Bundestagswahl und Statistik II

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Laureates of mathematics and computer science meet the next generation
Heidelberg Laureate Forum

In meinem vorangehenden Beitrag zum Thema Bundestagswahl und Statistik war ich ja bereits darauf eingegangen, dass die Berichterstattung insbesondere auch zu den Umfragewerten die Eigenheiten der Statistik weitgehend stiefmütterlich behandelt. Als Symptom für die fehlende mathematische Allgemeinbildung, aber auch dafür, dass Mathematik bei uns offenbar nicht zur Kultur gehört, zu dem, was man als gebildeter Mensch wissen sollte, schien und scheint mir das durchaus für das Heidelberg Laureate Forum relevant.

Mit dem gleichen Blick schaue ich, während ich diese Zeilen schreibe, kurz nach 20:00 Uhr, die Hochrechnungen – und bin noch deutlich mehr enttäuscht als über die Berichterstattung zu den Umfragen. Ob Spiegel, tagesschau.de, ZEIT, Welt, Tagesspiegel: Überall nur die Prognosen der Hochrechnungen, nirgends Informationen zu den Unsicherheiten.

Der Focus erklärt in einem Extra-Beitrag die Genauigkeit der Prognosen ab 18 Uhr: “Nach Angaben des Online-Portals [tagesschau.de] liegen die Abweichungen zwischen Prognosen und Wahlergebnis bei nur 0,5 Prozentpunkten.” Aber bei der Berichterstattung über die Hochrechnung selbst spielt diese Information dann irgendwie gar keine Rolle mehr.

Dabei wäre die Information, die in der Unsicherheit steckt, in der jetzigen Lage (inzwischen ist es 20:40) durchaus relevant. Die AfD liegt knapp unter der 5-Prozent-Hürde. Da stellt sich sofort die Frage: Gegeben die Hochrechnungen, wie wahrscheinlich ist es denn nun, dass die AfD die 5-Prozent-Hürde noch schafft? Die Daten sind da – kennt man die Schätzwerte und die Unsicherheiten, kann man die Wahrscheinlichkeiten direkt daraus abschätzen. Ich hatte das in meinem vorigen Beitrag ja an einem Beispiel vorgerechnet.

Sprich: Wenn da etwas mehr mathematische Kompetenz vorhanden wäre, bekämen wir jetzt Meldungen, die uns wirklich quantitativ etwas dazu sagen, wie denn nun die Chancen stehen für den Einzug der AfD – und die direkten Konsequenzen für eine absolute Mehrheit von CDU/CSU. Im Laufe des abends würden diese Angaben dann immer präziser.

Stattdessen: Die entsprechenden Daten bleiben offenbar ungenutzt. Wir bekommen nur vage Aussagen wir “könnte einziehen”, “kratzt an der 5%-Hürde”, “kann sich noch Hoffnungen machen”. Das ist traurig und zeigt, wo das Mathematik-Defizit direkt behindert, was wir von Journalismus eigentlich erwarten – der Allgemeinheit aus den vorhandenen Informationen das herausziehen, was relevant und wissenswert ist.

Mathematik ist alltagsrelevant. Aber man muss ihr auch eine Chance geben. Wenn wir das ignorieren, was sich mathematisch schließen oder abschätzen lässt, dann ist das unsere eigene Schuld.

 

 

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

1 comment

  1. Die AfD liegt knapp unter der 5-Prozent-Hürde. Da stellt sich sofort die Frage: Gegeben die Hochrechnungen, wie wahrscheinlich ist es denn nun, dass die AfD die 5-Prozent-Hürde noch schafft? Die Daten sind da – kennt man die Schätzwerte und die Unsicherheiten, kann man die Wahrscheinlichkeiten direkt daraus abschätzen.

    Das ist grundsätzlich korrekt. Es ist wohl so, dass auf Basis der Prognose im Laufe des Wahlabends, eintrudelnde Ergebnisse aus den einzelnen Wahlgebieten (es gibt etwas mehr als 300 in D?) berücksichtigend, nach und nach die Prognose nachgebessert wird. Bis am Ende Prognose und offizielles Wahlergebnis übereinstimmen.

    Basierend auf historischen Wahlergebnissen.
    Für die AFD gibt es die nicht.

    Dennoch könnte im Sinne der Stochastik wie im Artikel beschreiben geraten werden.

    MFG
    Dr. W

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