frage), oder in der berühmten Religionsdefinition Kants: Erkenntnis all unserer Pflichten als göttlicher Gebote. Da ist nicht gemeint, daß „göttliche Gebote“ falsch ist, (vom autonomen Subjekt selbst gesetzte) „Pflichten“ dagegen richtig (auch wenn ersteres ohne den Gedanken der Autonomie tatsächlich falsch ist), oder daß ersteres in letzterem „aufgehoben“ ist in einem Hegel’schen Sinn, sondern das letztere ist auch richtig, es verdankt sich, sozusagen, nur dem Blick von einer anderen Seite.

    Was von beidem (oder von den drei Möglichkeiten) ist nun in der von de Botton angestoßenen Diskussion gemeint? Kann es sein, daß das Unbehagen von Hermann Aichele daher kommt, daß er (1) befürchtet, oder wäre es bei (2) auch nicht anders?

  4. Bloße Theorie?

    “Er sagt ja selbst, man solle die Religionen um ihre besten Ideen bestehlen und sie in ein eigenes System einbauen.” Geht es ein wenig konkreter? Was sollen denn diese besten Ideen sein?

    Natürlich ist Kirche mehr als Glauben und gerade die Kirchen selbst hätten ja die besten Voraussetzungen Angebote ohne Glaubenszumutungen zu machen. Aber die Tendenz scheint mir doch eher die zu sein, sich gemeinsam mit den Bigotten und Fundamentalen hinter der Kirchenmauer zu verschanzen.

    Ich glaube nicht, dass sich atheistische Tempel durchsetzen werden. Zum einen haben wir schon nichtkirchliche Begegnungs- und Bildungsstätten und wer einen strukturierten Woche- und Jahreslauf braucht, kann ja in einen Sportverein gehen. Als Initiationsriten haben wir Abi-Partys und Führerscheinprüfungen.

    Also mir hängt da zu wenig Fleisch an dieser Philosophie – ode rich habe zu wenig Fantasie.

  5. Betreff

    “Sondern darauf achten, was Religionen zu leisten vermögen,”

    Meiner geschichtlichen Bildung sowie auch meiner persönlichen Erfahrung nach, haben Religionen vorallem das potenzial, das Ende der Welt nicht nur vorherzusagen, sondern es auch aktiv herbeizuführen. Das meiste (bestimmt 90%), was ich bisher zum Thema Religion kenne, besteht aus Krieg und mehr Blut als nötig wäre, die Weltmeere damit zu füllen. Manchmal hat man wirklich das Gefühl, man könne sich als Atheist erstmal einen Jahrhundertsvorrat an Popcorn und einem Getränk seiner Wahl zulegen, um sich dann wie im Kino irgendwo hinzusetzen und darauf zu warten, dass sich die Religionen gegenseitig vernichten.

    Das ist aus meiner Sicht das eigentliche Potenzial von Religionen(!).

    Nun gibt es, wie auch schon im Text angesprochen noch andere Aspekte, die in den Büchern der jeweiligen Religion stehen, welche einen wirklichen Nutzen zum Fortbestand des Menschen haben. Diese Sachen haben aber mit der eigentlichen Religion eher wenig zu tun…denn nur, weil irgendwelche Personen (zB Jesus) irgendetwas sagen, heißt es noch lange nicht, dass es religiöse Hintergründe hat. So sagt zB besagte Person irgendwo in den unendlichen Weiten der Bibel (tut mir leid, dass ich die genaue Stelle nicht kenne…ich hatte schon über 15 Jahre keine Bibel – und noch nie freiwillig – mehr in der Hand): “Den Splitter im Auge des anderen siehst du sofort…den Balken in deinem eigenen jedoch siehst du nicht.”

    Ich schätze mal, dass er Zitate wie dieses als religiöse Sache ansehen würde, die eben dem Einzelnen oder der Gesellschaft dienen…und das nur deswegen, weils in der Bibel steht und vom vermeindlichen Sohn Gottes gesagt worden sein soll. Sollte er dies tun, ist das jedoch ein Fehlschluss…denn diese Sachen haben mit Religion erstmal garnichts zu tun. Sie würden in den meisten Fällen eher als die Anfänge der Psychologie durchgehen, anstatt als religiöse Äußerung.

  6. Dank u ergänzende Hinweise

    Danke für die ersten Kommentare, Hinweise… Ja, und den Dank.
    Heute werde ich wohl auf nichts ausführlicher eingehen (können).
    Aber erstens hinweisen auf die Ergänzung, die ich der Literaturliste in der Anmerkung zufügte. Da stellt de Botton etwas klar zu seinem „Temple for Atheists“. Ganz klar ist’s trotzdem nicht. Aber er will jedenfalls nicht einfach eine atheistische Kopie religiöser Kulte – keine Anbetung eines Nicht-Gottes. Derartige Anregungen sind in der Tat überhaupt nicht neu und wurden jetzt in der Diskussion um de Botton auch schon kritisiert. Ich suche nochmals den Link.

    Zweitens las ich eben einen Beitrag aus Australien: „Alain de Bottons pastoral Atheism“ . Das „pastoral“ (im Unterschied zu missionarisch!) gefiel mir natürlich sehr. Und auch sonst ist der Artikel eine wunderbare Ergänzung: Abwägend, was dieses Vorhaben den einen und was es den andern bringen könnte.

    So viel für jetzt und heute.

  7. Atheisten-Tempel

    Das eben wäre ein Atheisten-Tempel:
    Ein Ort der Besinnung auf das, was ist (nicht dass, was sein sollte oder könnte) und wie es geworden ist.
    Ein Ort der Ehrfurcht vor der Macht der Selbstorganisation, eine Ort des Wunderns über das Leben, das Universum, ein Ort der Freude über die einmalige Existenz jetzt und hier.
    Ein Ort der Besinnung auf das, was der Mensch dem Menschen bedeutet, als Mitmensch im jetzt und hier, in der einzigen Phase der Existenz, die je für ihn sein wird.

    Mein persönlicher Tempel: Wann immer ich in London sein kann, besuche ich Westminster Abbey, die Gräber von Darwin und Newton. In diesem Sinne reichen tatsächlich kirchliche Begegnungsstätten, ein eigener Ort der Besinnung wäre aber schöner – auch, um den Wert des Atheismus zu betonen.

  8. @Michael Kühnapfel

    Atheisten-Tempel: “Ein Ort der Ehrfurcht vor der Macht der Selbstorganisation, eine Ort des Wunderns über das Leben, das Universum, ein Ort der Freude über die einmalige Existenz jetzt und hier.
    Ein Ort der Besinnung auf das, was der Mensch dem Menschen bedeutet …”

    Mir scheint, Sie ahnen gar nicht, wie christlich Sie sind. Was Sie da verehrt wissen wollen, ist die Welt, wie sie in der leicht naturalisierten Perspektive des Christentums erscheint, Schöpfung ohne Schöpfer, bzw. der Schöpfer heißt jetzt halt “Natur”, sie erschafft sich selbst. Unter Naturalisten ist es üblich, die eigene Weltsicht für die wissenschaftliche zu halten und nicht zu merken, wie sie da religiöse Grundüberzeugungen in die Natur projizieren.

  9. Man kann den religiösen Ethos pflegen ..

    … ohne auf die metaphysischen “Grundlagen” zurückzugreifen. Der Glaube an einen Gott ist überhaupt nicht notwendig, um an der religiösen Ethik etwas gut zu finden — und diese zu praktizieren.

  10. @ Mein Name

    „Das meiste (bestimmt 90%), was ich bisher zum Thema Religion kenne, besteht aus Krieg und mehr Blut als nötig wäre, die Weltmeere damit zu füllen.“

    Da war der Atheismus schon mal weiter. Ein typischer Marxist hätte gesagt: Die Ursachen dieser Kriege lagen nicht im Bewußtsein, sondern im Sein, nicht in den Gedanken, sondern im materiellen Leben, und die Leute haben das halt in religiöser Sprache formuliert, hätten sie eine andere gehabt, hätten sie es anders formuliert, das hätte an den Kriegen nichts geändert. Ist vielleicht nicht ganz richtig, aber dafür spricht immerhin, daß die Blutströme dort nicht kleiner geworden sind, wo die Religion keine Rolle mehr spielte.

    Mit dem Übrigen haben Sie m. E. im wesentlichen recht. Es handelt sich bei dem, was allgemein als Bewahrenswertes gesehen wird, um Moral, die sich selbstverständlich über die Jahrtausende im Rahmen religiösen Denkens entwickelt hat, aber nicht Religion ist. Das mit dem Splitter im Auge, das mit dem ersten Stein, „liebe deinen Nächsten wie …“ usw. sind vernünftige, für jeden, der Vernunft hat, nicht weniger einsehbare Sätze als es die Sätze der Mathematik sind. Man kann das Christentum dafür loben, daß sie in seinem Rahmen entstanden sind, aber sie hätten auch im heidnischen Griechenland oder unter Atheisten entstehen können – Vernunft gibt es ja auch da.

    Dennoch: damit ist die Religion nicht erledigt bzw. sie ist nicht überflüssig geworden, wenn einmal alles Gute an ihr in Moral überführt ist (also dem rationalen ethischen Diskurs überantwortet). Die Frage „was können wir hoffen“ – die Frage nach dem Sinn der Welt – bleibt auf jeden Fall übrig.

  11. Mal anfangen… @Blume @Kühnapfel

    Wow, da sind ja doch schnell einige und einige interessante Kommentare zusammengekommen. Da muss ich ja wohl klotzen, nicht kleckern – mich möglicherweise auch kürzer fassen als mir liegt.
    @Michael Blume. Ja, danke für den Dank. Ich wollte den „Tempel für Atheisten“ nicht ins Zentrum stellen. Er weckt als bloßes Stichwort falsche Assoziationen. A.de Botton musste da auch schon mal nachkorrigieren. Siehe hier: http://richardwiseman.wordpress.com/…of-atheism/
    Ich habe das oben bei den Literaturangaben nachgetragen.
    Irgendwo habe ich auch mal eine Interview-Äußerung de Bottons aufgegabelt, selbst Dawkins habe jetzt nichts mehr gegen den Tempel.

    Ja, @Michael Kühnapfel: Neu ist das alles nicht. Es kann allerdings der jetzt laufenden Diskussion eine neue Wendung geben. Als ich kurz bemerkte, dass dies auch schon kritisch in der Diskussion bemerkt wurde, meinte ich folgenden Artikel von John Gray, am 2.2. im Guardian: “Alain de Botton’s atheist temple is a nice idea, but a defunct one“. Andere haben süffisant auf die Anbetung der Göttin Vernunft in der französischen Revolution hingewiesen.
    Ich hätte gerne noch einen Exkurs eingefügt, war mir dann aber zu lang, dass auch Schmidt-Salomon kritisch vorträgt, dass kluge Gedanken der Aufklärung allein nicht reichen. Der „neue Humanismus“ „muss praktisch werden“. Siehe HIER .
    Noch was, um eine andere Ecke – ganz witzig. Da fand ich doch auch: „The Church of Jesus Christ Atheist“ Und Dawkins hat sich ja scheints schon bei „Atheists for Jesus“ beteiligt. Es gibt nichts, was es nicht gibt.
    Sie sprechen vom „spirituellen Atheismus“. Ich kann mir ungefähr denken, um was es geht. Wäre interessant, wie verbreitet er ist – organisatorisch oder durch Veröffentlichungen greifbar?

    Bei manchen Atheisten wird deutlich gesagt, man müsse ja laut bollern, um gehört zu werden. Dawkins betont manchmal, man dürfe nicht zu soft auftreten. Vielleicht ist das aber auch allgemein ein Problem heutzutage in einer bunten Medienlandschaft.

    Ja, und das mit der Lernbereitschaft ist es so eine Sache – auf allen Seiten. Jeder, der zugibt, dass er etwas lernt, gibt, damit ja auch zu, dass ihm (bis jetzt) etwas fehlt. Kommt dann drauf an, wem man das zugeben kann. Und dennoch lernen Leute. Selbst solche, die als Missionare irgendwo hingingen, kamen schon umgedreht zurück. Aber ich will ja gar nicht aufs Umdrehen von Leuten hinaus; sondern auf Offenheit. Und das gibt es natürlich im öffentlichen Schlagabtausch, wie er in den letzten Jahren geprägt wurde, etwas wenig – wenig sichtbar. Aber dort, wo es nicht unmittelbar um solche Konfrontationen wie Theismus/Atheismus geht, kommt (oft eingewickelt in andere Themen) dann doch manches in Bewegung. Und da kommt auch in Kirchengemeinden manches zur Sprache. Im Religionsunterricht (der Oberstufen) sowieso. Da gibt’s im Alltagsgeschäft der Pfarrer so viel Begegnung außerhalb der engen Zirkel – in denen nicht nur einseitig dogmatisiert werden kann. Jedenfalls Theologen können sich normalerweise gar nicht mit Bigotten hinter Kirchenmauern verschanzen, wie es @Stefan Taube vermutet.
    Ja, das war jetzt ein Vorgriff auf weitere Themen. Ich habe anscheinend noch einiges abzuarbeiten. Aber zuerst mal schlafen.
    Gute Nacht allerseits…

  12. Nachtrag zu @Michael Kühnapfel

    Atheismus als „Weiterentwicklung und Überwindung der Religionen“ – das würde wohl der „Aufhebung“ im hegelschen Sinn bei Trepl entsprechen – ist ja von den Beteiligten nicht durchweg so gemeint. Sondern – man denke an das Göttersubtraktionsverfahren von Dawkins : einfach weitest gehende Reduktion überweltlicher Vorstellungen, damit dann die wahre Vernunft erst zu ihrem Recht kommen kann.
    Philosophisch glasklar, aber man sollte dabei auch ein bisschen Geschichte studieren. Das mal beiseite.
    Hier wichtiger: „das Wesen des Religiösen wahrnehmen“. Dazu: Ich kenne mich etwas in (auch interner) religionswissenschaftlicher Diskussion aus. Ist schon beachtlich, wie die (zumeist agnostisch/atheistischen) Religionswissenschaftler die derzeit „bollernde“ Religionskritik kaum zur Kenntnis nehmen; und wie etwa in Dawkins in seinem „Gotteswahn“ eine Herleitung von Religion bringt (Kind/Eltern-Hörigkeit), die nur sehr vage an religionswissenschaftliche Erkenntnisse erinnert. Er denkt wohl, seine wissenschaftliche Autorität als Biologe genüge, auch religionswissenschaftlich relevante Aussagen zu machen. David S.Wilson hat deshalb ihm gegenüber mal bitter bemerkt : At the moment, he is just another angry atheist, trading on his reputation as an evolutionist and spokesperson for science to vent his personal opinions about religion.
    It is time now for us to roll up our sleeves and get to work on understanding one of the most important and enigmatic aspects of the human condition.”

    Aber jetzt wirklich zu den anderen.

  13. Unbehagen? @ Ludwig Trepl

    Unbehagen ist es weniger, eher lustvolle Neugier. Und ich kann manches noch nicht richtig einordnen: ich will nicht zu schnell in eine Schublade stecken; und selber nicht in eine solche gesteckt werden. Wie’s da anderen, Bedeutenderen, ergeht, sieht man ja derzeit hierzulande. Und auch mit de Botton sind einige zu leicht fertig und zu leichtfertig.
    Zur funktionalen Religionstheorie, die bei de Botton dahinter stecken dürfte, hätte ich fast einen Exkurs in den Blogbeitrag eingebaut und ihn dann doch wieder weggeschnitten. Ich sehe derzeit auch nicht in der religionswissenschaftlichen Diskussion , wie wichtig dort die Unterscheidung von einer „substantiellen“ ist. Vielleicht eine überholte Diskussion?
    Sie meinen vermutlich mit diesem Stichwort „funktionalisiert“ noch was anderes: Im Zusammenhang mit verschiedenen Konservatismen heißt’s ja: Was genau geglaubt wird, ist egal – Hauptsache, das einfache Volk glaubt etwas und ist gehorsam der Obrigkeit.
    Dass das zwar schon eine erfolgreiche Strategie war aber nicht die einzig möglichen Funktionsweisen der Religion, darauf verweisen Sie ja mit der Instrumentalisierung durch Linke. Ich denke, beides muss man sehen und die Risiken und Nebenwirkungen in beiden Richtungen klug abschätzen. Und damit kommt heraus, dass ich solchen funktionalen Gesichtspunkten nicht abgeneigt bin.
    De Botton vermutlich auch nicht. Wenn er beim Aufruf, die Religionen zu beerben, als relativ wichtigstes Ziel ansieht: krank machende Vereinzelung von Menschen zu heilen und Gemeinschaftsfähigkeit zu stärken. Wenn er entdecken will, was diese und einige andere von ihm diagnostizierten Schäden heilen könnte und er dabei auf Religion(en) kommt, geht es ihm ja nicht um deren überweltliche Vorstellungen und Dogmen, sondern um die (ritualisierte) Lebenspraxis, die sich bisher mit diesen Vorstellungen verband, aber nicht notwendigerweise auch für alle Zukunft auf diese Vorstellungen angewiesen sein müsse. Dazu vergleiche den sehr listigen Blogbeitrag von Eric Djebe: „Die Steinsuppe“. (Djebe wird es vielleicht anders meinen. Ich müsste echt dort mal ausführlicher mitdiskutieren).
    Punkt 2 – die verschiedenen Formen des „Aufhebens“ – werden weniger relevant sein, da es in der aktuellen Diskussion eben nicht um Inhalte geht, sondern um Lebensgestaltung. Also, dass den Christen lieb gewordene Geschichten oder Vorstellungen dann in anderem Gewand erscheinen – das muss man ja wohl nicht befürchten. Eher wird’s knifflig, wenn diese nicht mehr als falsch bekämpft, sondern als schlicht irrelevant erklärt werden – wenn Leute kommen und sagen: Das, was ihr mit eurer Eucharistie bewirkt, das bewirken wir mit ganz anderen Formen gemeinschaftlichen Essens, bei dem wir ganz andere Erzählungen pflegen, an deren Vorstellungen sich die Leute nicht so stoßen müssen. Ich spiele damit auf de Bottons Agape-Restaurants an – auch ein interessanter Gedanke, den ich allerdings nicht ausführte. Man kann es in Suchmaschinen – Plural !, gibt ja nicht nur die mit dem großen G – leicht selber finden.
    Ja, das wird dann die Frage auch sein: Kann man Vorstellungen von ihren Wirkungen so trennen? Das kommt bei Ihrem Punkt 2b heraus. Da ist sicher noch einiges weiter zu denken. Gespannt und neugierig.
    So viel – viel zu viel und doch zu wenig? – mal hierzu. In einem späteren Kommentar – heute Abend ? – soll es dann um ein paar Konkretionen in den Vorschläge de Bottons gehen.
    Und dann fällt mir noch ein: Bei und zu Ihrem furiosen Start in den ChronoLogs habe ich Sie ja noch gar nicht willkommen geheißen – was hiermit nachgeholt sein soll. Aber dann vielleicht auch persönlicher im März?!

  14. “Oh Gott, bewahre mich vor manchen deiner Freunde. Besonders vor denen, die mit brutaler Borniertheit ihre Gegner bekämpfen.”

    Sich seine Grundrechte zu erkämpfen ist weder “brutal” noch “borniert”. Jessica Ahlquist ist ein Vorbild für eine mündige Bürgerin, die sich gegen verfassungswidrige Diskriminierung erfolgreich gewehrt hat.

  15. Ja, @Joerg

    bezüglich Jessica Ahlquist denken wir doch in der gleichen Richtung. Und sie hat es eben mit brutal bornierten “Freunden Gottes” zu tun bekommen. Haben Sie bei mir das Gegenteil herausgelesen?
    Ähnliches müsste man wohl auch bezüglich Hamza Kashgari sagen. Gegenüber ihm sind die, die sich als Freunde Gottes verstehen, noch um einige Grade gefährlicher.
    Zum Heulen oder Davonlaufen. Zum wütend oder hämisch dagenen Bollern? Oder doch besser: zum sensibel Analysieren – sehen, wie man die Angst- und Wutfixierungen aufdröseln, entschärfen kann.
    Aber ich kenne mich weder in den USA noch in Saudiarabien aus.

  16. Die besten Ideen @St.Taube @NoName

    Geht es ein wenig konkreter? fragt Stefan Taube. Ja, da habe ich anscheinend zu sehr abgekürzt.
    Ich nehme mal aus der Zusammenfassung des von mir empfohlenen Beitrags „Alain de Botton’s pastoral atheism“ die wichtigsten Punkte: Von der katholischen Messe könnte man den Gemeinschaftssinn übernehmen. (Da kommt dann auch der Vorschlag mit den Agape-Restaurants) Vom jüdischen Versöhnungstag die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen, Zen-buddhistische Übungen zur Rückbesinnung auf sich selbst könnten helfen, die Grundlinien des Lebens zu bedenken.
    Dazu ergänze ich jetzt freihändig, ohne nochmals nachzulesen: Gewisse verbindliche Meditationszeiten (im Tageslauf- oder Jahreslauf) könnten die Besinnung auf Grundbedingungen menschlicher Existenz verstärken – überhaupt die Zeit strukturieren.
    Die Kunst sollte gezielt dafür eingesetzt werden, für bestimmte Lebenshaltungen Propaganda zu machen: Zeigen, was man fürchten und was man lieben soll…
    In „Atheismus 2.0: Don’t get got, get good“ (Text und Film – 19 min) führt er eindrücklich den Unterschied zwischen einem belehrenden Vortrag vor und einer gottesdienstlichen Ansprache (in amerikanischen Pfingstgemeinden), in der gewünschte Lernziele ritualisiert wiederholt werden.
    Ich höre mal mit diesen zusammengestupften Aufzählungen auf. Es müsste jedenfalls deutlich werden: Es geht ausdrücklich nicht – nicht nur – um mehr oder weniger plausible ethische Normen und Sätze (Goldene Regel ff ), wie „M.Name“ und L.Trepl vermutet . Sondern um liturgisch, rituelle Verhaltensweisen – Verhaltensmuster, in die man hineinschlüpfen kann (kann oder muss? das wäre allerdings die Frage), um nicht andauernd das Rad seiner Verhaltensweise neu erfinden und dann auch verantworten zu müssen.
    Als Beispiel kennt man hier in Europa wohl die Sache mit dem Jakobsweg, der seit Neuestem auch vielen einleuchtet, ohne dass sie die ganzen Vorstellungen über Heilige und Devotionalien und Sündenerlass… nachvollziehen müssen.
    Die ganzen Sachen kann theoretisch jeder auch für sich selber organisieren. So wie auch jeder für sich ethisch hochstehend handeln kann. Ist doch klar (Insofern auch Zustimmung zu @A.Fürstenberg). Klar ist aber auch, dass dadurch eine Form von Beliebigkeit hinein kommt, die manchen gefällt, die aber gerade dadurch nicht verlässlich wirkt: woher denn das Vertrauen, dass sich ein anderer auf dieselben moralischen Grundlinien versteht wie ich? Also ist diese bewusste Entscheidung Einzelner nicht so breitenwirksam ist wie bei den (bisherigen) Religionen mit ihrem jeweils intern gemeinsamen Verhaltenskodex. Kant mit seinem moralische Imperativ – jeder sollte, im Blick auf alle… – wollte es auch breitenwirksam. Na ja, da zeigt sich doch das preußisch-protestantische Erbe und ein aufklärerischer Optimismus, der spätestens seit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts auch wieder kritisch zu hinterfragen war .
    Wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht, gibt es auch keine großen Festessen. Na ja, da gibt es auch Schattenseiten: Wenn alle nach der gleichen Pfeife tanzen müssen… Eben, ist alles ambivalent. Aber vielleicht kann man miteinander konzertieren, auf gemeinsame Grundmelodien…
    Ich sehe dabei aber auch das, was man religionssoziologisch als Patchwork-Religion bezeichnet, als eine gewisse Gefahr. Und sage es am besten vielleicht mit einem Vergleich: Italienische Pizza und türkische und schwäbischer Zwiebelkuchen und vielleicht sogar die Crepes aus der Normandie sind aus der gleichen Grundidee entstanden. Aber man sollte besser ein einzelnes Grundrezept verfolgen und das evtl sinnvoll ergänzen, aber die Rezepturen nicht nach Beliebigkeit zusammenmischen. Bei Religionen speziell die Gefahr, die ich – neben den widerlichen fundamentalistischen Tönen – besonders in den USA vermute: dass Leute nur das in sich reinziehen, was ihrem religiösen Bedürfnis, ihren Geschmacksnerven… entspricht: In frommer Seligkeit Halleluja rufen und die Abgründe des Lebens (und unserer zerrissenen Weltgesellschaft!) dem Teufel überlassen. Solche Patchwork-Beliebigkeit könnte auch bei diversen Versuchen entstehen, die Ideen de Bottons umzusetzen: sich nur die besten Rosinen rauspicken…

    Dass die Religionen sich gegenseitig zerfleischen, wie der vermutet, der sich mit „Mein Name“ benennt – da könnte man doch die geschichtliche Bildung und die persönliche Erfahrung etwas hinterfragen (Ludwig Trepl hat es auf seine Weise schon getan – danke!) : wie effektiv bisher Religionen das Weltende herbeigeführt haben und wie weit sie ihre gegenseitige Vernichtung vorangetrieben haben. Da brauchen Sie noch viel Popcorn… Erinnert mich an eine biblische Geschichte (Gattung Märchen, Weisheitsdichtung), in der ein Prophet zuschauen will, wie eine Stadt untergeht; und Gott will ihm das Vergnügen nicht gönnen (Jona 3). Och, und was wissen Sie (nach Ihrer Kenntnis der Originalliteratur) darüber, was „religiöse Hintergründe“ hat? Das mit der „Psychologie“ wäre ein interessanter Hinweis. Da gibt es tatsächlich Linien. Aber da müsste man sorgfältig differenzieren – können und wollen.

  17. Asche auf mein Haupt. Ich hab den Satz tatsächlich völlig falsch verstanden – und meine Triggerschwelle um die ganze Geschichte ist wohl deutlich zu niedrig justiert…

  18. No problem @Joerg

    Machen Sie es mit der Asche nicht zu dick 🙂 Sonst wird’s schwierig beim Kopfschütteln; und das sollten Sie sich nicht verbieten lassen müssen – je nachdem 😉
    Also, natürlich kann ich da leicht sagen: Persönlich nehmen wir’s sowieso nicht, deshalb no problem.
    Aber genau da sehe ich auch, dass ein Problem zu Tage kommt: Wie leicht passiert das – gerade bei so kontroversen Themen, dass man einander gegenseitig auflauert: Der muss doch was Falsches sagen – wäre doch zu schön, ihn dabei zu erwischen…
    Das Thema hier ist ein vermintes Gelände, das Klima giftig. Das senkt die „Triggerschwelle“ natürlich. Kleinste Fehlleistungen werden in der Presse aufgebauscht; und im Internet… Dafür können Sie nichts und kann ich nichts.
    Nun, dem gegenüber finde ich genau das bei A. de Botton gut, dass er auf spielerische Art die in den letzten Jahren verbitterte und verbiesterte Diskussion auflockern will. In der Richtung müsste sich noch mehr machen lassen.

  19. @Aichele: die besten Ideen

    Lieber Herr Aichele,

    Sie schreiben: „Klar ist aber auch, dass dadurch eine Form von Beliebigkeit hinein kommt …: woher denn das Vertrauen, dass sich ein anderer auf dieselben moralischen Grundlinien versteht wie ich? Also ist diese bewusste Entscheidung Einzelner nicht so breitenwirksam ist wie bei den (bisherigen) Religionen mit ihrem jeweils intern gemeinsamen Verhaltenskodex. Kant mit seinem moralische Imperativ – jeder sollte, im Blick auf alle… – wollte es auch breitenwirksam. Na ja, da zeigt sich doch … ein aufklärerischer Optimismus, der spätestens seit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts auch wieder kritisch zu hinterfragen war.“

    Das sagt man heute so, aber ich bezweifle es und glaube, daß es im wesentlichen umgekehrt ist. Beliebigkeit kennzeichnet gerade „die (bisherigen) Religionen mit ihrem jeweils intern gemeinsamen Verhaltenskodex“. Der Zufall, in eine bestimmte Tradition hineingeboren zu sein, bestimmt den Verhaltenskodex. Nichts, kein objektiv noch so überzeugendes Argument aus einer anderen Tradition, zwingt Angehörige verschiedener Religionen, von dem abzuweichen, was die eigene Tradition (die z. B. auch darin bestehen kann, die Tradition gering zu achten und „allein die Schrift“ gelten zu lassen) zufällig für verbindlich erklärt.

    Diejenige „bewußte Entscheidung Einzelner“, auf die Sie anspielen mit Ihrem Verweis auf Kant, aber hat nichts von Beliebigkeit: Sie ist der Vernunft verpflichtet, egal was Tradition und Interesse dazu sagen mögen. Was Sie, wie mir scheint, im Auge haben, ist alles andere als Kant’sche Aufklärung, ist vielmehr Liberalismus/Utilitarismus, etwas, was von dieser heftig bekämpft wurde: Nicht die Vernunft, sondern das Interesse soll herrschen, allenfalls der Kompromiß der verschiedenen Interessen. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber meinem Eindruck nach ist das typisch für Theologen; und zwar beider Konfessionen: Wenn Herr Ratzinger Aufklärung sagt und sie verdammt, dann trifft es fast nie sie, sondern den Liberalismus/Utilitarismus.

    Nun meinen Sie weiter, daß „diese bewusste Entscheidung Einzelner“ und die Lehre vom moralischen Imperativ „nicht so breitenwirksam ist“ und verweisen auf die Diskrepanz zwischen dem Optimismus der Aufklärung und den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Da vermischen Sie meines Erachtens Dinge, die man strikt trennen muß.

    Kant hat nicht eine bestimmte Moral gegen andere Moralen gepredigt, sondern beschrieben, was wir – „auch der gemeinste Verstand“ – immer meinen, wenn wir von etwas behaupten, es sei im moralischen Sinne gut. Selbstverständlich konnte das nicht nur deskriptiv sein, sondern damit war auch gesagt, was wir nach Kants Meinung tun sollen: das, was wir auch nach der Überzeugung des „gemeinsten Verstands“ tun sollen, nämlich das, was geschehen würde, wenn es allein nach der Vernunft ginge.

    Und nun sagen Sie, daß das nicht breitenwirksam wurde. Aber was gilt denn heute faktisch (auf der Ebene der Wirkung, nicht der Wahrheit)? Das, was in den ethischen Diskussionen den Argumenten standhält, und deren Prinzip ist im Kategorischen Imperativ formuliert. Auch die Religionen tun sich von Jahr zu Jahr schwerer, sich dem nicht zu unterwerfen. “Es steht geschrieben“ gilt mehr und mehr auch für sie nicht mehr, sondern es muß gezeigt werden, daß für das, was geschrieben steht, Argumente sprechen. Sofern die religiösen Gemeinschaften das nicht wollen, grenzen sie sich selbst aus, denn man muß die Regeln ethischer Diskurse akzeptieren, wenn man dazugehören will.

    Eine ganz andere Sache ist es, welches Macht die Vernunft (die moralische Vernunft: „jeder sollte, mit Blick auf alle …“) in den gesellschaftlichen Kämpfen insgesamt faktisch hat. Denn die, die sich selbst ausgrenzen und das nicht mitmachen, was allein Geltung i Diskurs beanspruchen kann, können aus unterschiedlichen Gründen sehr stark sein. Die in die Katastrophen führenden Bewegungen des 20. Jahrhunderts, die Fundamentalismen und Schwärmereien, die heute ganze Kontinente dominieren, sprechen aber nur auf einer Ebene gegen die gesellschaftliche Kraft der autonomen Vernunft: Sie zeigen nur, daß es möglich ist, sie einfach zu ignorieren, d. h. sich dem Diskurs zu verschließen. Wenn man sich aber auf sie einläßt – und die christlichen Kirchen tun das ja zum Teil von jeher – dann ist es mehr und mehr unmöglich, ihr zu widerstehen.

  20. Einige Linien konturieren… @Trepl

    Entschuldigung, lieber Herr Trepl, Sie komprimieren eine ganze Bandbreite in Ihren Kommentar. Ist ja recht. Ich will auch nicht gegnerisch ent-gegnen . Sondern jetzt mal nur ein paar Dinge – vielleicht – richtiger akzentuieren. Einige Linien besser konturieren …
    Zu meinen Auslassungen über den aufklärerischen Optimismus äußern Sie sich kritisch differenzierend: “Das sagt man heute so, aber…“ . und verweisen darauf, dass auch manches “typisch für Theologen“ ist . Na, dann ist’s wenigstens nicht nur mein UND nicht nur der Theologen Fehler. Kann schon sein, dass da einige eingeschliffene Denkformen auftauchen, die ich mit Leuten teile, mit denen ich mich ansonsten nicht verwechseln lassen möchte. Vielleicht kann ich doch manchen Stallgeruch nicht abstreifen. Hoffentlich hebe ich mich sonst genügend von „Papa Ratzi“ ab…
    Na ja, hier wollte ich natürlich den A.de Botton paraphrasieren und kam dann unversehens in eigene Argumentation – woran man merkt, dass mir natürlich einiges an de Botton entgegenkommt (allerdings um mehrere Ecken herum, die ich gar nicht alle präzis benannt habe – deshalb übrigens das Begegnungsfoto von der NASA; eigentlich suchte ich eines aus einem Bergwerksdurchbruch: Jedenfalls Begegnung nach Beseitigung unendlich vieler Hindernisse… ).
    Kann ja auch sein, dass de Botton dazu geeignet ist, einige eingeschliffene Fehlurteile gegenüber der Aufklärung nicht zu beseitigen sondern zu bestärken. Und es so zu verwechseln mit Liberalismus/Utilitarismus wie der Papst. Und dass ich zu vieles durch diese Brille sah. Also , es ist wohl keine richtige Exegese Kants bzw. der ursprünglichen´ Aufklärung..
    In den von mir gelesenen Texten de Bottons ging es auch nicht um einen der Aufklärer-Philosophen direkt. Was er eher sagt ist: Die aufklärerische Pädagogik (selbstverständlich scheinende Voraussetzung) jedenfalls in der heutigen atheistischen Argumentation ist: Man muss es den Leuten nur richtig erklären (alle religiösen Denkhemmnisse beseitigen) ; und dann haben sie es begriffen und können es leben. Die Religionen seien da schlauer, indem sie mit der Fehlbarkeit, der Trägheit der Menschen rechnen; und deshalb die erwünschten Verhaltensweisen durch ritualisierte Wiederholungen einüben. (Etwas habe ich dabei auch halb absichtlich unter den Tisch fallen lassen, weil das ein unangemessenes Eigengewicht hätte bekommen können: Alle Religionen würden die Menschen auch wie Kinder behandeln. Und das sei richtig so! Denn wir Menschen seien eben immer auch kindlich/abhängig – eine Lebensanleitung sei uns Menschen nötig. Na ja… Ich würde da sagen: Mindestens protestantisch betont man da eine starke Dialektik.).
    UND man müsste auch hinzusetzen, dass *die Religionen* da nicht insgesamt so schlau waren wie de Botton meint. Im Wesentlichen betrieben sie doch (jetzt meine ich hauptsächlich uns Protestanten) denselben aufklärerischen Optimismus: man muss den Leuten nur das Richtige richtig gesagt haben; und dann müssten sie sich richtig verhalten. In der Aufklärungszeit sprachen auch Theologen von der richtigen, moralischen „Erziehung des Menschengeschlechts“. Und das hat sich doch zeitenweise furchtbar lehrhaft verfestigt. Und aus Predigten wurden Vorlesungen 😉

    Ja, und da wird man sich wohl schon daran erinnern können, dass es seit der Aufklärung die Attitüde gibt: Wir wollen nicht nur aufstehen aus „selbst verschuldeter Unmündigkeit“. Mindestens eine Avantgarde, zu der sich dann Atheisten gerne zählen, könne es auch. Aber auch da müsste man ja auch von einer Dialektik reden und z.B. von dem, was mit der Freudianischen Kränkung genannt ist: dass das Ich nicht so unbedingt Herr ist im eigenen Haus. Geht halt nicht so einfach wie in manchen Planspielen.
    Ja, und da habe ich jetzt in diesem letzten Abschnitt schon wieder Kant zitiert und Freud. Aber bei beiden muss ich zugeben: ich habe wohl einiges von und über beide gelernt, aber das ist zum größten Teil schon über 40 Jahre her. Richtig parat habe ich es nicht. So werde ich Ihnen in Ihrer Exegese über Kant Recht geben müssen. Und Sie mir vielleicht teilweise Recht geben in dem, was dann im Umfeld Kants bzw. nach ihm passiert ist: dass die reine Vernunft sich denn doch nicht als so unbestechlich erwies wie sie hätte sein sollen.
    Aber OK: dass Argumente ausschlaggebend sein SOLLEN (und nicht bloß eine Schriftgemäßheit) , das hat sich durchgesetzt. Und stimmt: da spielen Kirchen mit – kommen nicht umhin mitzuspielen. (*Und* können sich darauf berufen, dass sie auch schon eine Diskussionstradition haben, in der Argumente zählen – ich meine die scholastischen Disputationen. ).

    Ach, ich merke, jetzt habe ich doch einiges in den Topf gerührt, das nicht alles problemlos zusammen passt. Ich möchte zum Schluss kommen und nur noch in dem einen Punkt Ihnen Recht geben:
    Stimmt natürlich, das mit der Zufälligkeit der Religion, in die ich hineingeboren bin und des damit verbundenen Wertesystems. Insofern natürlich keine „objektive“, absolute Wahrheit.
    Was aber eben auch wichtig ist: dass viele die Gewissheit haben möchten, im Normalfall mit Leuten zu kommunizieren, deren Wertesystem sie zumindest verstehen. Und nicht, dass jeder, dem sie begegnen, dann wieder ein anderes hat. Aber darauf liefe es bei einer Atomisierung der Gesellschaft hinaus. Das wäre eine schwer erträgliche Unkalkulierbarkeit, Zufälligkeit. Und dagegen sucht de Botton und suchte der (frühere) Pfarrer Aichele nach Heilmitteln. Aber genau müssen wir auch gerade heutzutage immer wieder neu lernen, über die Begrenzungen eingeschliffener Wertsysteme hinauszuschauen – Multikulturelles zumindest in den Blick zu bekommen und darüber eben nicht in Panik zu geraten. Schon wieder Dialektik…
    Gute Nacht und ein fröhliches Aufwachen…
    Und eine fröhliche Begegnung in Deidesheim?!

  21. @Hermann Aichele: Einige Linien…

    „…manches ‚typisch für Theologen’ ist . Na, dann ist’s wenigstens nicht nur mein UND nicht nur der Theologen Fehler.“

    Ja, leider, denn dann wäre es einfacher. Aber die fehlende Differenzierung innerhalb dessen, was man im weiteren Sinne der Aufklärung zurechnet, ist ja typisch für den Zeitgeist im allgemeinen. Die Gegner der Religion akzeptieren großenteils die gegen den Utilitarismus und das gesamte moralisch-ideologische Drumherum gerichteten Vorwürfe z. B. des Herrn Kollegen Ratzinger (von dem Sie sich selbstverständlich sehr zu Ihrem Vorteil abheben), meinen mit ihm, eben in dem, was da kritisiert wird, liege das Wesen von Aufklärung und eben das finden sie gut. Nur wenn es gegen besonders heftige Anmaßungen der Kirchen geht („keine Werte ohne Gott“ in der Berliner Religionsunterricht-Kampagne) besinnt man sich darauf, daß da auch noch etwas anderes war in der Tradition der Aufklärung, weiß aber nicht so recht, was das war.

    „Ja, und da wird man sich wohl schon daran erinnern können, dass es seit der Aufklärung die Attitüde gibt: Wir wollen nicht nur aufstehen aus ‚selbst verschuldeter Unmündigkeit’. Mindestens eine Avantgarde, zu der sich dann Atheisten gerne zählen, könne es auch. Aber auch da müsste man ja auch von einer Dialektik reden und z.B. von dem, was mit der Freudianischen Kränkung genannt ist: dass das Ich nicht so unbedingt Herr ist im eigenen Haus.“

    Diese Attitüde gibt es zweifellos. Aber:
    (1) die Atheisten zählen sich zu Unrecht dazu, nämlich wenn sie, wie meist, behaupten zu wissen, daß es keinen Gott gibt und damit hinter das zurückfallen, was man seit der Aufklärung wissen kann; bzw. wenn sie aus der empirischen Wissenschaft eine Metaphysik machen.
    (2) Mindestens eine Avantgarde kann das, davon bin ich überzeugt, tatsächlich. Dazu gehört freilich, daß sie die prinzipielle Begrenztheit unserer Vernunft und damit von „Mündigkeit“ einsieht. Damit meine ich nicht so sehr das, was man seit Freud (oder auch Nietzsche, oder Foucault, oder …) weiß: „dass das Ich nicht so unbedingt Herr ist im eigenen Haus“. Darüber hilft Reflexion hinweg; Freud hat ja nicht nur analysiert, sondern auch die Analyse als Therapie erfunden. Sondern viel grundsätzlicher: das, was bei Kant bezogen auf die theoretische Vernunft mit dem Begriff Ding an sich und bezogen auf die praktische Vernunft vor allem mit dem Begriff des Geheimnisses angesprochen ist. Gegen diese nicht selbst verschuldete Unmündigkeit kann man wohl nicht aufstehen.

    „… dass viele die Gewissheit haben möchten, im Normalfall mit Leuten zu kommunizieren, deren Wertesystem sie zumindest verstehen. Und nicht, dass jeder, dem sie begegnen, dann wieder ein anderes hat. Aber darauf liefe es bei einer Atomisierung der Gesellschaft hinaus.“

    Hm, ja, irgendwie schon, aber auch wieder nicht. Das ist wieder das Generalthema meines vorigen Kommentars. – Ich komme im allgemeinen gegen Sie nicht so recht auf, weil das, was Sie schreiben, erwahrungsgesättigt ist, wie man so schön sagt, was ich schreibe, aber aus Philosophiebüchern – zudem amateurhaft – angelesen (darum kann ich das auch nur schlecht begreifen, was Sie etwa über die Relevanz von Ritualen sagen). Aber jetzt probiere ich es auch einmal mit Erfahrung. Die ist bei mir so: Wenn unter Leuten bin, die ein „Wertesystem“ haben, das ich auf irgendeine Weise auch habe, z. B. unter Protestanten, dann ist da schon der von Ihnen angesprochene Unterschied sehr wirksam: bereits im Gespräch mit Katholiken wird es sehr schwierig, man möchte immerzu Grundsatzkritik üben, traut sich aber nicht um des lieben Friedens willen oder einfach, weil es sehr aufwendige und umständliche Erklärungen erforderte. Wenn ich aber mit typisch modernen Menschen ohne explizites „Wertesystem“ beisammen bin, typischen Studenten fast jeder Art von Herkunft beispielsweise, spielt dergleichen gar keine Rolle (solange man nicht darauf stößt, daß jemand fanatischer Esoteriker oder so etwas ist, also eben ein „Wertesystem“ hat). Es wird einfach offen argumentiert und in der Regel ist man sich ziemlich schnell einig, was im Gespräch mit Katholiken (oder protestantischen oder islamischen Fundamentalisten, da fehlt mir die Erfahrung, aber es wird wohl so sein) ganz unmöglich ist. Es gibt, heißt das, eine Ebene des Lebens, da stimmt das mit der „Atomisierung“ nicht. Die zur Gewohnheit gewordene Verpflichtung auf das Argument und nichts als das Argument steht gegen die Atomisierung, schafft Gemeinschaft einer Art, wie es die Religionen nicht können, nämlich eine allgemeine und von innen her zwingende. (Oder vorsichtiger: wie es diejenigen Religionen nicht können, die sich dem Argument verweigern oder ihm nur eine untergeordnete Bedeutung beimessen).

    Sie können jetzt natürlich dagegen alles anführen, was man bisher gegen den Kantianismus und Habermasianismus und ähnliche Richtungen aufgeboten hat. Aber das ist mir, glaub’ ich, einigermaßen bekannt und wird mich nicht überzeugen. Leichter dürfte ich wohl durch Berichte aus dem Leben ins Wanken zu bringen sein.

    Was war das mit Deidesheim? Hab ich das etwas nicht mitbekommen?

    Viele Grüße

    Ludwig Trepl

  22. @ – Hermann Aichele

    Hermann, hier ein Kommentar, wie Du ihn wahrscheinlich auch von mir erwartest: Alain de Botton ist ein Idiot! Er versteht offenbar nicht, dass der Atheismus genau wie der Agnostizismus, der Deismus, der Monotheismus, der Polytheismus und der Pantheismus lediglich philosophische Positionen in der Gottesfrage und keine politischen Ideologien sind.

    Atheisten bezweifeln die Existenz Gottes – nicht mehr und nicht weniger.

    Anders als Humanisten oder Laizisten repräsentieren Atheisten auch keine soziale Bewegung, die um Anhänger wirbt und politischen Einfluss zu gewinnen sucht.

    Und ein “Tempel für Atheisten” ist genauso grotesk wie ein “Tempel für Deterministen”.

  23. Ontologie oder Lebensgestaltung @Edgar

    Ja, so einen Kommentar habe ich natürlich erwartet, und auch von Dir. 🙂 Klar 😉
    Denn so wie die Diskussion eingeschliffen ist, fährt man sich immer wieder in diesen Spuren fest. Aber es geht um andere Alternativen.
    Sag ich’s jetzt mal so: Es geht de Botton ausdrücklich und absichtlich nicht um die „philosophische Position in der Gottesfrage“. Die scheint für ihn klar entschieden. Er behauptet seinen Atheismus ohne die Vorbehalte, die z.B. Dawkins neuerdings klarstellte, indem er sich ehr als Agnostiker bezeichnete. (Das ist wohl schon länger so, z.B. hat man bei der Buskampagne wohl auf sein Betreiben hin das „probably“ eingefügt).
    Bei de Botton klingt es entschiedener- etwa in dem genannten Film „atheism 2.0“: Of course there is no God. Aber das ist für sein eigentliches Thema auch egal.
    Es geht (jedenfalls in seinen aktuellen Veröffentlichungen) nicht um eine Klärung der für ihn erledigten Gottesfrage, sondern:
    Die individuell-psychischen Bedürfnisse der Menschen ebenso wie die gesellschaftlichen Vorteile, die man bisher in Religionen pflegte – die dürfen nicht nur mit dem Entree-Billett des Theismus zu erwerben sein. Selbstkritische Pflege des Selbstwertgefühls, Strukturierung des Tages, des Jahres…, regelmäßige Feste, Zusammengehörigkeitsgefühl, Begegnung über die unmittelbaren persönlichen Interessen hinaus (vgl. kin-selection) und einiges mehr – das sei zu wichtig, um es den Religionen mit ihren veralteten, unglaubwürdigen, abergläubischen… Vorstellungen zu überlassen.
    Und er sieht manche krankmachenden Fehlentwicklungen in heutigen säkularisierten Gesellschaften dadurch entstanden, weil mit dem Aufgeben verbindlicher religiöser Vorstellungen auch sowohl Einzelne als auch ganze Gruppen gewissermaßen ihre Fassung verlieren (das ist jetzt mein Ausdruck).
    Was das für den Einzelnen bedeuten kann, das beschreibt er plastisch-drastisch in diesem Text. Darin parallelisiert er die Funktion (und ausdrücklich nicht die wissenschaftliche Qualifikation!!!) von Priestern und Therapeuten.
    Ja, und das mit dem „Tempel“: Den brauchen Atheisten natürlich nicht, um die philosophische Position des Atheismus zu stärken. Sondern die Behauptung ist: Auch Leuten mit dieser philosophischen Position kann es gut tut, wie in Tempeln zB zur Meditation über die Größe und die Abgründe des Menschsangeleitet wird. Mit den Kunstwerke, den Texten und Liedern zur Besinnung, mit den gemeinsamen Feiern… Um das Gebäude als solches geht es ihm nicht; sondern um Bedürfnisse – dass die nicht einfach unter den Tisch gewischt werden.
    Gestern fand ich: diese Äußerung dazu von einem anderen, John Armstrong aus Melbourne:

    De Botton’s point is that the exciting question about religion is no longer “is it true?” but “how should we imagine and address the needs that take individuals to religion.” People bring immense longings for emotional order, for depth of meaning, for grandeur, beauty, forgiveness and compassion into their religious lives. These needs should be taken very seriously – even if you think that they have been attached to false beliefs.

    Um diese „longings for…, um diese “needs” geht’s – nicht um Erkenntnistheorie.
    Theisten sollten natürlich nicht meinen, nur sie könnten solche Bedürfnisse befriedigen – sie hätten ein Monopol drauf. Aber alternative Formen haben sich noch nicht breitenwirksam entwickelt. Und deshalb ist’s für viele sicher der bequemere Weg. Da fangen die kniffligen Fragen an die Religionen an. Und zu den kniffligsten Fragen gehört natürlich:
    Kleben viele an religiösen Vorstellungen und schlucken dogmatische Behauptungen, weil sie der unbewussten (und irrigen?) Meinung sind, gewisse Bedürfnisse wären nicht anders zu befriedigen?!
    Da möchte ich dran weiter denken.
    Na, und doch noch ein bisschen spitz:
    Wenn man sieht, wie manche Atheisten sich schon wie oberste Moralwächter (oder wie heißt das im Iran und in der Inquisition?!) aufführen und gerade darum auf einschlägigen Seiten entsprechend verlinkt werden – da fiele mir die Behauptung nicht so leicht, Atheismus habe gar nichts mit politischen Ideologien zu tun.
    Die moralische Diskussion (und über öffentlich vermittelte Moral auch die Politik) ist doch von Anfang an drin; und die kann man in der reinen Erkenntnistheorie zwar auf die Seite schieben, wird sie aber in der öffentlichen Diskussion besser nicht ignorieren.

  24. @Aichele

    De Botton’s point is that the exciting question about religion is no longer “is it true?” but “how should we imagine and address the needs that take individuals to religion.” People bring immense longings for emotional order, for depth of meaning, for grandeur, beauty, forgiveness and compassion into their religious lives. These needs should be taken very seriously – even if you think that they have been attached to false beliefs.

    Ein schöner Satz, sozusagen die offene Hand des Atheisten/Agnostikers, die dem Glauben entgegen gestreckt wird. Allerdings kann ich diese Hand nicht akzeptieren.
    Die grundsätzliche menschliche Frage “is it true?”, sollte doch eines der wichtigsten Leitmotive unseres Lebens sein. Und sie ist so verwoben mit “immense longings for emotional order, for depth of meaning”, dass ich mir das Eine nicht ohne das Andere vorstellen kann. Wer mir großzügig das “is it true?” erlässt, tut mir damit keinen Gefallen.

  25. Eine Religion für Atheisten gibt es und

    sie heisst Church of England schrieb ein Rezensent des Buches Religion for Atheists. Seine Begründung: Nur 5% der eingetragenen Mitglieder dieser Kirche praktizieren ihren Glauben.

    In der Tag gibt es wohl mehr gemeinsame Überzeugungen unter sich bekennenden Atheisten als unter denen, die zwar formell einer Glaubensgemeinschaft angehören, deren Leben aber nichts mehr gemein hat mit der (immer kleiner werdenden) Schar der überzeugten und praktizierenden Gläubigen.

    Folgende (unvollständige ) Liste von Überzeugungen haben viele bewusste Atheisten gemeinsam
    – Es gibt keine überempirischen, supranaturale Akteure, die unser Schicksal oder nur schon die Welt beeinflussen
    – Die Religion ist ein Herrschaftsystem, das der freien Entfaltung des Individuums misstraut
    – Der Atheist vertritt oft die klassischen Werte des Humanismus, die da wären:
    — Glück und Wohlergehen von Individuum und Gesellschaft haben das Primat
    — die Würde des Menschen und seine Persönlichkeit müssen respektiert werden
    — der Mensch soll sich entfalten und die Freiheit des Menschen ist ein hohes Gut, dass (wenn möglich) allen zugute kommen soll

    Diese Atheisten mit humanistischer Verwurzelung begrüssen die Gleichberechtigung von Mann und Frau, wollen Rassismus und Ressentiments überwinden und sehen die jüngste Moderne seit der französischen Revolution mit der Entwicklung der Menschenrechte als positiv.

    Ich teile diese Ansichten weitgehend und sehe die Gefahr, dass schliesslich die klassischen Religionen wieder klammheimlich die Macht übernehmen und die Welt unter sich aufteilen.

    Dazu kommt, dass es eine Tendenz unter den verbleibenden aktiven Gläugigen gibt zu orthodoxen und fundamentalen Formen der Religionsauffassung zurückzukehren.
    Der Papst Benedikt der 16. will zu einer Kirche zurück, die nicht alle mitnimmt und um des Friedens willen beispielsweise Frauen die Ordination erlaubt, vielmehr versucht er erzkatholische Bewegungen wie die Piusbrüder zu reintegrieren.

    Gewinnen zum Fundamentalen neigendee religös Überzeugte politischen Einfluss, wie z.B. in Israel (die Ultraorthodoxen) gefährdet das das Zusammenleben und im Falle von Israel eine politische Lösung von alten Konflikten (mit den Palästinensern).

    Humanismus und Liberalismus sind vor allem auch darum in Gefahr, weil sich nur wenige dafür einsetzen, weil es keine (Glaubens-)Gemeinschaft sondern nur Einzelne gibt, die dafür etwas aufs Spiel setzen.
    Insoweit wäre eine quasireligiöse Gemeinschaft der Menschen mit einem humanistischen Weltbild, welche Freiheit und Entfaltung fördern und bewahren wollen, sehr wertvoll.

    Realistischer als solche eine “Glaubensgemeinschaft” ist allerdings die Idee Alain de Bottons, einen Tempel für Atheisten zu bauen. Sogar Radio Vatikan hat sich mit dieser Idee auseinandergesetzt.

  26. Atomisierung – Wertesystem @Trepl

    Zu dem Stichwort „Atomisierung“, das ich so zugespitzt in die Debatte warf, habe ich noch einmal neu nachgedacht. Und sofort sagen: Als Etikett auf die ganze Entwicklung säkularisierter Gesellschaften passt es nicht. Es ist zu scharfes Kaliber. Oder zu grobschlächtig.
    Stimmt zwar schon (und das ist das Thema de Bottons), dass viele mit dem Verlust traditioneller Religionen spüren, wie vereinzelt, u.U. auch vereinsamt sie sind. Die Schwierigkeiten gibt’s. Die hängen aber auch mit einigem anderen zusammen: Fluktuation in Wohn- und Berufssituation. Da würde wohl ein Sozialpsychologe sehr Differenzierendes dazu sagen können. Und wird u.U. auch sagen, was der Verlust an religiöser Heimat bedeuten kann. Aber das ist lange nicht alles und nicht das einzig Ausschlaggebende.
    Und jetzt auch anders herum: Bei Ihrem Beispiel mit den Studenten wird ja auch sichtbar, erfahrbar, dass es da sehr wohl gesellschaftliche Bindekräfte gibt – gemeinsame Überzeugungen, Spielregeln des Zusammenlebens. Ja auch: Die „Verpflichtung auf das Argument“ hat verbindende Kraft, wenn da einiges in offener Diskussion immer wieder neu ausgehandelt oder neu gewichtet werden muss. Besser als wie wenn es ein Wertesystem ist, das als ewige Verordnung zu gelten beansprucht. Ist auch in den Religionen nicht so monolithisch, aber die Tendenzen gibt’s natürlich – mal mehr, mal weniger.
    Aber auch außerhalb der Religionen wird nicht alles frisch ausgehandelt oder individualistischer Beliebigkeit ausgeliefert – es gibt ja einige gesellschaftliche Kräfte, denen entlang sich Grundregeln des Zusammenlebens gestalten. Das, was durch Schule und die verschiedensten Medien vermittelt wird – durch alles, worin man sich auch einpasst, um mit dazu zu gehören. (Kann übrigens auch mal so negativ wirken wie der sonst den Kirchen vorgeworfene Gewissenszwang)
    Also, das Gelände ist sicher vielschichtiger als ich es mit Blick auf de Bottons thematische Zuspitzung formulierte. Es kommt mir natürlich entgegen, wenn er die individuellen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten, Gefährdungen und Kränkungen des Menschen… benennt und sagt, dass gerade dagegen Religionen als Therapiemittel durchaus schon sinnvoll waren (und teilweise noch sind) und dass sehr wohl überlegt gehört, was es bedeutet, wenn diese therapeutische Wirkung nicht mehr so zur Verfügung steht. Aber der Blick darf nicht auf die Krankheitsfälle verengt werden. Und ich möchte den Teufel einer gesellschaftlichen Atomisierung nicht so an die Wand gemalt haben wie es bis jetzt anscheinend dasteht.

  27. Och, @Martin Holzherr,

    diese Aufzählungen kennen wir doch allmählich. Und dass man gern die eigenen Vorteile mit den Nachteilen vergleicht, die man auf der anderen Seite natürlich sehr scharfsichtig sieht.
    Warum für solche Gegenüberstellungen Zeit verschwenden?
    Interessant auch, wie Sie Ihre Seite als bedroht sehen. Das gibt es spiegelbildlich auf christlicher Seite auch. Gehört wohl zum Geschäft: Leute um sich zu scharen, auf eine Linie einzuschwören, indem man ihnen von den Bedrohungen durch die bösen andern erzählt.
    Zu Ihrer Einleitung noch kurz:
    Von dieser Darstellung über die Church of England als Kirche, deren Mitglieder mehrheitlich ungläubig seien, hab ich auch schon gehört. Schon eine windige Sache, wenn da jemand von außen beurteilen will, wen er zu den Gläubigen zählt. Derartige Bewertungen mit dem Ziel, Leute als ungläubig zu bezeichnen, waren bisher Sache verbiesterter Dogmatiker oder sonstiger Fundamentalisten.

  28. @Erik Djebe

    „Allerdings kann ich diese Hand nicht akzeptieren.(Die grundsätzliche menschliche Frage ‚is it true?’, sollte doch eines der wichtigsten Leitmotive unseres Lebens sein.“

    Nicht nur eines der wichtigsten. Denn was soll denn überhaupt von Bedeutung sein, wenn es nicht auf Wahrheit beruht? Die Alternative wäre Glück, das auf Illusion oder Lüge beruht, Moral, die auf Irrtum beruht. Ein solches Glück kann es geben, man kann es durch psychische Tricks erzeugen, vielleicht auch bald durch nebenwirkungsfreie Drogen. Moral aber, die auf Irrtum beruht, ist nicht möglich, ist Unmoral, die kann man nicht wollen und jeder kann das wissen. Nein, „is it true“ ist die alles entscheidende Frage. Was da genannt wird an Dingen, die man angeblich ohne die Wahrheit haben kann („depth of meaning, for grandeur, beauty, forgiveness and compassion“), ist entweder ohne Wahrheitsbezug nicht zu haben oder es fällt unter die Sekundärtugenden. Wohin es führt, wenn man die Ästhetik, die ja hier auch genannt wird, vor die Wahrheit setzt, ist aus der Geschichte politischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts zur Genüge bekannt.

    Wenn es darum geht, „den Religionen mögliche wertvolle Einsichten abzulauschen, nach ihren positiven Effekten zu sehen – diese klug herauszufischen, sie von ihren überholten weltanschaulichen, abergläubischen… Vorstellungen zu befreien“ (H. Aichele über de Buttons Absicht), dann eben dies: daß die oberste Frage „is it true“ lautet. Eben deshalb muß es darum gehen, die Religionen von „ihren überholten weltanschaulichen, abergläubischen… Vorstellungen zu befreien“: weil diese nicht wahr sind. Positive Effekte können eben diese Vorstellungen ja durchaus haben. Die kann man aber nicht wollen.

  29. Wahrheitsfrage @Djebe @Trepl

    Hält de Botton die Wahrheitsfrage für irrelevant? Ich muss wohl ihm zugunsten manche Missverständnisse ausräumen; und ihn dabei mehr verteidigen als es mir als Theologen eigentlich zusteht. Denn da steht er eindeutig auf der Gegenseite:
    Die Wahrheitsfrage ist für de Botton entschieden. Und so betont er: „Of course, there is no God“. Siehe den Film “atheism.20”. Wie in einem früheren Kommentar (an Edgar Dahl) gesagt: ohne solchen Vorbehalt wie neuerdings (wieder) bei Dawkins. Für ihn ist und bleibt Religion ein Sammelsurium unglaubhafter Vorstellungen.

    Nun geht es aber darum, dass es ihm (jedenfalls in seinen aktuellen Veröffentlichungen) gegenüber den Religionen nicht um die Wahrheitsfrage geht. Dafür als Hauptbeleg Worte, die offensichtlich aus seinem Buch stammen – jetzt zitiert aus der HuffingtonPost:

    Probably the most boring question you can ask about religion is whether or not the whole thing is ‘true’. Unfortunately, recent public discussions on religion have focused obsessively on precisely this issue, with a hardcore group of fanatical believers pitting themselves against an equally small band of fanatical atheists.

    Dafür hat er gerade auch von atheistischer Seite viel Hiebe bekommen – z.B. wird er jetzt auf Twitter als „faitheist“ ironisiert. Oder Originalton von PZ Myers: “ Fuck you very much, Alain de Botton“ . Man könnte aber anstatt solcher etwas unappetitlicher Äußerungen auch versuchen, die Sache besser zu verstehen.

    Es ist nicht eine „offene Hand“ (Djebe) – und nicht etwa gedacht, den Gläubigen peinliche Fragen zu erlassen oder mit ihnen gemeinsam die von ihm diagnostizierten (gesellschaftlichen) Krankheiten zu therapieren. Sondern die Frage: Warum hängen so viele Leute trotz aller Aufklärung, wissenschaftlicher Erkenntnisse … immer noch an solchen damit doch eigentlich erledigten Vorstellungen? Und ganz direkt: Was machte (bisher jedenfalls) Religionen zum gesellschaftlichen Erfolgsmodell? Ihre für ihn doch längst als falsch erwiesenen Vorstellungen doch nicht (- und, füge ich hinzu, auch nicht bloßes priesterliche Machenschaften, die Macht muss ja zuerst aufgebaut sein.)
    Da kommt er z.B. auf eine bestimmte Bindekraft, die nicht unbedingt aus diesen Vorstellungen selbst sondern aus der gemeinschaftlichen Pflege dieser Vorstellungen kommt.
    Und ganz direkt, dass trotz aller Irrtümer in diesen Vorstellungen, in diesen Geschichten und Liedern die Größe und die Gefährdungen des Menschseins thematisiert sind und sowohl dem Einzelnen als auch ganzen Gruppen – zumindest im Krisenfall – Sprachformen und andere Aktionsformen (Rituale) zur Bewältigung bereitgestellt werden, die bis heute auch bereitwillig von Menschen angenommen werden.
    Viel lieber wäre es de Botton, solche Sprachformen und Rituale gäbe es für den heutigen Menschen bereits in genügendem Maße in einer Weise, die gewissermaßen atheistisch gereinigt wäre. Und der Aufruf , in diesem atheistischen Sinne Phantasie – für Rituale, Texte, Lieder, Kunst… – zu entwickeln, dürfte eine wichtige Absicht seines Buches sein. Denn er hält das für therapeutisch notwendig. Da kommt dann auch die Sache mit dem „Tempel“ hinein, dessen Bau er allerdings anscheinend nicht so betreibt wie verschiedentlich unterstellt. (Das war wohl wirklich manchmal von interessierter Gegenseite journalistisch aufgeplustert).
    Die noch deutlichere Absicht ist:
    nicht der (mehr oder weniger verständnisvolle Dialog mit den Gläubigen (da müsste er dann doch über die Wahrheitsfrage reden) . Sondern es geht ihm um ein Gespräch mit den Atheisten, die – zugleich mit den Religionsinhalten – möglicherweise zu viel weggeworfen haben: Auf der Linie seiner bisherigen therapeutisch orientierten Veröffentlichungen geht es ihm, den Atheisten gegenüber, um therapeutische Winke:
    Nehmt nicht die Inhalte der Religionen ernst, aber lernt von ihren Aktionsformen (Riten ff.. ). Schaut, wodurch Religionen ihre Erfolge erzielen: Benützt ihre Aktionsformen, um bessere (aufgeklärtere) Inhalte zu vermitteln; aber noch mehr: um die therapeutischen Funktionen, die bisher die Religionen stark gemacht haben, zu beerben: Um nicht wegen der Unglaubwürdigkeit der religiösen Inhalte die ganzen therapeutischen Möglichkeiten mit abzulehnen, sondern sie a-theistisch (un-metaphysisch…) neu in die Hand zu nehmen und sie sinnvoll für die Menschen von heute umzusetzen.
    Alles klar ?

    Natürlich würde ich über Wahrheit und Irrtum usw betreffs Religionen. einiges anders sagen – und tue das sonst auch. Aber hier wollte ich mit diesen Formulierungen die Intention de Bottons einigermaßen korrekt treffen. Und eben betonen: Er ist nicht unentschieden in der Wahrheitsfrage. Und er macht es den Gläubigen in der Wahrheitsfrage nicht einfach bequem.
    Es ist auch kein Freundschaftsangebot. Sage ich es mit einem militaristischen Bild: Während manche andere nur die feindliche Burg schleifen wollen (und im Eroberungsrausch auch etwas blind werden), macht er die Augen auf und schaut nach Schlüsseln für die Schatzkammern.

  30. Tempel / Ferien der “Atheisten”

    Mmmh wenn man als gutes der Religionen die Gemeinschaftsbildung durch Feierlichkeiten und “Tempel” meint .. warum dann nicht:

    Universitäten/Hochschulen = Tempel des Atheismus (exkl. Theologie)

    Und für die Feiern geben wir den christlichen Feiertagn einfach ihre “wahren” Namen zurück:

    Frühlingsfest
    Sonnenwenden etc.

    täte es das?

  31. Mmmh ? @einer

    Mmmh? So einfach denkt de Botton nicht, können Sie sich das wohl denken?
    Bei Festen u.ä. ist schon ein bisschen mehr zu denken als nur der Gemeinschaftssinn. Geht ja um anthropologische, therapeutische… Perspektiven. Etwa warum sich manche Feste zu bestimmten Jahreszeiten oder für bestimmte Lebensstadien bewährt haben.
    Da könnten allerdings – hätte ich dazu erwähnen können – Theisten und Atheisten manches auch dialogisch erforschen. Sich gegenseitig ein Licht aufstecken, Winke geben… wäre vielleicht produktiv. Und dann wetteifern, wer’s besser hinkriegt? Religionen haben dabei einen Erfahrungsvorsprung. Und da liegt ein Problem.

    Ja, und die Universitäten als Tempel des Atheismus? Sie werden ja wohl auch wissen, dass der Streit um Theismus oder Atheismus nicht zum Bildungsauftrag der Wissenschaften gehört und ihrem eigenen Selbstverständnis nach in den meisten Fakultäten schlicht kein Thema ist.
    Theologie, Philosophie, Kulturwissenschaften, politische und historische Wissenschaften … benennen zwar das Thema und arbeiten wissenschaftlich daran, wie Menschen damit umgehen. Aber nicht einmal die Theologie macht den Theismus zu einer wissenschaftlichen Aufgabe.
    Ja, und wissenschaftlichen Atheismus hat man ja in Deutschland vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten auslaufen lassen.
    De Botton hätte übrigens noch ganz andere Gründe gegen Universitäten als Tempel des Atheismus: Das ist eine seiner Kernbehauptungen, dass Wissensvermittlung noch lange keine Persönlichkeitsbildung ist. Um Ersteres ginge es in den Universitäten, um Letzteres in „Tempeln“. Ich meine, in dem jetzt mehrfach verlinkten Film „Atheism 2.0“ hätte er sich dazu ausführlich geäußert.

  32. Feste etc.

    “Bei Festen u.ä. ist schon ein bisschen mehr zu denken als nur der Gemeinschaftssinn. Geht ja um anthropologische, therapeutische… Perspektiven.”
    Welche etablierten religiösen Feste haben einen “therapeutischen” Sinn?
    Mir fällt da nichts ein.

    “Etwa warum sich manche Feste zu bestimmten Jahreszeiten oder für bestimmte Lebensstadien bewährt haben.”
    Welche haben sich da “bewährt”?
    Da wurden doch einige Feste einfach umbenannt und gut.
    Aus einen Frühlingsfest macht man Ostern, aus den Sonennwenden Weihnachten o.ä. … für diese Feste fände man problemlos auch atheistische Gründe .. Frühlingsanfang z.B.

    Inwieweit in Tempeln/Kirchen Persönlichkeit gebildet wird wüsste ich auch gern, vor allem im Angesicht der leeren Kirchen.

    Bei den Unis dachte ich primär an Aufklärung .. meiner Meinung nach eine atheistische Tugend.

  33. Ach so @einer

    Gerade in den Zusammenhang des natürlichen Lebenslaufs oder Jahreslaufs gesetzte christliche Feste haben sich in verschiedenster Weise „bewährt“ – d.h. in diesem Zusammenhang zumindest: sich als feste Fest-Termine etabliert, so dass viele Leute nicht darauf verzichten wollen, auch wenn sie mit der Kirche/organisierter Religion wenig bis gar nichts mehr am Hut haben. Müsste ich das noch einzeln durchbuchstabieren? Gerade deshalb sagt die Statistik über leere Kirchen relativ wenig. Diese Statistik müsste man übrigens auch mal relativieren: Welche Veranstaltung hat mit einem so gleichförmigen Programm das Jahr hindurch ein so regelmäßiges Publikum? Nun, das Fernsehen; aber sonst weder Sport noch Theater noch gar politische Parteien. Ja, und wenn man da den Blick umherschweifen lässt, dann fragt man sich auch, wie das mit der Tugend der Aufklärung, die Sie für die Atheisten reklamieren, denn so in der Öffentlichkeit ankommt. Da könnte man schon an Mythen glauben z.B. den von Sisyphus.
    Man sollte aber nicht aus Wut und Enttäuschung (oder pubertärem Gehabe) zu unbesehen alles wegwerfen. Bei dem Artikel über de Botton: „Religion für Ungläubige? Zur Frage, ob der Atheismus ein Upgrade braucht“ dachte ich wieder an Sie: Da können die Leute von „wissenrockt“, die alles Religiöse deutlich verachten, trotzdem von der Idee fasziniert sein, „dass diese Religionen auf kulturellen Schätzen sitzen, die eigentlich uns allen gehören“ . Derartige Hinweise wollte ich vermitteln.

  34. Es sollte jeder Mensch seien Religion oder Nichtreligion ausleben dürfen ohne Angst davor beschimpft oder beleidigt zu werden.

  35. Religion für Atheisten

    Ich habe gestern im Fernsehn einen Bericht über Alain de Botton gesehen- ZDF-Info- und war sehr beeindruckt, daß er als Atheist so gut differenzieren kann und auch den psychologischen positiven Aspekt zu Wort brachte, was Religionen angeht. Ich selber bin Christin, tendiere jedoch mehr zum Buddhismus.
    Für mich war die positive “Überraschung”, daß er in keiner Weise polemisch geworden ist.
    Ich werde mir auf jeden Fall sein Buch kaufen, wenn es in diesem Monat auf den deutschen Markt kommt.

  36. ….von neuem geboren…

    JESUS antwortete und sprach zu ihm:
    Wahrlich, wahrlich ICH sage dir:
    Es sei denn, dass jemand von neuem
    geboren werde, so kann er das
    REICH GOTTES nicht sehen.
    EVANGELIUM Johannes 3; 3
    GOTTES WORT.
    BIBEL

  37. @ Beom Salu

    Falls Sie auf einen Schlagabtausch mit Bibelzitaten (Matth 4,7 !) erpicht sind:
    Wiederum steht auch geschrieben : an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen (Matth 7,16)

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